15 - Rostbraun
▷ Papa Roach - Last Resort◁
Das Geschehen auf dem Monitor nimmt mich aber immer wieder gefangen. Meine Gedanken springen immer wieder zu Noah und ich hoffe, dass er sich wirklich Hilfe gesucht hat, falls ihn der Film gänzlich getroffen hat. Und so wie er aufgesprungen ist, wie von der Tarantel gestochen, hat ihn der Film getroffen. Unruhig wackle ich mit meinen Beinen und kann es nicht länger aushalten. Auch ich springe jetzt auf und mache mich auf die Suche nach Noah.
Zuerst frage ich beim Medizinischen Dienst nach, ob er sich gemeldet hat. Hat er nicht. Meine Sorge wächst - und gleichzeitig möchte ich mich dafür schlagen, dass ich mir Sorgen um den Vollidioten mache. Aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Meine Schritte tragen mich, so schnell es geht, zum Raucherpavillon, zum Platz vor dem Speisesaal und zu seinem Zimmer. Aber laut Horst war er seit Stunden nicht anwesend. Mein Magen grummelt und ich gehe erneut zum Medizinischen Dienst.
"Ich finde ihn nicht und ich mache mir wirklich Sorgen um ihn."
"Frau Großmann, beruhigen Sie sich. Wir finden ihn." Frau Scherbenstett schließt die Tür hinter sich und eilt zum Arztzimmer des diensthabenden Arztes.
Weil ich nicht länger warten kann, gehe ich in den Keller, zum Raucherraum. Aber er ist leer. Also beschließe ich, noch einmal zum Raucherpavillon zu gehen. Die Tür öffnet sich schwer, als hätte jemand etwas davorgestellt. Etwas schabt über den Boden. Quietscht.
"Verpiss dich!" Eine erstickte Stimme fährt mir zwischen dem Spalt zwischen Tür und Türstock entgegen.
"Noah?", frage ich flüsternd, aus Angst, ihn zu verschrecken.
"Geh weg, Lia. Verpiss dich bitte einfach."
Aber ich habe mir noch nie etwas sagen lassen. Ich habe öfter gemacht was ich wollte. Also schiebe ich die Tür auf, drücke mich hinein und schließe sie wieder hinter mir. Als ich mich umdrehe, stockt mir der Atem. Noah sitzt am Tisch und sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen. Seine Augen sind gerötet, als hätte er geweint.
"Warum musst du mich jetzt nerven, Kugelfisch. Du siehst doch, dass ich meine Ruhe will, verdammt." Faucht er mich an.
Wenn er noch öfter fauchen würde, würde ich denken, er wäre eine Katze. Zwar keine nette, aber er wäre eine. Definitiv.
Ich krame in meiner Tasche nach einem Taschentuch und meinen Zigaretten. Von beiden Schachteln gebe ich ihm einen Gegenstand vom Inhalt und setze mich zu ihm auf die rostbraune Bank. Wir schweigen. Denn ich weiß, dass Noah nicht reden möchte. Er wirkt generell nicht wie jemand, der gerne über sich spricht. Natürlich spricht er gerne über andere - zum Beispiel mich - und macht sie blöd von der Seite an. Ich sehe seine starke Fassade. Aber gerade jetzt sehe ich auch das zittrige Innere. Mit fahrigen Händen fährt er sich über das Gesicht und zündet sich seine Zigarette an. Er seufzt und sieht mich kurz an. Schnell sehe ich wieder weg. Seinem Blick halte ich nie lange Stand, denn immer wieder habe ich das Gefühl, er betrachte mich abschätzig und das konnte ich die meiste Zeit nicht ertragen.
"Wenn du das hier irgendjemandem erzählst-"
"Werde ich nicht. Versprochen." Ich sehe ihn wieder an.
Noah sieht mir lange in die Augen. Als suche er nach einer Garantie, dass er sich auf mein Versprechen verlassen kann. Irgendwann hat er anscheinend gefunden was er sucht und schlägt die Augen nieder.
