31 - Lachsorange
▷ Nothing But Thieves - Excuse Me ◁
Herr Vladic steht vor mir, mit einem leeren Schuhkarton bepackt und sieht mich durchdringend an. Mein Blick schwirrt zwischen ihm und dem Karton hin und her. Nervös zupfe ich an meiner Nagelhaut und wackel mit den Beinen.
"Frau Eichendorf hat mit mir gesprochen und mich darum gebeten, mit Ihnen den Notfallkoffer zu besprechen." Er stellt den Karton neben mir auf der Liege ab und setzt sich auf seine kleinen weißen Drehstuhl ohne Lehne. Ich persönlich könnte nicht auf einem Stuhl ohne Lehne sitzen, mein Rücken schmerzt nach einer gewissen Zeit so sehr, dass ich mich hinlegen muss.
"Notfallkoffer? Was zur Hölle ist das? Ein Koffer, den ich für den Notfall schon gepackt habe, wenn ich fliehen muss?"
Ein kurzes Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht, aber es ist innerhalb weniger Sekunden verschwunden.
"Nein, ein Notfallkoffer ist für Situationen, in denen Sie sich Schmerz zufügen wollen. In diesen Koffer, wobei es meist eine Schachtel und kein Koffer ist, kann man alle möglichen Dinge packen, die einen von dem Drang ablenken."
"Zum Beispiel?", möchte ich wissen und lehne mich an die Wand hinter mir.
"Nun, das kann alles mögliche sein. Ich bevorzuge es, wenn die Sinne angesprochen werden. Zum Beispiel in Form eines Duftöles, eines Knisterpapiers, einer kleinen Dose mit Reis oder diese eklig sauren Kaubonbons. Es gibt auch noch die Möglichkeit, Rätsel in den Koffer zu packen, um das Gehirn abzulenken und sich mit der Lösung des Rätsels zu befassen. Wichtig ist, dass sie einen so sehr ablenken, dass man aus der Situation rauskommt."
Ich nicke und höre interessiert zu. An sich klingt das wie ein gutes, helfendes Konzept. Vielleicht könnte ich ein Ylang-Ylang-Duftöl in den Koffer packen, dieser Geruch erinnert mich immer an Omi und könnte durchaus eine beruhigende Wirkung haben.
"Aber was ist, wenn ich unterwegs bin - ich nehme doch nicht überallhin meine Schachtel mit", erkundige ich mich.
"Dafür gibt es kleine Taschen, beispielsweise eine Kosmetiktasche, die man leicht in die Handtasche bekommt. Hier ist eine Liste mit Beispielen. Oben im Computerraum könnten Sie auch nach anderen Vorschlägen suchen, wenn Sie möchten."
"Danke", entgegne ich und greife nach der Box neben mir. Sie ist leicht, allerdings klappert sie, als wäre dort bereits etwas enthalten. Fragend runzle ich die Stirn und sehe Herrn Vladic an.
Er grinst spitzbübisch. "Machen Sie ruhig auf", weist er mich an und ich zögere keine Sekunde.
Die Schachtel riecht nach neuem Leder und es befindet sich eine kleine Schachtel darin. Eine Schachtel in einer Schachtel. Neugierig öffne ich auch diese und kann einen kleinen Freudenschrei nicht zurückhalten. Es sind Murmeln; viele bunte Murmeln, die sich in der Schachtel befinden. Eine lachsorangene hat sich aus der Schachtel befreit und kullert nun munter umher.
"Sind die denn etwa alle für mich?", frage ich ungläubig und kann nicht aufhören, das Geschenk anzusehen.
Der Pfleger nickt und lächelt. "Alle, ja."
"Danke, ich liebe Murmeln." Ich lege alles wieder in die Schachtel und öffne die Tür.
"Sehr gerne", antwortet Herr Vladic und schließt die Tür hinter mir.
Es ist Freitagabend und ich wandere etwas verloren durch die Klinik. Leonie hat wieder ein Date mit dem Typen vom letzten Mal. Noah und der Rest der Jungs spielen draußen Fußball. Ein Sport der mich weder zum Mitmachen noch zum Zusehen animiert. Schließlich lande ich im Speisesaal, in dem sich einige Mitpatienten gesammelt haben und verteilt an den Tischen sitzen. Es ist eigentlich noch immer viel zu warm, um draußen sportlich aktiv zu sein. Hier im Speisesaal ist es angenehm frisch und kühl. Ich entdecke Anett und geselle mich schüchtern an ihren Tisch.
"Lia!", ruft sie freudig aus, als ich mich neben sie setze. "Spiel doch mit, das ist ein großartiges Spiel!"
