39 - Mahagonibraun
▷ Kasabian - You're In Love With a Psycho ◁
Ich sitze da wie ersteinert und bin überwältigt von all den Gedanken und Gefühlen die plötzlich auf mich einwirken. Als würde das kleine Universum zwischen unseren Händen explodieren und mich mit all diesen Farben überschütten. Dieser kleine Moment mit Noah ist so viel intimer als alles was ich bisher in diese Richtung erlebt habe. Altbekannter Schmerz in meiner Brust zieht auf und lässt mein Herz sich schmerzhaft zusammenziehen. Ich weiß nicht, was das alles hier insgesamt zu bedeuten hat, aber mir bedeutet es unglaublich viel.
Gerade als ich etwas sagen möchte, klingelt sein Handy und er löst seine Hand aus meiner, um sein Handy aus der Hosentasche zu holen. Die Trennung unserer Hände hinterlässt ein kühles Gefühl an meiner Hand.
"Hallo?", empfängt Noah den Anrufer und runzelt die Stirn. Er drückt die Zigarette aus und legt das Smartphone in die andere Hand, um mit der freien Hand nach meiner zu greifen und sie wieder miteinanderzuverschränken.
Ich bin nervös und wackle mit meinen Füßen - ich bin so klein, dass ich, wenn auf der Bank ganz hinten sitze, den Boden nicht berühre. Noah spricht mit der Person am Telefon und lässt währenddessen meine Hand nicht mehr los. Abwesend streicht er mit seinem Daumen über meinen Handrücken und verursacht Gänsehaut am ganzen Körper - und ein kurzes schmerzhaftes Zusammenziehen im Unterleib. Als ob da zwischen uns je etwas in dieser Hinsicht passieren würde. Ich schnaube und starre in den Himmel.
Noah spricht noch immer und ich fühle mich so, als wäre ich ein Störfaktor, als wäre er lieber alleine beim Telefonieren. Deswegen löse ich meine Verbindung und stehe auf. Noah sieht mich erstaunt an. Sein Gesichtsausdruck erinnert mich an den eines Jungen, dem man das Spielzeug weggenommen hat. Vielleicht bin ich das ja auch für ihn, ein Spielzeug. Und wenn er genug davon hat, stellt er mich wieder zurück ins Regal - oder wirft mich weg. Ich seufze, denn ich sollte diese Gedanken dringend verdrängen.
"Was ist los, Dalí?", erkundigt er sich an mich gewandt und an die Person am Telefon gerichtet sagt er: "Ich muss Schluss machen, Mama." Seine Mutter sagt etwas, das ihn schnell wegsehen lässt. "Ja, vielleicht lernst du sie bald kennen. Ich muss sie erstmal fragen." Er lächelt mich entschuldigend an.
Mein Herz fährt Achterbahn, doch ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen. Natürlich versuche ich, mir keine zu großen Hoffnungen zu machen - warum sollte er mich seiner Mutter vorstellen wollen?
Ich beschließe, ins Bett zu gehen. Noah zündet sich noch eine Zigarette an und ich drücke ihm einen Kuss an die Schläfe, der ihn erstarren lässt.
"Gute Nacht, Noah", flüstere ich leise.
Er sieht mich mit seinen wunderschönen sturmblauen Augen an, als ich mich umdrehe. Doch bevor ich gehen kann, greift er nach meiner Hand und küsst meinen Handrücken. Mein Hals wird trocken, vor allem, als ich sein immer breiteres Grinsen auf seinem Gesicht im Schein des Kliniklichtes sehen kann - man könnte fast sagen, er wüsste, was er mit meinem Körper macht. Ich räuspere mich und verschwinde in der Dunkelheit.
Die Nacht ist grausam. Mein Körper sehnt sich so sehr nach Noahs Berührungen, dass ich von ihm träume. Es ist leider kein unschuldiger Traum und ich bin mir sicher, dass ich ihm am nächsten Tag nicht unter die Augen treten sollte, denn ansonsten werde ich im Boden versinken. Auch wenn Noah nichts davon wissen kann - ich wette, dass man es mir in den Augen ansehen kann. Noah ist ganz gut darin, in meinen Augen zu lesen.