Es ist komisch, so neben ihm zu sitzen und mit ihm zu schweigen. Noah fährt sich über das Gesicht und weicht meinem Blick zuerst aus. Aber irgendwann merkt er, dass ich ihn anstarre und starrt zurück. Er schnaubt.
"Was?", frage ich und lege den Kopf schief. Die Glut der Zigarette in meiner Hand leuchtet rot in der schwarzen Dunkelheit.
Er räuspert sich und seine dunkle, raue Stimme wird vom Wind weggetragen. "Ich an deiner Stelle würde mich auslachen, weil das Arschloch von einer Szene im Film mitgenommen wird." Er spielt mit dem schwarzen Feuerzeug in seiner Hand.
"Ich bin mir sicher, du bist nicht durch und durch ein Arschloch."
"Was macht dich so sicher, Dalí?" Der blaue Rauch seiner Zigarette umspielt kurz unsere Köpfe, eher er von Dannen zieht.
"Ich weiß nicht. Ich sehe es. Irgendwie."
Wieder schnaubt er. "Genau das ist das Problem, Lia." Er wirft die Zigarette auf den Boden, drückt sie aus und steht auf. So ist er noch größer als ich und der Unterschied macht mich nervös. Seine Augen sind in der Dunkelheit fast nicht zu sehen. Er schüttelt den Kopf. "Halte dich einfach von mir fern. Ich bin einfach nicht ... nicht gut. Okay? Ich bin ein Arschloch. Und du ein Fettkloß."
"Ach, Noah", entgegne ich. Seine Worte prallen an mir ab. Wie Wasser auf Öl. Ich weiß, dass seine Beschimpfung ein kläglicher Versuch ist, mich zu verletzen und seine Schwäche zu verstecken.
Das ist das Problem bei mir. Egal, wie sehr mich jemand mit Füßen tritt, ich gebe diese Person nicht auf, wenn ich etwas in ihnen sehe, für das es sich zum kämpfen lohnt. Und Noah ist jemand, der sich hinter einer Mauer versteckt - ich kann nur erahnen, was ihm wiederfahren ist - und ich habe das Gefühl, dass er tief hinter der Mauer einen weichen Kern hat. Ich hoffe nur, ich täusche mich nicht.
Die Tür öffnet sich und Frau Scherbenstett entdeckt uns.
"Herr Eisold, da sind Sie ja. Frau Großmann hat Sie schon überall gesucht, aber wie mir scheint, hat sie Sie ja gefunden. Kommen Sie mit mir mit?" Sie hält ihm die Tür auf und wartet.
Er starrt mich noch einige Sekunden an und lässt mich dann allein in der Dunkelheit zurück. Meine Augenlider sind schwer und ich fühle, wie sich die Müdigkeit in meinen Knochen ausbreitet. Und ich möchte nach Leonie sehen, denn auch wenn sie sich Hilfe gesucht hat - ich mache mir Sorgen.
Sie sitzt auf dem Bett und tippt mit ihrem Kugelschreiber auf dem weißen Papier ihres Tagebuches herum. Als ich die Tür schließe, sieht sie auf. Ihre Augen sind rot und geschwollen, als hätte sie viel geweint.
"Hey", sage ich leise, weil ich Angst habe sie zu verschrecken.
"Hey", antwortet sie und ihre Stimme ist belegt und kratzig. Ich setze mich vorsichtig neben sie und sehe sie an.
"Wie fühlst du dich?", möchte ich wissen und streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Leonie zuckt nur mit den Schultern. "Weiß nicht. Ich hatte einen Flashback und ich war vollkommen weg. Es tut mir leid, wie ich zu dir war. Das war ... du ... ich ..." Ihre Stimme bricht.
"Leonie, bitte, du musst dich dafür nicht entschuldigen. In meinen Augen hast du nichts falsch gemacht. Kann ich was für dich tun?"
Sie schüttelt nur den Kopf. "Danke. Ich gehe jetzt schlafen. Mein Schlafmittel hilft und fängt gerade an zu wirken."
