40 - Karminrot
▷ Barcelona - Fall in Love ◁
"Lia?" Betty steht an meinem Bett und sieht mich irritiert an.
Verschlafen blinzle ich und wische mir meine Haare aus dem Gesicht, die sich in der Nacht wohl um meinen Kopf gewickelt haben.
"Mh?", erwidere ich nur und setze mich langsam auf.
"Du hast im Schlaf geweint, alles gut?"
Ich blinzle, das Licht im Zimmer ist an und blendet meine müden Augen. Kurz werfe ich einen Blick auf Bettys karminrote Uhr. Die hat sie mitgebracht, weil sie ohne sie nicht sein kann. Betty braucht immer die exakte Uhrzeit, da sie ansonsten Panik bekommt und darin versinkt. Die Zeiger der Uhr zeigen kurz nach halb sechs. Es ist noch stockdunkel draußen.
"Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken", murmle ich und reibe mir über das Gesicht.
"Schon gut. Brauchst du was?" Sie setzt sich auf ihr Bett und kuschelt sich in ihre Bettdecke.
Ich schüttle den Kopf und seufze. Noch immer zittere ich ob meines Traumes. Doch ich weiß nicht mehr ganz genau, was ich überhaupt geträumt habe. Der Traum entweicht mir, ich kann ihn nicht mehr fassen.
Betty ist inzwischen eine Woche hier. Eine Woche ohne Leonie. Die Zeit verrennt und ich bin nur noch wenige Wochen hier. Seufzend lehne ich mich an die Wand.
"Du kannst versuchen zu schlafen. Ich bleibe wach." Ich schalte das Nachtlicht an meinem Bett an, aber Betty schüttelt den Kopf.
"Ich kann eh nicht so viel schlafen. Willst du erzählen, was passiert ist?"
Ich zucke mit den Schultern. "Ehrlich gesagt kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Aber es war gruselig."
Wir vertreiben uns die Zeit bis zum Frühstück mit einem Gespräch über Träume. Betty geht zuerst ins Bad und ist schon weg, als ich mit dem Duschen fertig bin. Müde betrete ich den Speisesaal und entdecke Noah an unserem Gruppentisch. Als er mich sieht, winkt er mir und deutet auf meinen Stammplatz. Verwirrt trete ich an den Tisch und muss lächeln. Er sieht mich mit großen Augen an.
"Ein Schuss Milch, kein Zucker. So wie du ihn magst. Ich habe gehört, du hast nicht so viel geschlafen." Er grinst verschmitzt und verlässt dann den Tisch bevor ich mich bedanken kann.
Ich habe keinen Hunger, weswegen ich mir nur die Kaffeetasse schnappe und eine Zigarette rauchen gehe. Als ich die Tür öffne, kommt mir jemand entgegen. Jemand, dem ich ein bisschen etwas von meinem Kaffee über die Schuhe kippe.
"Sorry, ich bin noch so müde." Langsam sehe ich auf und muss schlucken.
Es ist der Typ ohne Haare, der Typ, der Noah an seinen Vater erinnert. Seine Augen funkeln mich wütend an.
"Kannst du nicht aufpassen? Geh lieber zurück in dein Fettcamp."
"Es reicht. Lass sie in Ruhe." Eine altbekannte Stimme erklingt hinter mir.
Der Glatzköpfige runzelt die Stirn. "Hast du mir nicht noch vor einigen Tagen zugestimmt?"
"Ja, und das war ein Fehler. Also lass uns jetzt durch, bitte."
Der Mann mustert uns beide noch kurz, ehe er sich an uns vorbeischiebt.
"Danke", murmle ich und werfe Noah einen kurzen Blick zu.
Der Nachmittag verläuft zäh. Wir haben wieder Großgruppe und es ist so einschläfernd. Unser Chefarzt liebt es scheinbar, stundenlang über unwichtige Dinge zu sprechen. Aber ich sitze neben Noah und wenn sich unsere Knie berühren, wenn er sich bewegt, ist Ablenkung genug. Ich habe aufgehört, meine Herzschläge zu zählen.
Am Abend kommt Betty freudestrahlend in unser Zimmer.
"Hast du Lust, später Verstecken im Dunkeln zu spielen? Noah und Kai spielen auch mit."
Überlegend beiße ich mir auf die Unterlippe. "Ich hasse Dunkelheit", gebe ich zu und drücke die blaue Kappe auf meinen Filzstift.
