38 - Baumwollweiß
▷ Alice Kristiansen - Born To Die (Cover) ◁
Leonie steht vor mir, mit Tränen in den Augen und versucht trotzdem zu lächeln. Ich schniefe und wische mir über das Gesicht. Die letzten Monate mit ihr waren wunderbar - ohne sie hätte ich so vieles hier nicht geschafft. Und heute ist der Tag an dem sie in die Freiheit entlassen wird und sich der Welt stellt. Ich kann es kaum erwarten zu erfahren, wie es ihr dort draußen geht. Natürlich werden wir versuchen, in Kontakt zu bleiben und uns nicht auseinanderzuleben. Aber wer weiß schon was die Zeit so mit sich bringt? Ich wünsche mir, dass wir Freundinnen bleiben und sie ein Teil meiner kleinen chaotischen Welt bleibt. Wie an dem ersten Tag an dem wir uns kennengelernt haben trägt sie auch heute gelben Nagellack, der so hell scheint wie die Sonne. Und das ist sie für mich, meine Sonne.
"Danke für alles, Lia. Ohne dich hätte ich das hier drin nicht halb so gut geschafft." Sie drückt mich nochmal an sich. Ihre Jeansjacke duftet nach ihr und ich erwidere die Umarmung.
"Ich habe zu danken, Leonie. Du hast mir so oft und so viel geholfen. Das bedeutet mir so viel. Ich kann mir gar nicht vorstellen, hier ohne dich zu sein." Ich mache einen Schmollmund, den sie mit einem Lächeln quittiert, als sie mich wieder von sich schiebt.
"Wir bleiben in Kontakt, Lia. Bitte versprich mir das! Und spätestens wenn du umziehst sehen wir uns wieder. Ich melde mich, wenn ich Zuhause bin, ja?"
Meine Kehle ist ganz trocken und ich habe das Gefühl, dass sich ein kleiner Splitter in mein Herz bohrt. Seit jeher hasse ich Abschiede. Auch wenn ich weiß, dass ich die Person wiedersehen werde - ich muss mich dennoch für einen gewissen Zeitraum von ihr trennen und das tut weh. Schnell drücke ich sie nochmal an mich und lasse sie schließlich frei.
Sie drückt Noah kurz an sich und setzt sich schließlich zu Nico, ihrem Freund, ins baumwollweiße Auto. Ihre ganzen Sachen sind im Kofferraum verstaut. Als das Auto startet, öffnet sie das Fenster und winkt noch einmal zum Abschied. "Bis später!", ruft sie mir zu und wirft mir einen Luftkuss zu, den ich erwidere.
Und dann sind die Rücklichter ihres Autos nur noch zwei immer kleiner werdende leuchtende rote Punkte, denen ich mit traurigem Herzen nachsehe. Leonies Entlassung bedeutet, dass auch meine nicht mehr lange auf sich warten lässt und das macht mir gerade sehr große Angst.
"Alles gut?" Noah tritt neben mich und zündet sich eine Zigarette an. Er hält mir seine Schachtel hin und ich zögere. Doch mit Nachdruck drückt er mir eine Zigarette in die Hand und hält mir schließlich sein Feuerzeug hin. Ich seufze. Am Montag kommt meine neue Zimmermitbewohnerin. Bis dahin habe ich das Zimmer für mich alleine. Gerade weiß ich nicht, ob das so förderlich ist für mich und meine Dunkelheit, die lachend an der Ecke des Klinikgebäudes steht und mir zuwinkt.
"Lia?", erkundigt sich Noah und sieht mich abwartend an.
"Mh?", frage ich dümmlich und erwidere seinen Blick kurz.
"Alles gut? Brauchst du was?"
Ja, dich.
Ich schüttle den Kopf. "Ich muss das erstmal verdauen. Ich hasse Abschiede."
Noah nickt zustimmend. "Ja, ich auch."
Es wird wehtun, wenn wir uns verabschieden.
"Kann ich etwas für dich tun?"
Halt mich fest.
