30 - Perlrubinrot
▷ Lifehouse - Everything ◁
Noah zittert so sehr, dass ich große Mühe habe, stehen zu bleiben. Er lehnt sich an mich, als wäre ich ein Fels in der Brandung. Ihn so zu sehen, treibt auch mir die Tränen in die Augen. Verschwunden ist der selbstbewusste, coole, eingebildete, oberflächliche Vollpfosten. Vor mir steht ein kleiner Junge, der sich nach einem festen Halt sehnt und gerade verloren im wilden, tosenden Meer treibt - ohne ein Festland zu entdecken. Verloren schlingt er schließlich auch die Arme um mich und drückt mich so fest an sich, dass ich keine Luft mehr bekomme. Sein Zittern lässt auch mich zittern und ich wünsche mir nichts mehr, als dass ich ihm den ganzen Schmerz nehmen kann, den er auf seinem Rücken herumträgt. Er ist stark, so stark, und er sieht es einfach nicht.
"Ich bin da. Es ist alles gut, Noah. Du bist nicht allein", flüstere ich und streiche ihm über den Rücken, um ihn zu beruhigen.
Er schluchzt und drückt mich noch fester an sich und vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. Die Nässe seiner Tränen tränkt meine Jacke, aber das stört mich nicht. So etwas hat mich nie gestört. Salzwasser ist immer heilend. Egal ob es die Tränen oder das Meer sind, Salzwasser hilft so sehr, wieder zu sich zu finden.
Noah löst sich von mir und wischt sich mit seinen Händen über das Gesicht. Er versucht sich an einem Lächeln, aber es scheitert haushoch. Er sieht dadurch noch verlorener aus und schlägt die Augen nieder. Seine Nase ist rot vom vielen Weinen und er zieht sie immer wieder hoch.
"Warte", sage ich leise und verschwinde schnell in unser Zimmer.
Leonie sitzt auf ihrem Bett und starrt vor sich hin. Als ich eintrete sieht sie auf.
"Was ist los? Was hat er? Was ist passiert?", erkundigt sie sich, doch ich schüttle nur mit dem Kopf.
"Das kann ich dir nicht sagen. Aber es geht ihm wirklich scheiße. Hast du Taschentücher, ich finde meine nicht?", frage ich und suche eilig in meiner Handtasche.
"Hier, Lia, fang!" Sie wirft ein Päckchen mit perlrubinroten Flamingos als Motiv durch die Luft, welches ich auffange und so schnell wie möglich in meine Jackentasche stopfe. Leider gelingt mir das nicht auf Anhieb und so stehe ich kurz im Zimmer und suche meine Jackentasche. Wie machen Jacken das nur, dass die Jackentasche verschwindet und nicht mehr am eigentlichen Ort auftaucht?
"Danke, du bist die beste."
Sie lächelt und wirft mir einen Luftkuss zu, den ich erwidere, ehe ich wieder in den Flur trete. Kurz habe ich Angst, dass Noah verschwunden ist, doch ich sehe ihn gegenüber unserer Tür an der Wand lehnen. Er hat eine Hand in die Hosentaschen gestopft, mit der anderen tippt er immer wieder Daumen und Zeigefinger aneinander, und starrt auf den Boden. Und obwohl er so verloren ist und ganze Meere aus seinen Augen geflossen sind, halte ich kurz inne und starre ihn an. Die braunen Haare stehen ihm - wie es irgendwie immer der Fall ist - wirr vom Kopf. Seine Augen sind geschwollen und doch kann ich den wilden, ungebändigten Sturm in ihnen erkennen. Die Hand, die er nicht in der Hosentasche hat, ist verziert mit Adern und Sehnen, die vorsichtig bei jeder Bewegung tanzen. Die Tattoos und Adern auf seinen Armen zeigen ein ganzes Kunstwerk und ich möchte jedes einzelne Bild mit meinen Fingern nachmalen.
Lia!
Ich schüttle den Kopf und versuche, den Wunsch zu verdrängen.
"Komm, wir gehen in den Raucherraum, ja?"
Er beißt sich auf die Unterlippe und sieht mich noch immer nicht an. "Aber was ist wenn da Leute sind? Ich will nicht, dass mich jemand so sieht." Seine Stimme ist tief, rau und kratzig. Als hätte er stundenlang geschrien. Ich frage mich, wie er nach dem Aufwachen klingt. Aber das ist eine Frage, die sich mir nie beantworten wird.
Langsam hole ich Luft. "Ich werfe sie aus dem Zimmer und dann stellen wir einen Stuhl davor, ja?"