"Ja, ich auch. Doch so ganz dunkel wird es ja nicht sein. Aber wir sind heute Abend so ziemlich die einzigen in der Klinik, alle anderen sind in der Stadt unterwegs. Ich finde, das sollten wir ausnutzen." Sie wippt leicht auf und ab und wirft der Uhr über ihr einen Blick zu. Es ist neun Uhr.
Ergeben seufze ich. "Na gut."
"Super, wir sehen uns in einer halben Stunde im Keller, vor dem Raucherzimmer", weist sie mich an.
Eine halbe Stunde später stehe ich vor dem Raucherzimmer und warte auf den Rest. Die Tür zum Keller öffnet sich quietschend und Kai betritt den Flur.
"Hey, Lia. Wie schön, dass du auch da bist. Betty sagt nur Herrn Vladic kurz Bescheid, damit er sich nicht wundert, warum wir im Keller herumlaufen." Er lächelt und fährt sich durch die Haare.
"Du magst sie, hm?", erkundige ich mich.
Kai sieht mich ertappt an und lächelt leicht, doch bevor er etwas sagen kann wird die Tür aufgerissen und knallt gegen die Wand dahinter.
"Ups, sorry, Leute. Meine Freude ist nur zu groß." Betty grinst entschuldigend.
Hinter ihr betritt mein Lieblingsriese den Gang und sieht sich suchend um. Als er mich entdeckt, lächelt er, was in meinem dummen Magen tausend Schmetterlinge aufgeregt herumkrabbeln lässt. Aber sie sind in einem Käfig. Und da gehören sie auch hin. Diese Verräter.
"Gut, jetzt, da alle da sind, erkläre ich euch das Spiel. Verstecken kennt ihr, richtig?"
Alle nicken.
"Sehr gut. Verstecken im Dunkeln ist genauso - nur eben im Dunkeln. Der Sucher geht in den Raucherraum und zählt bis 50. Und dann sucht er die anderen in den Gruppenräumen. Es ist verboten, Licht zu machen."
Wieder nicken alle.
"Lia, du darfst als erste suchen, wenn du magst."
"Okay." Plötzlich bin ich nervös.
Ich betrete den Raucherraum und zähle bis 50. Es ist stockdunkel und es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Mindestens genauso lange dauert es, bis ich die anderen alle gefunden habe. Mehrmals laufe ich gegen irgendwelche Tische und Stühle. Das gibt morgen so einige blaue Flecken. Es vergeht mindestens eine Stunde, bis Betty dran ist mit Suchen. Sie geht in den Raucherraum und als die Tür ins Schloss knallt, bleibe ich wie erstarrt stehen. Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll.
"Lia", raunt Noah. "Komm, hier rein!", flüstert er und zieht mich in das Zimmer. "Hier", weist er an und schiebt mich zwischen einen großen Schrank und die Wand. Er quetscht sich dazu und stützt sich mit beiden Händen, jeweils links und rechts von meinem Gesicht, an der Wand ab. Ich bin eingesperrt.
"Leute, wo seid ihr?" Wir hören Betty durch die Flure rufen und halten automatisch gleichzeitig die Luft an. In der Zeit der Stille habe ich Zeit, um mir der Situation bewusst zu werden, in der ich mich gerade befinde.
Ich stehe mit dem Rücken zur Wand und spüre Noahs Anwesenheit mehr als dass ich ihn sehen könnte. Es ist stockdunkel, aber gut, das hat Versteckspielen im Dunkeln wohl so an sich. Wir stehen so eingepfercht zwischen dem Wand und dem Schrank, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren kann. Es passt kein Blatt Papier mehr zwischen uns und alleine diese Tatsache stellt mir die Haare auf. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich betrachte Noah im Dunkeln. Selbst hier funkeln seine Augen und spiegeln irgendeine Lichtquelle, die ich noch nicht entdeckt habe. Er seufzt und verlagert sein Gewicht auf den rechten Fuß. Sein Knie streift dabei meines und ich habe das Gefühl, als würde Strom durch meinen Körper fahren. Ich bin so angespannt und weiß nicht, ob das an Noahs Nähe liegt oder am Spiel. Grummelnd lehne ich meinen Kopf an die Wand und schließe kurz die Augen. Je länger ich versuche, in die Dunkelheit zu starren und noch mehr zu erkennen, desto mehr Sterne sehe ich.