Wieder schüttle ich den Kopf und drücke die Zigarette auf dem Boden aus. "Danke für die Zigarette. Ich muss telefonieren. Wir sehen uns später." Ich winke ihm kurz zu und verschwinde dann, so schnell es geht, im Haus und gehe zu meinem Zimmer. Und ich bin mir sicher, dass ich dieses für den Rest des Tages nicht mehr verlassen werde. Diese Zeit von Abschiedsschmerz gönne ich mir. Bei der Blitzrunde will mir nicht wirklich etwas Positives einfallen, weswegen ich auf das beliebte Thema 'Wetter' zurückgreife und die milden Temperaturen lobe. Für den morgigen Tag nehme ich mir einen Spaziergang im Wald vor - und Malen.
Die Nacht ist unruhig und ich kann nicht schlafen. Die Angst vor der neuen Mitpatientin ist groß. Denn was ist, wenn sie mich nicht mag? Wenn sie ein Problem mit Übergewichtigen hat? Wenn wir uns nicht verstehen und sie meine Sachen durchsucht? Oder wenn sie wunderschön ist und sie mir Noah wegnehmen könnte? Was ist, wenn alles nur schlimmer wird, wenn sie da wird? Bescheuerte Gedanken surren wirr durch meinen Kopf und halten mich von meinem Schlaf ab. Wie immer gebe ich auf und schnappe mir mein Tagebuch. Es ist fast voll und der Gedanke daran macht mich glücklich. Es stimmt mich zufrieden, wenn ich Notizbücher füllen kann und auch wirklich jedes einzelne Blatt beschrieben wird. In meinem Zimmer bei meinen Eltern besitze ich eine Kiste mit all meinen Tagebüchern meines Lebens. Ich habe sie gut versteckt und bete, dass meine Eltern sie noch nicht gefunden haben. Das Schreiben macht mich müde und ich spüre, wie meine Augenlider immer schwerer werden. Schließlich lehne ich mich zurück und schlafe endlich, endlich ein.
Die Millieugruppe am Samstagmorgen ist spärlich besucht, kaum jemand ist da. Alle sind bereits unterwegs und haben somit Sondererlaubnisse erhalten. Ich erzähle kurz von meinem Plan und bin froh, als wir wieder entlassen werden. Die wenigen, die noch da sind, stehen zusammen im Raucherpavillon. Es regnet und stürmt und es ist sehr kalt. Ein ungemütliches Wetter. Das richtige Wetter um zu lesen oder Zeit im Haus zu verbringen. Das stimmt mich glücklich.
Noah unterhält sich mit Kai im Raucherpavillon und ich stelle mich etwas abseits. Leonies Auszug beschäftigt mich nach wie vor - und doch kann ich es nicht erwarten, wieder alleine in meinem Zimmer zu sein. Schnell drücke ich die Zigarette aus und werfe Noah einen kurzen Blick zu. Er sieht mich an und runzelt kurz die Stirn, doch bevor er etwas sagen kann betrete ich das Haus und mache mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Dort verbringe ich den Tag mit meinem Buch im Bett und verlasse es nur zum Mittag- und Abendessen sowie zum Rauchen.
Nach dem Abendessen betrete ich das ruhige Zimmer erneut. Doch die Stille ertrage ich nicht und so stopfe ich mir den Ohrenstöpsel in mein rechtes Ohr und höre Musik. Ohne, dass ich es wirklich merke, fange ich an, mitzusingen. Irgendwann stehe ich dann am Fenster und beobachte das Wetter außerhalb. Ich fühle mich wie in einem Musikvideo und muss lachen. Mit diesem Lachen drehe ich mich um und erstarre. Mein Herz setzt aus und mein Atem stockt. Verdammt. Ich war vermutlich zu laut. Noah sieht mich schmunzelnd an.
"Wie lange stehst du dort schon?", erkundige ich mich mit zittriger Stimme.
Seine Kiefer mahlen und das finde ich so unglaublich anziehend, dass ich nicht aufhören kann, daraufzustarren.
"Lange genug", antwortet er schlicht und verschränkt die Arme vor der Brust.
Ich seufze und schlage die Hände vor mein Gesicht. "Tut mir leid."