Und in der Tat, es sieht sehr interessant aus. In der Mitte ist eine Art Spielfeld, auf dem Zahlen gedruckt sind und bunte Hasenfiguren stehen, die vermutlich zu jeweils einem Spieler gehören. Jeder der Mitspieler hat eine bestimmte Anzahl an Karten in der Hand. Als ich die Runde beobachte, stelle ich fest, dass jeder nacheinander einen Satz oder eine Geschichte erzählt und jeder andere Mitspieler, der nicht der Erzähler ist, eine von seinen Karten - die für ihn zu dem Thema passt - zu dem Spielfeld mit den Zahlen legt. Alle müssen jetzt tippen, welche Karte von dem Erzähler ist. Anett legt eine Karte mit einer strickenden Omi auf den Tisch und mich überkommt eine Welle Sehnsucht nach meiner Oma. Auch sie strickt für ihr Leben gern. Ich kann die selbstgestrickten Sockenpaare nicht mehr zählen - aber ich liebe jedes einzelne von ihnen. Die Karten selbst sind wunderschön gezeichnet und ich könnte vermutlich Stunden damit verbringen, sie mir alle genauestens anzusehen.
"Hier, nimm meine Karten. Ich steige sowieso aus!" Die Frau, die mit Noah und mir nach der letzten Gruppentherapie im Speisesaal war, steht auf und drückt mir ihre Karten in die Hand, die ich sofort neugierig begutachte.
"Danke", murmle ich und betrachte eine Karte mit einem Mädchen, welches ein Kleid trägt. Dieses Kleid wird nach unten hin zu einem Käfig in dem ein Fisch schwimmt. Ich bin sofort verliebt darin. Auch die anderen Karten sehen wunderschön aus und ich bin plötzlich sehr froh, dass ich mich zu Anett gesetzt habe. Die Zeit vergeht wie im Fluge, das Spiel macht wahnsinnigen Spaß.
Erst als die Tür zum Speisesaal geöffnet wird und die Gruppe Fußballspieler den Raum betritt, sehe ich auf. Wie Magneten finden meine Augen Noah. Er unterhält sich angeregt mit Kai und beide brechen in schallendes Lachen aus. Seine Grübchen sehe ich auch von hier aus. Noah wischt sich den Schweiß von der Stirn und entdeckt mich währenddessen am Tisch mit den anderen. Sein Gesicht wird von einem Lächeln gezeichnet und er winkt mir kurz zu. Mein Herz, mein dummes Herz, macht einen bescheuerten Sprung und ich kann nicht verhindern, dass ich dümmlich grinse. Schnell wische ich es mir aus dem Gesicht und konzentriere mich wieder auf das Spiel.
Genau das ist das Problem, wenn man es nicht gewohnt ist, dass Männer nett zu einem sind - man interpretiert zu viel in ihre Aktionen hinein. Freundlichkeit ist heutzutage so selten und besonders, dass man automatisch denkt, der andere flirtet mit einem. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Leute unfreundlicher sind, wenn man übergewichtig ist. So oft beobachte ich, wie Verkäuferinnen die Kundinnen, die weitaus schlanker sind als ich, vor mir lächelnd und freundlich bedienen und mich dann mit bitterbösen Blicken ansehen und anschweigen. Oder dünneren Personen werden die Türen von öffentlichen Verkehrsmitteln aufgehalten - mir nicht. Mir sieht man lieber dabei zu, wie ich versuche zu laufen und dabei kläglich scheitere. Ich bin verdammt unsportlich. Was schade ist, denn eigentlich liebe ich es, mich zu bewegen. Nur das inzwischen angesammelte Gewicht erleichtert mir die Bewegung leider so gar nicht. Und natürlich fühle ich mich nicht besonders wohl in meinem Körper; Tipps bezüglich Beziehungen kann ich aber dennoch sehr gut geben - als hätte ich schon etliche hinter mir. Nur komme ich mir vor wie ein Ersatzspieler beim Fußball. Immer sitze ich auf der Ersatzbank - oder ich bin immer nur der Trainer. Selber spielen darf ich nie.
Ich habe genug davon und ich weiß, dass sich dringend etwas in meinem Leben ändern muss. Als das Spiel beendet ist, fasse ich mir ein Herz und rufe meine Oma an. Vor dem Speisesaal ist nichts los, weswegen ich mich dorthin verkrümel und eine Zigarette anzünde. Gerade als ich mein Feuerzeug wieder wegstecke, hebt sie ab.
"Großmann?" Ihre Stimme klingt erschöpft und sofort fühle ich mich schlecht, sie mit so etwas zu überfallen. Ich stocke.
"Hallo? Wer ist da?", erkundigt sie sich und mir fällt auf, dass ich noch immer nichts gesagt habe.
"Entschuldige, Oma, ich bin es, Lia." Mein Hals ist plötzlich ganz kratzig.
"Ach, Lia, mein Schatz. Wie schön von dir zu hören! Wie geht es dir?"
"Mir geht es gut, ich bin nur müde. Sehr müde. Und dir?"
"Ich auch, aber ich gehe gleich ins Bett. Vielleicht solltest du das auch tun?" Selbst über das Telefon kann ich in ihrer Stimme hören, dass sie lächelt.
"Oma, ich habe einen Anschlag auf dich vor."