Plötzlich spüre ich Noahs Hand, die er sanft an mein Gesicht legt. Wie von selbst lehne ich mich ein Stück in diese Geste und schließe die Augen erneut. Innerlich bete ich, dass er nicht merkt, wie verrückt mich diese kleine Geste macht. Ich seufze leise. Scheinbar ist das Motivation genug für ihn, denn ich spüre auch seine zweite Hand, die vom Hals ab langsam aufwärts wandert, bis er meinen Kopf mit beiden Händen vorsichtig festhält. Ich runzle die Stirn und sehe ihn fragend an - allerdings fällt mir dann auf, dass er mich im Dunkeln nicht sehen kann.
"Noah, was hast du-?"
"Lia", unterbricht er mich mit einem heiseren, rauen Flüstern.
Mein Herz klopft so sehr, dass ich das Gefühl habe, es springt mir gleich aus der Brust.
Ich spüre seinen Atem an meiner Lippe, den er zittrig ausstößt. Nur noch wenige Milimeter trennen uns. Und dann sind seine Lippen auf meinen, vorsichtig, ganz zart und behutsam. Als wären sie Federn.
Mein Herz schlägt so schnell, dass ich kaum zu Atem komme, aber dennoch erwidere ich den Kuss. Und das ist Noah Bestätigung genug. Sein Griff um meinen Kopf wird etwas fester und er drückt mich an sich, oder sich an mich. Ich weiß es nicht. Alles, was ich spüre, sind seine Lippen auf meinen. Er küsst mich immer noch sanft, aber bestimmend, und irgendwann wird er fordernd, hungrig und ich lasse mich zu gerne in diesen Kuss fallen.
Plötzlich geht das Licht wieder an und wir springen sofort auseinander. Mein Kopf knallt mit voller Wucht gegen die Wand hinter mir und erneut sehe ich Sterne, wo keine sein sollten. Betty steht in der Tür und sieht uns mahnend an.
"Mensch, Leute. Seid ihr eigentlich vollkommen bescheuert?", raunt sie uns zu und wirft einen Blick hinter sich. "Das war wirklich dumm, wenn das jemand anderes gesehen hätte, wäre jetzt wirklich der Teufel los."
Ich bin noch zu benommen um zu sprechen. Alles was ich spüre sind Noahs Lippen auf meinen und das sanfte Kribbeln des Kusses. Und dann spüre ich sie: Schmetterlinge. Tausende von ihnen, die kitschigerweise aus ihrem Käfig entfliehen konnten und nun nervigerweise in meinem Magen herumfliegen.
Kurz werfe ich Noah einen Blick zu, der Betty beobachtet. Als er meinen Blick bemerkt, sieht er zu mir und lächelt leicht. Er beißt sich nachdenklich auf die Lippen und diese Geste reicht schon, um mich noch mehr um den Verstand zu bringen.
"Ich gehe ins Bett", sage ich leise und sehe weder sie noch ihn an.
"Ich auch", schließt sich Noah mir an und folgt mir.
Betty hebt elegant die Augenbrauen und schüttelt den Kopf. Und doch bilde ich mir ein, ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen.
Wir stehen unter der Treppe, im Schatten. Ich weiß nicht, wie wir da hingekommen sind, aber ich wünschte, wir würden da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben. Den verantwortungsvollen Teil in meinem Kopf versuche ich zu ignorieren und bete, dass uns niemand findet. Auch nicht Betty.
"Gute Nacht, Dalí", flüstert er und beugt sich langsam zu mir.
"Schlaf gut", erwidere ich und stelle mich auf die Zehenspitzen. Mein Herz flattert und schlägt schließlich so schnell wie nach einem Sprint.
Zum zweiten Mal an diesem Abend küssen wir uns und dieser Kuss ist noch hungriger als vorhin. Ich möchte nicht, dass wir aufhören müssen. Ihn zu küssen fühlt sich leicht an, wie atmen. Obwohl mir gerade das im Moment alles andere als leicht fällt. Noah drückt mir einen letzten, vorsichtigen Kuss auf die Lippen und sieht mich an. Ein Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht, ehe er mir einen Kuss auf die Stirn drückt, sich umdreht und die Treppen hochgeht.
Meine Knie zittern so stark, dass ich mich anlehnen muss. Ich weiß, man soll andere Menschen nicht als sein Zuhause bezeichnen. Aber ich habe das Gefühl, als hätte Noah mir eben den Schlüssel dazu gegeben.
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