Noah reagiert nicht und schweigt. Vorsichtig, wie als würde ich auf ein scheues Reh zugehen, trete ich an ihn heran. "Noah?" Ich suche seinen Blick, doch er weicht mir immer wieder aus. Die tiefe Trauer in seinen Augen wird untermalt von den wilden Sturmwolken in ihnen. Seine Verletztheit ist nahezu greifbar. Ich habe das Gefühl, dass er mir entweicht und ich greife nach seiner Hand, die kalt ist.
"Komm mit." Ich ziehe ihn mit mir mit und lasse ihn , während wir die Treppen hinunterlaufen nicht mehr los. Immer wenn wir Geräusche hören, bleiben wir kurz stehen - doch er löst seine Hand nie aus meiner. Ich frage mich, wie sich etwas so falsch anfühlen kann und gleichzeitig so richtig. Er drückt meine Hand, als wir vor dem Raucherraum stehen und ich sehe ihn an. Noah seufzt und lächelt, seine Grübchen offenbaren sich und kurz habe ich Angst, dass ich in seine Augen falle.
Verdammter Mist, ich muss mich konzentrieren. Aber ich - ich glaube, ich mag ihn ein bisschen mehr, als ursprünglich geplant. Selbstverständlich bin ich nicht verknallt, ich mag ihn nur einfach sehr gern. Vor allem sind diese Gefühle absolut unnötig und fehl am Platz. Wir sind hier schließlich, um therapiert zu werden und nicht, um uns zu verlieben. Mal davon abgesehen, dass ich definitiv nicht sein Typ bin. Vermutlich ist es für ihn schon eine Zumutung, meine Hand zu halten.
Schnell löse ich meine Hand aus seiner und schiebe vorsichtig die Tür zum Raucherzimmer auf. Das kühle Metall fühlt sich angenehm an meiner Haut an, als ich mich dagegen lehne und mit angehaltenem Atem durch den Türspalt gucke. Der Raum ist leer und erleichtert atme ich auf.
"Er ist leer", sage ich nur und öffne die Tür ganz. Noah folgt mir und die Tür fällt ins Schloss. Ich stelle einen Stuhl davor, um zu verhindern, dass jemand diesen Raum betritt. Erleichtert stelle ich fest, dass es im Raum nicht so kalt ist, wie das Metall der Türe. Ansonsten wäre ich unpassend angezogen. Aber gut, wenn man bedenkt, wie heiß es den ganzen Tag über war - da hätte es mich gewundert, wenn es kalt gewesen wäre. Im Herbst wird es wieder kühler und ich freue mich schon so darauf. Endlich wieder bunte Blätter, Tee, heiße Schokolade, frische Luft, Regen. Ein kurzes Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht.
"Woran denkst du?", erkundigt sich Noah leise und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Mit zittrigen Fingern dreht er am kleinen Rädchen des Feuerzeugs und entfacht die Flamme.
"An den Herbst."
Er runzelt die Stirn und grinst schließlich. "An den Herbst? Und dann grinst du so? Wie musst du erst lächeln wenn du wirklich glücklich bist?"
Ich schlucke und zucke mit den Schultern. "Nicht besser schätze ich", entgegne ich und zünde auch meine Zigarette an.
"Das bezweifle ich", sagt er leise und sieht mich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen an.
Sein Blick macht mich nervös und ich suche krampfhaft nach einem Gesprächsthema, um diese eigenartige Spannung zwischen uns - die natürlich mit Sicherheit nur von mir ausgeht, weil er ein sehr attraktiver Mann ist - zu unterbinden. Jedoch ist mir bewusst, dass er nicht sprechen möchte. Wer möchte schon über seine Eltern sprechen, wenn sie so sind wie unsere? Das ist unfair, denn ich kenne seine Mutter nicht. Aber sie ist mit Sicherheit eine gute Seele. Ich lache leise und schüttle den Kopf.
"Was hast du, Dalí?" Noah tippt mit seiner Zigarette gegen den Aschenbecher auf dem Tisch und sieht mich darüber hinweg forschend an.
Seufzend mache ich es ihm nach und starre an die Wand. "Frau Eichendorf hat mir geraten, ein Familiengespräch zu führen. Aber ich bezweifle, dass das irgendwas bringt oder ändert."
Noah schweigt und sieht auf den Boden. "Aber wenn du es nicht versuchst, dann weißt du es nicht."
Ich lege den Kopf in den Nacken und brumme. Es nervt mich, weil ich weiß, dass er Recht hat. Und ich möchte nicht, dass er an dieser Stelle Recht hat.
"Es könnte helfen, Baustellen aus dem Weg zu räumen und einige wichtige Dinge zu klären, denkst du nicht? Und du musst das nicht alleine machen. Du hast deine Therapeutin. Du könntest Leonie fragen oder - oder mich. Jedenfalls bist du nicht alleine in der Situation und du hast Beistand. Möglicherweise tun sich neue Wege auf, die du gehen kannst. Es muss nicht immer so bleiben wie es ist, weißt du?" Er tippt seine Zigarette erneut gegen den grauen Aschenbecher und sieht mich durchdringend an.
