42 - Patinagrün
▷ Pixies - Where is my Mind ◁
Die Zeit ohne Noah vergeht wie im Fluge, weil ich sie mehr oder weniger schockiert und in Angststarre verbringe. Noch immer kann ich nicht fassen, dass er tatsächlich entlassen wurde. Gut, auch Glatzkopf wurde entlassen und sogar von der Polizei mitgenommen, aber, dass Noah entlassen wurde, weil er mich verteidigt hat - das finde ich nach wie vor unfair. Und irgendwie muss ich immer daran denken, was Glatzkopf zu Noah gesagt hat. Dieser Satz begleitet mich die ganzen restlichen Wochen meiner Therapie.
So wie du zuschlägst könnte man meinen, du liebst sie.
Aber würde er mich lieben, würde er sich melden. Und das tut er nicht. Meine Anrufe bleiben unbeantwortet, meine Nachrichten haben nur ein Häkchen. Als hätte er mich blockiert. Vielleicht hat er das auch. Immerhin bin ich der Grund dafür, dass er entlassen wurde. Ich bin schuld, dass er seine Therapie nicht beenden konnte. Ich bin, wie immer, an allem schuld.
Inzwischen sind die drei Monate vorbei. Es ist Samstag, der letzte Samstag für mich in der Klinik. Leonie hat sich für heute angemeldet und ich freue mich so sehr, dass sie gerade bei mir ist. So gern ich Betty habe, aber Leonie und mich verbindet ein besonderes Band. Doch auch mit Betty möchte ich nach der Therapie noch Kontakt haben und ich hoffe, das beruht auf Gegenseitigkeit. Leonie und ich stehen vor dem Speisesaal und rauchen. Es wirkt so surreal, dass ich hier bald nicht mehr stehen werde. Hier stand ich immer mit Noah. Alles an dieser Klinik erinnert mich an ihn. Vor allem aber das Bild das er gemalt und mir geschenkt hat. Ich habe es von der Pinnwand genommen und in meinem Koffer verstaut. Allein es jeden Tag zu sehen hat mir wehgetan, weil er sich nicht mehr meldet.
Leonie und ich schlendern langsam über das Gelände. Sie erzählt mir von Nico, mit dem sie inzwischen zusammen ist. Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen und ihn auf Herz und Nieren zu prüfen. Immerhin muss er gut genug für sie sein.
"Wie geht es Noah?", erkundigt sie sich.
Ich schweige und zucke mit den Schultern.
"Lia?", fragt sie nach und bleibt stehen.
Seufzend werfe ich meine Arme in die Luft. "Ich weiß es nicht. Er hat sich seit seiner Entlassung nicht mehr gemeldet. Wir haben uns geküsst und-"
Sie kreischt. "Ihr habt was?!" Sie springt auf und ab, wie ein Flummi.
Ich muss grinsen. "Wir haben uns geküsst, Leonie. Aber das hat scheinbar doch nichts bedeutet. Warum sollte es auch? Bin ja nur ich."
Ihr Gesichtsausdruck wechselt von Freude zu Wut. "Hör auf, so einen Bullshit zu sagen. Du bist mehr wert als du jetzt gerade behauptest - und das weißt du. Und es hat mit Sicherheit auch mehr bedeutet - für euch beide."
Kopfschüttelnd lehne ich mich gegen die Tanne. "Für mich, ja. Für ihn scheinbar nicht. Sonst würde er sich ja melden. Es war nur ein Kuss, mehr nicht."
"Du checkst es nicht oder?" Leonie sieht mich an. Kurz tanzt Wut über ihr Gesicht, doch das Gefühl ist innerhalb von Sekunden wieder verschwunden.
"Was?", möchte ich wissen, doch sie schüttelt nur den Kopf und geht weiter.
Das Thema scheint für sie abgehakt, denn wir sprechen nun über den anstehenden Umzug. Sie muss gleich los, deswegen gehen wir langsam zur Vorderseite der Klinik. Leonie hat mir untersagt, sie zur Haltestelle zu bringen, weswegen wir uns hier verabschieden.
"Ich könnte Nico fragen, ob er einen Transporter organisieren kann. Sein älterer Bruder arbeitet bei einer Spedition und kann sich mit Sicherheit einen der vielen Kleintransporter ausleihen. Und wir hätten noch einen weiteren starken Mann der uns beim Tragen hilft." Sie stemmt die Hände in die Hüfte und sieht mich stolz an.
"Das wäre super, Leonie. Danke." Ich drücke sie an mich und verabschiede mich von ihr. Kaum zu glauben, dass sie noch immer an meiner Seite ist. Vielleicht bin ich ja doch mehr wert, als ich je dachte.