Aus diesem Grund verbringe ich den Sonntag im Bett, mit meinem Buch und dem Tee, den ich mir - so schnell wie nur irgendwie möglich - im Speisesaal zubereitet habe. Ich fasse meine Gedanken zusammen und notiere das Geschehene der letzten Woche. Auch das, was ich in den Therapien über mich gelernt habe. Frau Eichendorf, meine Einzeltherapeutin, hat mir eröffnet, dass auch die anderen Therapeuten mit ihnen über meinen Fortschritt sprechen und sehr glücklich darüber bin, dass ich die Stufen hinaufklettere - und nicht weiter falle; dass ich inzwischen dem Leben mehr zugetan bin. Und meine Einzeltherapeutin meinte, sie fände es großartig, wie ich meine Ressourcen und Talente einsetze und schätzen lerne. Mir fällt ein, dass Noah mich singen gehört hat und das ist mir noch immer so verdammt unangenehm. Frau Eichendorf würde sagen, ich sei egoistisch, weil ich meine Fähigkeiten nicht gerne zeige - aber bin ich das wirklich? Wenn ich den Eindruck habe, ich bin in nichts gut - warum sollte ich es dann jemandem antun, dass er sich mein Gekrächze anhört oder meine Kritzeleien bewundert. Noahs Kunst ist es wert gesehen zu wert. Gut, Noah ist es auch wert, gesehen zu werden. Und schon bin ich wieder am Anfang meiner Gedanken angelangt. Verdammt, ich kann einfach nicht aufhören an ihn zu denken. Genervt werfe ich mir die Bettdecke über den Kopf und grummle in mein Kissen.
Und dann ist Montag und ich sitze in der Millieugruppe. Heute kommt meine neue Zimmernachbarin, was mich sehr nervös sein lässt. Ich hoffe so sehr, dass sie wenigstens ein bisschen so ist wie Leonie oder dass wir uns zumindest so gut verstehen wie Leonie und ich. Ich bin zwar nicht mehr allzu lange hier, aber es wäre mehr als bescheiden, wenn ich mich in meinem Rückzugsort nicht mehr wohlfühlen könnte. Als wir schließlich Pause haben, springe ich auf und gehe neugierig zum Raucherpavillon. Da sich in unserer Gruppe niemand Neues vorgestellt hat, bedeutet dies, dass sie in einer anderen Gruppe ist. Und tatsächlich, im Raucherpavillon steht ein Mädchen mit mahagonibraunem, lockigem Haar und etlichen Piercings im Gesicht. Sie unterhält sich mit Kai. Als ich näherkomme, sieht sie zu mir und ein leichtes Lächeln umspielt ihren Mund.
"Lia, das ist Betty, deine neue Zimmernachbarin."
"Hi, ich bin Betty." Sie hält mir ihre Hand hin, die ich ergreife und schüttle. Jetzt, wo ich vor ihr stehe, erkenne ich die vielen Sommersprossen um ihre Nase. Sie sieht nett aus. Ich hoffe, das bleibt auch so.
"Hi, ich bin Lia." Ich lächle.
"Eigentlich heißt sie ja Dalí." Noahs Stimme erklingt hinter mir und er schiebt sich zwischen all den Rauchern hindurch. Seine Hand streift ganz sachte meine Hüfte, als er an mir vorbeigeht. Diese kleine Berührung lässt einen weiteren Stromstoß durch mich hindurchfahren.
"Und das ist Noah. Er tut oft so, als wäre er ein Großkotz, aber im Grunde ist er total nett." Kai zeigt auf besagten und lächelt Betty an. Kais Augen funkeln und er kann seinen Blick überhaupt nicht von ihr nehmen. Sie scheint ihm zu gefallen. Und wer kann es ihm verdenken? Sie sieht wie ein typisches Tumblr-Mädchen aus und wirkt zudem auch noch ziemlich sympathisch.
"Hat man dir schon alles gezeigt?", erkundige ich mich.
"Klar, ich bin ihr Pate."
"Er hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte", fügt Betty hinzu und grinst.
Ich breche in Lachen aus. "Du zitierst 'Der Pate'? Ich mag dich jetzt schon."
"Gut, denn das beruht auf Gegenseitigkeit." Ihr Grinsen wird breiter.
Vor dem Fenster stürmt es und ich beschließe, mich wieder in mein Bett zu verkrümeln. Komisch, wie wohl ich mich inzwischen darin finde. Gerade krame ich in meiner Handtasche nach meinem Kugelschreiber, als die Tür geöffnet wird und Betty den Kopf hereinstreckt.
"Hey, darf ich reinkommen?", fragt sie schüchtern.
"Klar, ist doch auch dein Zimmer." Ich lächle sie kurz an und krame weiter nach meinem Stift.