Zittrig ziehe ich an meiner Zigarette und puste den Rauch an die Decke. Ich denke über seine Worte nach, während ich mit meiner freien Hand das Muster des Tisches nachfahre. Auch dieses Metall fühlt sich kühl unter meinen Fingerspitzen an. Vielleicht hat er Recht. Und es ist ja auch so, dass ich an sich nichts zu verlieren habe. Die Beziehung zu meinen Eltern ist sowieso schon am Arsch - nach dem Gespräch wüssten sie zumindest was ich von ihnen halte.
"Okay. Ich mach's", antworte ich nur und sehe ihn kurz an.
Noah nickt und lächelt. Er sieht wild aus, mit seinen wuscheligen Haaren, seinen traurigen, tosenden und angeschwollenen Augen. Wie ein verwundeter, aber starker Soldat auf dem Schlachtfeld; wie ein Held.
Wir bleiben wach, bis die Sonne aufgeht und mit neuer gewonnenener Energie mache ich mich auf den Weg zu meinem Einzelgespräch.
"Hallo Frau Großmann, wie geht es Ihnen heute?", erkundigt sich meine Therapeutin und schlägt ihren geliebten Block auf. Heute hat sie einen pinken Kugelschreiber in der Hand, dessen Farbe mich völlig irritiert. Dieses Pink ist so leuchtend grell, dass man meinen könnte, es blendet.
"Es geht mir okay, denke ich. Ich möchte das Elterngespräch machen", eröffne ich ihr und verschränke meine Arme.
Frau Eichendorf nickt und notiert sich etwas auf ihrem Block, ehe sie ihn zur Seite liegt. "Das finde ich sehr gut, Frau Großmann. Was halten Sie von Mittwoch in drei Wochen? Dann würde ich mich sofort mit Ihren Eltern in Verbindung setzen?"
Kläglich lache ich auf. "Mittwoch in drei Wochenschon? Das geht schneller, als ich dachte. Aber ja, gut. Je schneller, desto besser. Und so lange bin ich ja auch gar nicht mehr hier, nicht wahr?"
Meine Therapeutin nickt. "Ja, die Zeit vergeht hier drin rasend schnell für die Patienten. Wir sollten auf jeden Fall besprechen, was Sie bei dem Familiengespräch ansprechen möchten. Und, Frau Großmann, an dieser Stelle möchte ich Sie darauf hinweisen, dass das kein Gespräch wird, um Ihre Eltern an den Pranger zu stellen. Es soll gewisse Punkte klären und einen neuen Weg zeigen. Und ich fungiere hier auch mehr als Moderator und versuche, beide Sichtweisen zu sehen. Haben Sie sich schon entschlossen, wer bei Ihrem Gespräch dabei sein soll?"
Ich schüttle den Kopf. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob ich Leonie und Noah bitten soll. Aber ich möchte es Noah nicht antun, dass er meine Eltern kennenlernt und sie ihn aufgrund seiner Tattoos verurteilen. Nachdenklich lehne ich mich im Stuhl zurück und spüre das weiche Polster der Lehne.
"Sie haben ja noch bis Mittwoch Zeit. Überlegen Sie es sich und fragen die betreffenden Personen, ja?"
Kurz nicke ich und ziehe dann einen Faden aus meiner Hose, der sich gelöst hat.
"Na gut, dann besprechen wir, was sie ansprechen möchten. Haben Sie Anliegen?"
Ich lache kurz und hart auf. "Ich möchte ausziehen, möchte dem ganzen Scheiß dort endlich entfliehen. Ich möchte ihnen mitteilen, wie ich mich fühle. Wie es mir geht und was ihre Erziehung mit mir gemacht hat - ihre fehlende Aufmerksamkeit wohl eher." Meine Hände zittern, weil mich die Wut durchfährt, als ich mit ihnen durch meine Haare fahre.
Frau Eichendorf notiert sich all meine Anliegen auf dem Papier ihres Blockes und schlägt dabei immer wieder ihre Beine übereinander.
"Sie sind so weit, Frau Großmann", sagt sie, als wir schließlich alle Punkte notiert und ausgearbeitet haben. Meine Therapeutin legt Block und Stift auf den kleinen Tisch neben sich und sieht mich mit funkelnden Augen an.
"Wie, was meinen Sie? Wie weit bin ich?", erkundige ich mich und fühle mich unglaublich dumm.
"Sie sind so weit, Ihre Fäden endlich durchzutrennen. Es scheint, als hätten Sie Ihre Schere gefunden."
Ich denke an sturmblaue Augen, irgendwie. Und ja, vielleicht habe ich sie tatsächlich gefunden.
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