"Warum hast du mir nie erzählt, dass du so gut singen kannst?"
Verwirrt sehe ich ihn an. "Was?"
"Du hast mich schon verstanden." Er bleibt im Türrahmen stehen. Es ist den Mitpatienten untersagt, die Zimmer der anderen zu betreten - vor allem wenn man unterschiedlichen Geschlechts ist.
Mir hat noch nie jemand gesagt, dass ich gut singen würde - darum erstaunt mich seine Aussage so sehr. Ich mag meine Stimme beim Singen, ja. Aber als gute Sängerin hätte ich mich selbst nie bezeichnet. Erneut schlage ich die Hände vor mein Gesicht um die auftretende Röte zu verstecken.
Noah lacht leise. "Kommst du mit raus, ein bisschen draußen sitzen, bevor es so richtig kalt wird?"
Ich mustere ihn kurz, in seinen Boots, seinen schwarzen Jeans und seinem großen Hoddie. Die Kapuze hat er über seinen Kopf gezogen. Er sieht so verdammt gut aus und es erstaunt mich, dass ich es nicht von Anfang an bemerkt habe.
"Dalí, du starrst." Er grinst und ich schüttle ertappt den Kopf.
"Es ist besser, wenn ich hier bleibe. Ich würde euch nur den Abend versauen."
"Uns?"
"Ja, den Leuten mit denen du draußen sitzt."
"Ich wollte mit dir - also ... es gibt niemanden sonst."
Langsam sehe ich ihn an. Nervös nestle ich an meiner Jeans herum und hole zittrig Luft. Wir haben nie wieder wirklich über den Fast-Kuss gesprochen, sondern eher so getan, als wäre nichts passiert. Und dennoch hat uns beide diese Situation irgendwie mitgenommen, verwirrt. Doch bevor ich großartig darüber nachdenken kann, ist mein Mund wieder einmal schneller als mein Hirn.
"Ja, klar, gerne", flüstere ich leise und schlüpfe in meine Schuhe.
Es wird langsam dunkel und es ist bereits ziemlich frisch, auch wenn der Herbst noch nicht gänzlich da ist. Wir setzen uns auf die Bank in der Nähe des Pavillons der Jupiter-Gruppe. Hier sind wir vor Blicken geschützt, da uns Büsche und die Pavillonwand umgeben. Ich kann nicht verhindern, dass mein Herz nervös und aufgeregt in meiner Brust schlägt. Würde Noah mich heute küssen wollen, ich würde ihn nicht davon abhalten.
Er zündet sich eine Zigarette an und ich tue es ihm gleich. Schweigen legt sich über uns, als wir gemeinsam in den Himmel blicken. Er ist klar, erstaunlicherweise. Scheinbar hat der Wind all die Wolken vertrieben. Es dämmert und am Himmel sind bereits einige Sterne erkennbar. Ich wünschte, ich würde mich mit Astronomie auskennen.
"Ich fühle mich immer so unglaublich klein und alleine, wenn ich in den Himmel sehe", sage ich leise und puste meinen Rauch in die Luft.
"Also klein bist du, ja. Aber alleine bist du nicht, Dalí." Noahs raue Stimme wird vom Wind in die Nacht getragen. Er lehnt sich zurück und sieht mich kurz von der Seite aus an. Ich höre ihn tief Luft holen und gleichzeitig halte ich sie an. Ich weiß nicht, was er vor hat und das macht mich nervös. Ich weiß nicht, was das zwischen uns ist. Ob er etwas für mich empfindet - ob ich etwas für ihn empfinde. Was ich generell fühle.
Was ich im Moment fühle sind seine Fingerspitzen, die vorsichtig über meinen Handrücken streichen; seine Hand, die sich langsam mit meiner verschränkt; sein Daumen, der langsam über meinen Handrücken streicht. Und diese kleine Bewegungen, diese kleine Geste, macht mich verrückter als alles andere. Verrückter nach Nähe, verrückter nach Noah. Wir halten Händchen, so vorsichtig, als hielten wir zwischen unseren Händen unser eigenes kleines Universum.
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