Ich helfe ihr, sich ins Bett zu kuscheln und mache das Licht auf ihrem Nachtkästchen aus. Verloren stehe ich im Zimmer und suche die Müdigkeit, die gerade eben noch in meinen Knochen wohnte. Aber sie ist wie weggeblasen. Wie immer. Ich bin hellwach und an Schlaf ist nicht zu denken. Deswegen werde ich noch eine rauchen gehen. Unten im Raucherzimmer. Schnell suche ich meinen ganzen Kram zusammen und hänge mir meine Tasche um. Sie ist mir ein ständiger Begleiter. Darin enthalten - natürlich - Zigaretten, Taschentücher und mein Tagebuch mit Kugelschreiber. Die Ohrstöpsel für die Musik stopfe ich mir sofort in die Ohren, ich möchte heute keine anderen Geräusche mehr hören als die Musik auf meinem Handy. Angestrengt versuche ich, leise die Treppen in den Keller zu gehen. Natürlich hört man das Knarzen bis in den obersten Stock. Ich rolle genervt mit den Augen und bin froh, als ich endlich den Kellerboden unter den Füßen spüre. Erleichtert seufze ich auf und mache endlich die Musik an. Langsam öffne ich die schwere Tür zum Raucherzimmer und halte gespannt die Luft an. Hoffentlich ist niemand drin. Als ich sehe, dass der Raum leer ist, atme ich erneut erleichtert auf und setze mich an den silbernen Tisch. Die laute Musik in meinen Ohren füllt meinen Kopf, frisst sich durch meine Adern und lässt mich von innen heraus beben. Das aggressive Schlagzeug lässt mich die Wut in mir spüren und ich kritzle jetzt die Seiten meines Tagebuches voll. Meine Gedanken tanzen wirr in meinem Kopf umher und machen mich ganz kirre. Ich bekomme nicht wirklich mit, wie die Tür geöffnet wird und jemand hereinkommt. Nur kurz sehe ich auf und starre in sturmblaue Augen. Gerade noch kann ich verhindern, dass ich mit den Augen rolle. Typisch. Ausgerechnet er. Aber gut, vielleicht ist er wirklich meine Aufgabe. Meine Aufgabe, nicht auszuflippen.
Er sagt nichts, sieht mich nur an und anschließend auf mein aufgeschlagenes Tagebuch. Ich bete, dass er nicht kopfüber lesen kann. Aber ich bezweifle, dass er es lesen kann, so wie ich gekritzelt habe. Er zündet sich seine Zigarette an und ich konzentriere mich wieder auf mein Tagebuch. Noah lehnt sich in seinem Stuhl zurück und lehnt seinen Kopf an die Wand. Als würde er zu schwer sein von all seinen Gedanken. Irgendwann ist mir die Musik zu viel, zu laut, zu sehr Musik und ich löse die Ohrstöpsel aus meinen Ohren. In meinen Ohren summt es ob der plötzlichen Stille. Noah sieht mich kurz an und schließt dann wieder die Augen. Es vergeht eine Stunde und wir sitzen nur in Schweigen gehüllt in diesem Raum, der sich immer mehr und mehr mit Rauch füllt. Ich stehe auf und öffne das Fenster. Inzwischen weiß ich nicht mehr, womit ich mein Tagebuch noch füllen soll und schließe es. Dennoch traue ich mich nicht, aufzusehen. Ich ertrage es nicht, den Ekel in Noahs Augen zu sehen. Es raschelt, als er seine Hand in seine Jackentasche steckt, aber ich sehe nicht, was er tut. Ich starre gebannt auf den leicht fleckigen Boden unter meinen Füßen. Vermutlich holt er einfach noch eine weitere Zigarette aus der Packung. Der Stuhl quietscht, als er ihn zurückschiebt. Ich wage es nicht, wo anders hinzugucken als auf den Boden.
Die Tür fällt ins Schloss und ich traue mich endlich, aufzusehen. Und kurz stockt mir der Atem.
Auf meinem Tagebuch liegt ein kleiner Schokoriegel.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro