28 - Blaulila
Vorsicht! Das Kapitel könnte an einigen Stellen triggern!
▷ Amber Run - Noah ◁
Die Tür zum Raucherraum öffnet sich quietschend und niemand geringeres als Noah betritt den Raum. Ich schlucke und springe sofort auf. Der Stuhl, auf dem ich gerade noch saß, schabt quietschend über den Boden. Noah und ich sehen uns die ganze Zeit über an. Ich komme mir vor wie ein scheues Reh, das auf die Straße gesprungen ist und nun dem dort fahrenden Fahrzeug ausgeliefert ist. Wie von dem Aufprall mit dem Fahrzeug bekomme ich auch von Noahs Launen ein Schleudertrauma. Zumal ich dieses Mal dachte, wir wären ungefähr fünfzig Stufen den steilen Berg hinaufgeklettert. Und dabei waren wir noch nicht mal am Fuße des Berges, wie mir scheint. Ich verstehe nicht, warum er dem neuen Typen zugestimmt hat. Ich weiß nicht, warum er das sagen musste. Aber ich weiß, dass ich nicht will, dass er merkt, wie sehr es mich verletzt hat.
Noah steht in der Tür und ich komme nicht aus dem Raum.
"Lia", seine dunkle, raue Stimme legt sich sanft um mich, hüllt mich ein. Es füllt sich noch immer fremd an, meinen Namen aus seinem Mund zu hören. Und doch spricht er ihn so aus, als wäre er etwas Kostbares.
Wütend stoße ich meine Hände gegen seine Brust. Immer wieder. Ich bin wütend. Und verletzt. Und ich möchte einfach nur hier raus.
Er hält meine Hände mit seiner rechten Hand fest und drückt sie an seine Brust. Ich kann sein Herz unter ihnen schlagen hören. Schnell, kräftig, gesund.
"Das wegen vorhin tut mir leid. Ich ... es tut mir leid. Er hat mich so an meinen Vater erinnert und ich hatte Angst. Ich ..."
Plötzlich ist all die Wut abgefallen, wie Staub, der weggepustet wird.
"An deinen Vater? Wirklich?"
Noah nickt und zündet sich eine Zigarette an. "Ich weiß, vermutlich glaubst du mir nicht. Aber er hatte auch so ein Auftreten wie der Mann vorhin. Es tut mir leid, Lia. Ich bin ein Arschloch."
Ich schürze die Lippen und lege den Kopf schief. Seine sturmblauen Augen sind wild, als würde der Sturm in ihnen toben. "Ein kleines vielleicht."
Er grinst schief und lässt meine Hände los. "Ich weiß. Ich bin dämlich. Aber diesen Typen zu sehen - oh my."
"Vielleicht solltest du die Gruppentherapie morgen nutzen, um zu sprechen?", schlage ich vorsichtig vor.
Noah denkt nach und nickt schließlich. "Vielleicht hast du Recht."
Ich seufze und öffne die Tür. "Gute Nacht, Noah."
"Gute Nacht, Dalí."
Die Schuhe der anderen kommen in mein Blickfeld und verschwinden wieder, als sie sich ihre Plätze suchen. Ich bin nervös, weil Noah heute sprechen möchte. Und ich mache mir Sorgen, dass er sich übernimmt. Allerdings bin ich mir auch sicher, dass er seine Grenzen sehr gut selbst einschätzen kann.
"Hey", sein leises Flüstern schreckt mich aus meinen Gedanken und ich beobachte ihn dabei, wie er sich neben mich auf den freien Stuhl fallen lässt. Wir sitzen genau gegenüber von seinem Gemälde und ich kann irgendwie nicht so ganz erklären, warum es mich so freut, dass er sich heute neben mich gesetzt hat.
"Hey", antworte ich ihm ebenso leise und versuche mich an einem Lächeln, das er kurz erwidert.
Nervös zupft er an seinen Klamotten herum und knabbert schließlich an seinen Nägeln. Ich rolle mit den Augen.
"Noah, lass' das."
Er schiebt schmollend die Unterlippe vor, doch ich schüttle nur den Kopf.
"Das funktioniert nicht. Such eine andere Möglichkeit, deine Nervosität loszuwerden."
Kurz darauf wackelt er mit den Beinen, so sehr, dass auch der Boden unter ihm wackelt. Auch das macht mich nervös, aber ich lasse ihn in Ruhe. Denn kurz darauf betreten unsere beiden Therapeuten den Raum.
"Guten Tag miteinander." Frau Mechter sieht mit ihren wachen Augen in die Runde. Herr Dr. Vitas nickt und wirft einen Blick auf seinen Block.
Warum zur Hölle braucht hier jeder einen Block?
"Möchte heute jemand sprechen?" Frau Mechter lehnt sich in ihrem Stuhl nach vorne.
Schweigen legt sich über uns, wie immer. Wie immer möchte jeder den anderen den Vortritt geben. Manche, weil sie den anderen den Raum nicht wegnehmen möchten und sich selbst nicht so wichtig finden, andere, weil sie sich lieber hinter ihrer Mauer aus Freude verstecken und so tun, als wären sie gesund.
Noah neben mir räuspert sich leise. "Ich würde gerne, wenn ich darf. Also, wenn jemand anderes will, dann ..."
"Nein, Noah, es ist gut, wenn du sprichst." Anett lehnt sich nun auch nach vorne und sieht ihn abwartend an. In ihrem Blick liegt aber keine Wertung.
Er wirft mir einen kurzen Blick zu und ich nicke ihm aufmunternd zu. "Du schaffst das", flüstere ich.
Noah streckt den Rücken durch und wirkt dadurch noch größer. Ich höre, wie er tief Luft holt und kann seine Anspannung fast mit meinen bloßen Händen greifen. Aber obwohl er so greifbar nervös ist, stehen seine Füße inzwischen still. Er schließt die Augen und holt erneut Luft. Noah reibt seine Fingerspitzen aneinander und diese kleine Geste weckt in mir den eigenartigen Wunsch, seine Hände zu halten und sie mit meinen zu verschränken.
"Hi, ich bin Noah und das Meer ist mein Zuhause. War es. Bis vor einigen Jahren.
Aufgewachsen bin ich eigentlich in St.-Peter-Ording, das ist eine Gemeinde in Schleswig-Holstein. Das liegt an der Nordsee. Ich habe es geliebt, am Meer zu sitzen und zu malen und Sandburgen zu bauen; zu rennen, zu laufen, einfach zu sein. Oder mit unserem Hund spazieren zu gehen. Oder mit meiner Mutter und meinem Vater. Doch irgendwann verlor mein Vater den Job in einem Unternehmen, das aufgrund von fallenden Absatzzahlen Mitarbeiter entlassen musste. Wir zogen nach Berlin, da es dort für ihn einen neuen Job gab und er sich von St.-Peter-Ording lösen wollte, weil ihn dort nichts mehr wirklich hielt. Mich hielt die Nordsee, aber meine Meinung zählte nicht. Und so zogen wir nach Kreuzberg. In das charmante, aber teilweise doch eher heruntergekommene Kreuzberg. Mein Vater war dort allerdings auch nicht glücklich. Der Job war anstrengend, die Kollegen waren mies, die Bezahlung ebenso. Die Berliner Menschen lagen ihm nicht. Er war mit gar nichts mehr glücklich oder zufrieden und stürzte sich - wie sollte es auch ander sein? - in den Alkohol, der ihn bereitwillig unter seinen Jüngern aufnahm.
Ihr wisst bestimmt: Es gibt Menschen, die werden durch den Alkohol anhänglich, süß, ein bisschen aufgedreht - und dann gibt es Menschen wie meinen Vater, der durch den Alkohol aggressiv wurde. Ich war sieben, als er das erste Mal die Hand gegen mich erhob. Er war nicht glücklich damit, wie ich meinen Bagger in die Kiste geräumt hatte. Er hat mich geohrfeigt. Und als er diese Grenze überschritten hatte, hatte er überhaupt keine Grenzen mehr. Irgendwann hat er nicht nur seine Hände und Füße genommen, er hat alles an mir ausprobiert, was er in die Finger bekommen konnte. Sein Lieblingsinstrument war allerdings der Gürtel. Ihn liebte Vater besonders, vor allem in Kombination mit seinen Füßen. Zu oft lag ich auf dem Boden, er trat auf mich ein und drehte mich schließlich auf den Rücken, schlug mich mit dem Gürtel. Mein Körper wurde von blaulilanen Flecken, Schrammen und größeren Wunden übersäht und es ist niemandem aufgefallen.
Nie hat irgendjemand irgendetwas gemerkt. Ich war immer nur der Sonderling, der, mit dem niemand sprach. An meinem ersten Abend der Filmtherapie, hier in der Klinik, haben wir einen Film über eine Familie gesehen, der Vater hat seine Kinder auch geschlagen. Um sie zu züchtigen und zu bestrafen. Genauso war mein Vater auch. Er hat nie aufgehört. Nie. Sogar als ich 18 war hat er weitergemacht und immer wieder neue Gründe gefunden - und neue Methoden. Aber die möchte ich euch ersparen. Ich habe allerdings nicht umsonst meine Tattoos. Mein Körper ist voller Narben. Und das möchte ich niemandem antun. Ich habe versucht, all dem zu entfliehen.
Und wie man das als Sohn eines Drogensüchtigen so macht, flüchtet man sich auch in die Drogen. Nur bei mir war nicht der Alkohol meine Droge, sondern das Kokain und das Marihuana. Ich verlor mich immer mehr in der gefährlichen Kombination, habe meinem Vater Geld gestohlen - was ihm wiederrum wieder einen erneuten Grund gab, mich zu schlagen und zu bestrafen. Die Drogen waren mein Zuhause. Meine Mutter verlor immer mehr an Halt und sie musste zusehen, wie ich ihr immer mehr entschwamm.
Irgendwann hat es ihm nicht mehr gereicht, mich zu verprügeln, er hat auch Mama geschlagen und geschubst. Ich war 21, als er auf sie eintrat, als sie am Boden lag und ich habe Rot gesehen. Ich habe ihn gegen die Wand geschubst, weg von meiner Mutter und all die Wut und Verzweiflung, die ich Dank ihm verspürt habe, an ihm ausgelassen. Mama hat geschrien und versucht, mich von ihm wegzuziehen, aber ich befand mich im Rausch. Im Blutrausch. Ich kniete über ihm und prügelte auf ihn ein, so fest ich konnte. Er hat irgendwann aufgehört, sich zu wehren, weil er ohnmächtig wurde. Ich habe ihn so hart verprügelt, dass er ohnmächtig wurde. Glaubt mir, ich fühle mich noch immer schuldig für das, was passiert ist. Denn das bin ich nicht. Ich schlage keine Menschen. Na gut, außer sie würden jemandem wehtun, der mir wichtig ist. Und ja, das war offensichtlich der Fall. Er lag ohnmächtig unter mir. Das habe ich aber nicht mitbekommen. Mamas Schreie ebbten ab und plötzlich kippte sie mir eiskaltes Wasser über den Kopf. Erst da wurde ich wieder wach und kam zu mir. Das Gesicht meines Vaters war voller Blut und weiß wie die Wand. Er bewegte sich nicht und Mamas schrille Schreie klirrten in meinen Ohren wie zersprungenes Glas."
Er schluckt hart und hörbar laut. Seine Stimme bricht, wie Porzellan, das auf den Boden fällt. Ich greife nach seiner eiskalten, zitternden Hand, die er dankbar drückt. Wieder räuspert er sich und fährt so nüchtern wir zuvor fort, nachdem er mir seine Hand wieder entzogen hat.
"Die Nachbarn im Haus haben die Polizei und einen Krankenwagen gerufen, die wenige Minuten später auch eintrafen. Ich wurde von den Polizisten mitgenommen, mit dem Blut meines Vaters an meinen Händen, und Mama blieb vollkommen allein in unserer schäbigen kleinen Wohnung. In der Wohnung, in der die Tapete bereits absplitterte und die Fenster einige Risse aufwiesen. Die Polizisten nahmen mich ins Kreuzverhör, behandelten mich wie einen Schwerverbrecher - der ich ja auch bin. Oder war. Ich weiß es nicht. Sie stellten jedoch ziemlich schnell fest, dass ich es getan habe, um meine Mutter zu schützen. Alles in allem haben die Aussagen meiner Mutter und mir dazu geführt, dass ich nicht ins Gefängnis musste wegen versuchten Totschlags. Ich wurde jedoch in eine geschlossene Psychiatrie gebracht und musste an einem Antiaggresionstraining teilnehmen. Von daher kann ich sagen, dass eure Gerüchte, ich wäre von der Forensik gekommen nicht ganz so falsch waren, auch wenn ich nur in eine geschlossene Psychiatrie gesteckt wurde." Ein klägliches Lächeln zupft an seinen Lippen und er wirkt in dem Moment so verletzlich, dass ich mich am liebsten vor ihn gestellt hätte, um ihn vor allem zu beschützen. Ich bewundere ihn für seinen Mut und seine Kraft, seine Geschichte zu erzählen. Wie stark er sein muss, um all das durchzustehen und jetzt hierzustehen und an sich zu arbeiten!
"Dort habe ich zu allererst einen Entzug von dem ganzen Drogenscheiß gemacht und wurde auch therapiert. Zwischenzeitlich habe ich erfahren, dass sich mein Vater umgebracht hat. Er hat sich einfach umgebracht, ohne, dass ich mit ihm sprechen konnte und ihm meine Meinung sagen konnte. Naja. Als die Therapeuten merkten, dass ich auf dem langsamen, steilen Weg der Besserung bin, haben sie mich hierhin geschickt. Und hier bin ich nun." Er wirft verloren die Hände in die Luft und lacht kurz laut auf. Es klingt nicht nach Lachen, eher wie ein Weinen.
Ich sehe ihn vorsichtig an, mustere sein Gesicht, fahre mit meinem Blick die Konturen nach und versuche, den Schmerz den er fühlen muss, zu sehen. Er wirft mir einen kurzen Blick zu und schlägt dann aber die Augen nieder. Seine Wimpern sind dicht und schwarz und eine kurze Sekunde lang beneide ich ihn um diese Wimpern. Er zittert so sehr, dass er sich an seinem Stuhl festkrallen muss.
"Danke für deine Ehrlichkeit", sage ich leise und würde mir am liebsten wieder seine Hand nehmen und sie halten; um ihn davor zu bewahren, von den Dämonen seiner Vergangenheit weggerissen zu werden.
"Herr Eisold, das war ein sehr, sehr großer Schritt. Sie können sehr stolz auf sich sein." Frau Mechter lächelt ihn an und nickt.
"Darf ich etwas fragen?" Anett beißt sich auf die Lippen.
Noah schreckt hoch und sieht sie mit einem fast ängstlichem Gesichtsausdruck an. Doch er nickt trotzdem.
"Wo ist deine Mama? Warum besucht sie dich nicht?"
Er schluckt. "Ich habe es ihr untersagt."
Erstaunt sehe ich ihn an. "Warum?", möchte ich wissen.
Der Mann mit den sturmblauen Augen schlägt die Augen nieder und macht sich klein. Als wäre er ein kleiner Junge.
"Sie hat einen besseren Sohn verdient als mich. Ich bin eine Enttäuschung", flüstert er und seine Stimme bricht.
Ich sehe jetzt, dass sich Tränen in den Augenwinkeln sammeln, die er wütend wegwischt.
"Noah, du darfst weinen. Du darfst es zulassen." Meine Stimme ist vorsichtig, sanft.
Doch er schüttelt nur den Kopf. "Ich muss stark sein."
"Du bist stark, Noah. Du bist so stark", erwidere ich und die anderen stimmen ein.
Noah zittert, als er sich mit seinen Händen über das Gesicht fährt und ich kann mich nicht mehr länger zurückhalten und greife erneut nach seiner Hand. Ich halte sie fest. Und vielleicht war das der Schlüssel zu einem Schloss in ihm, denn er lässt es zu. Er lässt den Schmerz zu. Die Wut. Die Trauer. Er fühlt. Und er klammert sich an meine Hand, als wäre sie der Anker, den er so dringend braucht.
Und ich weiß, auch wenn er in der Vergangenheit ein Vollidiot war, ich möchte gerade nirgendwo lieber sein als hier, bei ihm.
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