Sie räuspert sich und plötzlich habe ich den Drang, mich auch zu räuspern.
"Lass' hören, mein Herz." Keinerlei Wertung in ihrer Stimme, keine Abneigung, nichts.
"Du hast doch noch dieses Gästehaus in deinem Garten, nicht wahr?", taste ich mich vorsichtig an das die eigentliche Frage heran.
"Ja, das ist richtig. Warum fragst du?"
"Ich ... ich habe überlegt, ob ich nicht da vielleicht-"
"Ob du da einziehen könntest?", vervollständigt sie meinen Satz und mein Herz setzt einen Schlag aus.
Meine Stimme zittert als ich antworte. "Ja, genau. Es ist vollkommen okay, wenn du das nicht möchtest. Und du kannst dir das auch noch in Ruhe überlegen."
"Da gibt es nichts zu überlegen, Lia. Natürlich kannst du da einziehen, wenn du das möchtest. Wir müssen es noch renovieren, aber das bekommen wir schon hin."
Ich quietsche und würde am liebsten in die Luft springen. "Du bist die beste Oma der Welt - Danke! Du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet!"
"Für dich würde ich alles tun, das weißt du doch. Aber, sag mal, was sagen denn deine Eltern dazu?"
Die Freude über ihre Zusage währt nur kurz und wird von der Frage sehr gedämpft und ich seufze.
"Gut, lass mich raten, mein Kind - sie wissen es noch nicht?", tippt sie.
"Richtig. Ich muss es ihnen noch sagen. In Kürze ist das Elterngespräch und da werde ich es ansprechen. Aber ich wollte es zuerst mit dir besprechen, weißt du?"
"Das ist verständlich. Elterngespräch? Ohje, ob das so klug ist, wenn du dich ihnen alleine stellst?"
"Oh, nein, ich bin nicht alleine. Ich habe meine Therapeutin und vielleicht noch jemanden von den Patienten."
"Gut, alleine solltest du dich ihnen nicht stellen."
"Wie geht es deinen beiden Enten, Oma?", erkundige ich mich, um das Thema von mir abzulenken und auch etwas über sie zu erfahren.
Wir reden noch ein bisschen über ihre beiden Enten, ehe sie sich verabschiedet und ins Bett geht.
Als ich aufgelegt habe, muss ich das Gespräch erst einmal verdauen und lege den Kopf in den Nacken. Es könnte also möglich sein, dass ich nach der Therapie bei meiner Oma wohne - weg von meinen Eltern. Dass ich meine eigene Wohnung haben werde und nicht mehr bei meinen Eltern wohnen muss. Aber das glaube ich erst, wenn ich dort wirklich einziehe. Und kurz wird die Angst vor dem bevorstehenden Elterngespräch etwas zurückgedrängt. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht und ich schließe die Augen.
Die Tür zum Speisesaal öffnet sich und jemand setzt sich neben mir auf die Stufen. Die Person ist still und schweigt. Unsere Knie berühren sich und irgendwie fühlt es sich eigenartig an, ungewohnt. Ich öffne meine Augen und sehe in Aarons Augen, der mich freundlich anlächelt.
"Hey", meint er und zündet sich seine Zigarette an, während ich meine ausdrücke.
"Hey", antworte ich und lehne mich etwas zurück.
"Alles gut? Und alles gut zwischen uns?", möchte er wissen und rempelt mein Knie mit seinem an.
Ich nicke und runzle die Stirn. "Ja, alles gut. Wie geht es dir?"
Aaron beißt sich auf die Lippen. "Ich werde in drei Wochen entlassen", entgegnet er ruhig.
"Was, schon so bald? Hast du Angst?", frage ich und streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Diesmal ist es Aaron der nickt. "Ja, die Zeit ist echt schnell vergangen. Nein, Angst habe ich keine. Es wird nur sehr ungewohnt werden. Und du bist hier auch bald raus. Freust du dich schon? Wenn du magst, können wir uns mal treffen."
Ich denke an meine Oma und nicke. "Gerne können wir uns mal treffen, ich würde mich freuen. Und, ja, es könnte ganz gut werden, da draußen."
"Das wünsche ich dir, Lia. Du hast all das Gute verdient." Er lächelt und senkt den Blick.
Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und drücke kurz seine Hand. Vielleicht bin ich hier drin nicht nur auf dem Weg mich selbst zu finden, vielleicht habe ich hier auch einen Freund gefunden.
"Du auch, Aaron. Ich bin froh, dass ich dich kennenlernen durfte." Und das meine ich auch so.
Denn egal wie oft er es beinahe gerochen hat, wenn er stört - er war immer da und hat mich aufgefangen. Von Anfang an. Er hat mich genommen und akzeptiert wie ich bin, war ehrlich und zuverlässig. Und das ist genau das, was man sich von einem Freund wünscht, oder?
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Das war es mit dem Leseabend. Ich danke allen die dabei waren und die, die noch hinzukommen.
Danke für eure Unterstützung.
Ally ♥
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