Sie schließt die Tür und kommt an mein Bett. "Du, da vor der Tür wartet jemand auf dich. Er meinte, es wäre nett, wenn ich dich rausschicken würde."
Ich runzle die Stirn und lege den Kopf schief.
"Es ist der, der dich als Dalí vorgestellt hat." Sie grinst.
Natürlich.
"Wir wollen Tischfußball spielen, hast du Lust?" Betty spielt mit ihrem Lippenpiercing und ich gebe es auf, in meiner Tasche herumzukramen.
Seufzend stehe ich auf. Es hilft ja nicht, wenn ich ständig vor ihm davonlaufe. Soll er doch sehen, wie verrückt er mich macht. Deswegen sage ich zu und schlüpfe wieder in meine Sneakers.
Der Ball schießt mit einem Affenzahn in das Tor und ich recke die Arme in die Luft. Noah steht mir gegenüber und sieht mich fassungslos an. Stolz strecke ich ihm die Zunge raus und grinse ihn an.
"Sei nicht so frech, meine Liebe."
Immernoch grinsend lege ich den Kopf schief. "Sonst was?", frage ich fordernd.
Noah sagt nichts, aber sein Grinsen wird breit und er zieht die Augenbraue hoch. Allein diese Geste lässt Bilder in meinem Kopf entstehen, die mir die Röte ins Gesicht treiben.
Betty räuspert sich und wirft den Ball ein.
"Hey, wir haben Einwurf!", protestiert Noah.
Ich werfe Kai einen kurzen Blick zu, der Betty schmunzelnd ansieht. Zwischen den beiden herrscht eine große Sympathie, wie ich merke. Sie ist fast mit den bloßen Händen greifbar. Kai schnappt sich den Ball und wirft ein. Ich versuche, das Tor zu decken, damit Noah, der die Spieler im Angriff spielt, keine Chance hat, ein Tor zu schießen. Aber meine Hände sind vor lauter Anspannung und Nervosität so schwitzig, dass ich die Drehstäbe kaum halten kann. Doch dann passiert es - Noah schießt daneben und der Ball prallt an der Wand neben dem Tor ab. Betty ergreift die Chance und trifft ins Tor. Der Ball ist so schnell dran, dass er fast wieder aus dem Tor herauskullert.
"Gewonnen", juchze ich und klatsche bei Betty ein.
"Gut, wir tauschen." Noah stellt sich neben mich.
Unsere Oberarme berühren sich und ich hole tief Luft. Es ist schon fast peinlich, wie verrückt er mich macht. Als wäre ich ein verliebter und hoffnungsvoller Teenager.
"Willst du ins Tor oder soll ich hier bleiben?", erkundige ich mich und betrachte das Spielfeld. Wie viele hier wohl schon standen und gespielt haben?
"Ich würde jetzt gerne ins Tor", gibt er zu und ich schnappe mir die kühlen Drehstäbe für den Angriff.
Betty wirft ein, der Ball dreht sich und prallt gegen die Bande. Sofort ergreife ich die Chance und schnappe mir den Ball. Es steht 9:8 für Noah und mich. Das könnte jetzt der entscheidene Treffer sein.
"Du schaffst das, Dalí. Ich glaub an dich!", raunt Noah mir leise zu.
Ich konzentriere mich auf Kais Torwart und Verteidigung und suche eine Lücke zwischen den Spielern. Nervös spiele ich den Ball hin und her, bis ich sie schließlich entdecke und schieße.
"Tor! Yes, wir haben gewonnen. Dalí, wir haben gewonnen!", jubelt Noah und umarmt mich.
Ich erwidere die Umarmung lachend. "Jaaa, gewonnen!", quietsche ich und bekomme kaum Luft, weil Noah mich so fest an sich drückt.
Als er sich wieder von mir löst, lässt er einen Arm auf meiner Schulter ruhen.
"Tja, niemand legt sich mit meiner Dalí an." Er reckt das Kinn stolz in die Luft und grinst. Seine Augen funkeln, als er unsere beiden Mitspieler ansieht. Ich werfe ihnen einen kurzen Blick zu, beide schmunzeln.
Und dann sehe ich wieder zu Noah.
Er grinst so breit, als hätte er allen Grund dazu, stolz darauf zu sein, dass ich Teil seines Teams bin. Dass ich seine Dalí bin. Mein verräterisches Herz spielt eine Melodie und ich hoffe mir so sehr, dass sein Herz es hört - und mitsingt.
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