Den restlichen Sonntag verbringe ich mit Betty und Kai. Er vergeht viel zu schnell. Jetzt ist Montagmorgen, nun stehe ich in meinem Zimmer und versuche den ganzen Kram, der sich die ganzen letzten Monate über angesammelt hat, in meinen Koffer und sämtliche Plastiktüten zu packen. Betty sitzt grinsend auf ihrem Bett und sieht mir dabei zu. Ich habe ihr untersagt, mir zu helfen und so genießt sie den Anblick einer irr umher laufenden Lia, die immer mehr an ihrer Aufgabe verzweifelt. Ich raufe mir verloren die Haare. All der Stress und die bevorstehenden Veränderungen - und die Tatsache, dass mir Noah mehr fehlt als ich zugeben möchte, treibt mir die Tränen in die Augen. Betty springt schließlich auf und schiebt mich sanft zur Seite. Mit ihrer Hilfe gelingt es mir, meine gesamten Besitztümer einzupacken. Meine Oma kommt nach dem Mittagessen und ich freue mich schon so sehr, sie endlich wieder in die Arme zu schließen. Betty drückt mir ein kleines buntes Päckchen in die Hände. Erstaunt sehe ich sie an.
"Bitte mach das erst auf, wenn du Zuhause bist, ja?" Sie sieht mich abwartend an.
"Danke, Betty." Ich schürze die Lippen und drücke sie an mich.
Ich verabschiede mich in der Millieugruppe von meinen Mitpatienten. Inzwischen ist niemand mehr da, der mich in Empfang genommen hat. Es sind nur noch neue Gesichter und irgendwie bin ich ganz froh, dass ich heute gehen darf. Ich fühle mich nicht mehr wohl hier. Nicht ohne Leonie und nicht ohne Noah. Er fehlt mir so sehr, dass sich mein Herz immer schmerzhaft zusammenzieht, wenn ich an ihn denke - und das tue ich ständig. Meine Millieutherapeuten verabschieden sich von mir und die Gruppenmitglieder stimmen ein. Ich bin erleichtert, als die Gruppensitzung endlich vorbei ist und es bald Mittagessen gibt. So sehr ich auch Angst vor der großen, einschüchternden Außenwelt und Realität habe - so sehr freue ich mich auf meine Oma und den Neuanfang. Und ich hoffe, ich kann das Erlebnis im Waschzimmer so schnell wie möglich verdrängen. Betty und ich stehen vor dem Speisesaal und rauchen zusammen. Gleich gibt es Mittagessen, mein letztes in dieser Klinik. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ich heute entlassen werde. Mein Bauch rumohrt, ich bin aufgeregt und kann auch nicht leugnen, dass ich Angst habe. Diese Welt außerhalb dieser Seifenblase macht mir Angst und schüchtert mich ein. Außerdem vermisse ich ihn. Schnell verdränge ich den Gedanken an ihn.
"Bist du schon gespannt, wer deine neue Zimmernachbarin wird?", erkundige ich mich.
Betty zieht an ihrer Zigarette und sieht mich an. "Ja, ich hoffe, sie ist so nett wie du."
Ich lächle. "Bestimmt. Mit Sicherheit ist sie noch netter als ich."
"Ich hoffe, sie ist kein Nachtwandler, dann würde ich schreiend ausziehen." Sie lacht und ich stimme in ihr Lachen mit ein.
Beim Mittagessen bringe ich fast keinen Bissen hinunter, so nervös bin ich. Innerlich zähle ich die Minuten, bis Oma kommt. Nur noch 32 Minuten. Ich denke an Herrn Vladic, von dem ich mich am Wochenende mit einem kleinen Kuchen verabschiedet habe. Wir haben eine Patientenküche, die allerdings erst in meiner letzten Woche eröffnet wurde. Natürlich habe ich sofort die Gelegenheit ergriffen und Kekse und einen Kuchen gebacken, um mich angebracht zu verabschieden.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich so viel über mich lerne. Dass ich so viel über das Leben lerne. Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn wieder finde, den Lebensmut. Das Leben erschien mir vorher so groß, so dunkel, so allmächtig, dass es mich einschüchterte und mir Angst machte. Die Beziehung mit meinen Eltern, vor allem meiner Mutter, zwang mich dazu, mich klein zu machen, mir so wenig Platz wie möglich zu nehmen; mich zu verstecken - nicht die zu sein die ich war. Aber hier habe ich gelernt zu wachsen, mir Platz zu nehmen und so zu sein wie ich bin. Die richtigen Leute werden bleiben und mich mögen und nicht gehen. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen - aber seine Freunde. Und das ist mehr wert als alles andere. Nicht nur die Therapie hat mir wahnsinnig viel geholfen, nein, es waren auch die Kontakte zu meinen Mitpatienten. Es war vor allem Noah, durch den ich viel gelernt habe; der mir gezeigt hat, dass ich für mich einstehen und mich verteidigen kann, aber dennoch meinen Prinzipien treu bleiben kann. Er hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, an das Gute im Menschen zu glauben und, dass es okay ist, seine Eltern nicht so zu lieben, wie sie es sich vorstellen. Es ist okay, seinen Eltern nicht genug zu sein. Wichtig ist, dass man sich selbst genug ist. Und ich denke, ich bin da langsam auf einem guten Weg. Vielleicht bin ich doch vollkommen in Ordnung. Vielleicht bin ich es wirklich wert, geliebt zu werden.
Nach der stationären Therapie ist es wahnsinnig wichtig, für die Nachsorge zu sorgen. Und das habe ich. Ich habe mir einen Therapieplatz bei einer Therapeutin gesucht und werde dort ein- bis zweimal die Woche hingehen. Ich hoffe so sehr, dass ich an meinen Therapieerfolg anknüpfen kann.
Kai und Betty helfen mir dabei, meinen gesamten Kram rauszutragen. Ich verabschiede mich noch einmal vom Pflegepersonal und stelle mich dann mit Betty und Kai vor die Tür.
"Eine Abschiedszigarette?" Betty schüttelt ihre Zigarettenschachtel und nimmt sich eine.
Wir rauchen stillschweigend, jeder von uns dreien hängt seinen Gedanken nach. Und dann höre ich es, ein Auto. Es ist das patinagrüne Auto meiner Oma. Sie hält vor uns und wir beladen den Kofferraum mit meinem Gepäck. Ich drücke die Zigarette aus und umarme sie dann endlich, halte sie fest.
"Hallo meine Liebe. Bist du bereit?" Sie hält mich vor sich und sieht mich abwartend an.
Ich nicke und drehe mich zu den zwei verbliebenen Freunden aus der Klinik zurück. Betty seufzt und Kai lächelt.
"Danke für alles, ihr zwei. Es war schön, euch kennengelernt zu haben. Und, wenn ihr wollt, bleiben wir in Kontakt." Ich sehe beide nacheinander an.
Kai tritt vor und umarmt mich kurz, aber fest.
"Wir sehen uns, Kleines." Sein Lächeln ist warm, als er sich von mir löst.
Bettys Augen glänzen, sie springt vor und schließt mich in die Arme. Sie drückt mich an sich und schluchzt leise.
"Ich werde dich vermissen, Lialein. Bis bald, ja?"
"Bis bald, Betty." Ich drücke sie noch einmal fest an mich und löse mich von ihr.
Dann steige ich in Omas Auto und winke beiden, als wir den langen Weg zur Straße entlang fahren. Ich winke auch noch, als wir um die Kurve biegen und nichts mehr von dem Haus zu sehen ist. Und dann trifft mich die Realität hart. Ich bin entlassen. Ich bin wieder auf mich alleine gestellt. Oma sieht immer wieder zu mir und drückt mir kurz die Hand. Sie fährt ein Automatikauto, weswegen sie eine Hand frei hat. Dankbar drücke ich auch ihre Hand und sehe aus dem Fenster. Aus dem Radio erklingt ein Oldie, der mich einhüllt und mehr dämmrig als wach verbringe ich die Fahrt zu Oma.
Meine Wohnung ist noch nicht bezugfertig, weswegen ich eine Nacht auf Omas Couch verbringe. Ich fühle mich fehl am Platz, obdachlos, alleine und schutzlos - bin ständig davor, in Tränen auszubrechen. All das Neue überwältigt mich und schüchtert mich ein. Ich krame nach meinem Tagebuch und versuche, meine Gedanken und Gefühle niederzuschreiben. Die hochwertige Karodecke von Omas Küchentisch ist verrutscht und ich ziehe sie wieder gerade.
"So, mein Herz. Deine Eltern sind ab morgen im Urlaub. Dann holen wir deine Sachen. Deine Freundin, Leonie, hat sich schon angemeldet. Eine nette Freundin hast du da." Oma stellt mir eine Tasse Kakao vor die Nase und sofort fühle ich mich nicht mehr ganz so fehl am Platz. Sie setzt sich neben mich und nimmt meine Hand in ihre.
"Ich weiß, dass das alles überfordernd ist. Aber es wird besser, glaub mir. Es ist ein guter Schritt, dass du dich von deinen Eltern trennst und auf Abstand gehst. Das wird dir sehr helfen. Und ich stehe dir da selbstverständlich zur Seite. Das hier ist jetzt dein neues Zuhause, mein Herz. Und alles wird gut. Versprochen."
Sie sagt das mit solch einer Inbrunst, dass ich ihr sofort glaube.
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