14 - Senfgelb
▷Seafret - Be There◁
Ich sitze vor dem Pavillon und fühle mich verloren. Das Gespräch mit Noah, sofern es denn ein Gespräch war, wühlt mich auf. Es wirkte fast so, als hätte er eine andere Persönlichkeit in seinem Körper. Zumindest fällt es mir sehr schwer, den üblichen Noah mit dem jetzigen in Verbindung zu bringen. Ich frage mich, ob er Angst hat, Angst, dass jemand hinter seine Fassade blickt. Vielleicht schubst er deswegen andere Menschen ständig von sich. Und immer mehr manifestiert sich der Gedanke in meinem Kopf, dass Noahs Verhalten nur Show ist. Wobei ich denke, dass die Abscheu, die er mir gegenüber verspürt, keine Show ist. Und ich kann es ja auch verstehen. Mich kann man nicht einfach so mögen. Jemanden wie Leonie mag man. Aber mich sieht man und hasst man sofort. Der Wind fährt durch meine Haare und gefühlt auch durch meine Knochen. Heute ist wieder ein kalter Tag. Der ständige Wetterumschwung macht mich ganz verrückt. Vielleicht war Noah auch deswegen so nett zu mir. Das liegt bestimmt am Wetter. Genau so wird es sein.
"Hier bist du." Aarons Stimme reißt mich aus dem Sog meiner Gedanken.
Ich rühre mit dem Löffel in meiner Kaffeetasse und zünde mir eine neue Zigarette an. Heute ist Mittwoch, was bedeutet, dass wir den Vormittag frei haben. Heute Nachmittag bin ich wieder bei der Musiktherapie. Ich bin schon gespannt. Beim letzten Mal waren alle Instrumente in der Mitte des Raumes aufgebaut und es ging eine Gruppe von Patienten zu ihnen, sie suchten sich jeweils ein Instrument und spielten. Und alles daran ist so spontan und kunterbunt zusammengewürfelt, dass es richtig Spaß gemacht hat, sich das anzuhören. Aber ob ich da mitmachen würde - ich weiß es nicht. Jedoch kann ich eigentlich sagen, dass mir die Therapien hier einiges bringen. Auch wenn die Einzeltherapie am härtesten ist. Frau Eichendorf hat das Talent, genau dort zu bohren, wo es wehtut. So richtig wehtut.
"Lia?" Aaron setzt sich zu mir auf die Bank. So nah, dass es mir zu nah ist und ich ein Stück wegrutsche. Ich mag es nicht, wenn Menschen mir auf die Pelle rücken. Egal, ob ich sie kenne oder nicht.
"Sorry, ich war in Gedanken." Meine Finger fahren immer wieder über den Rand der Kaffeetasse und ich starre in die braune Plörre. So wirklich wach macht er mich ja jetzt nicht, der liebe Kaffee.
"Hab ich gemerkt", äußert er sich und streckt sich. Seine Hand mit der Zigarette kommt meinem Gesicht dabei gefährlich nahe und ich kann gerade noch ausweichen. Er bekommt davon nichts mit, denn er hat seine Augen geschlossen. "Hat Noah mal wieder was zu dir gesagt?" Wütend schüttelt er den Kopf und fügt hinzu: "Ich fass es einfach nicht. Warum kann er dich nicht einfach mal in Ruhe lassen? Der hat echt einen Schatten, das sag' ich dir. Vielleicht war er echt vorher in der Forensik und wurde verlegt? Er sieht schon total wild aus mit seinen Tattoos und seinem Piercing. Ich bin ja froh, dass ich mir mit ihm kein Zimmer teilen muss. Stell dir vor, da muss man ja Angst haben, dass er einen im Schlaf ersticht." Aaron sieht mich an und grinst. "Ich wunder mich echt, was so ein Freak hier macht. Den will doch niemand hier."
"Aaron", sage ich nur leise und starre auf die Person, die hinter ihm steht. Genau so, dass Aaron sie nicht sehen kann. Aaron dreht sich um und springt auf.
"Danke für deine ehrliche Meinung." Noahs Stimme ist ruhig und verrät keinerlei Gefühle seinerseits.
Ich schlucke. "Noah, er hat das nicht so gemeint."
"Halt dein Maul, Fettklops. Du bist doch die erste, die sich das Maul über mich zerreißt", fährt er mich an.
"Leck mich, Noah. Lass den Scheiß einfach und verhalte dich endlich wie ein Erwachsener. Urteile nicht über Menschen die du nicht kennst - vor allem: Urteile nicht über ihr Äußeres."
Noah macht Würgegeräusche und lacht. "Sieh dich doch mal an, Kugelfisch. Hier sind überall schöne Frauen. Du bist keine von ihnen."
Seine Aussage trifft mich hart. Er trifft einen wunden Punkt und das weiß er. Er weiß, dass ich mich nicht schön finde - weil ich es ja auch nicht bin. Hart schlucke ich und drehe mich weg.
"Warum tust du nicht allen den Gefallen und ertränkst dich?"
Wut durchfährt mich und frisst sich durch meine Blutbahnen. Es reicht.
"Das habe ich schon, aber Fett schwimmt ja bekanntlich oben, du Hohlbirne." Ich schreie inzwischen und stehe direkt vor ihm. Bei jedem einzelnen Wort stupse ich meinen Zeigefinger in seine harte Brust. Immer auf die selbe Stelle. Weil das wehtut, hab ich gelernt. Er ist nur leider so groß, dass ich meinen Kopf in den Nacken legen muss. Als wäre ich David und er Goliath. Als würde ich gegen einen immer wieder aufstehenden Gegner kämpfen. Warum, verdammt, ist es mit Noah ständig so, als würden wir zwei Schritte vor und hunderte zurück. Ich verstehe es nicht. Es macht mich so unglaublich aggressiv.
"Lia, komm. Das ist er nicht wert." Aaron zerrt an meinem Arm.
Wütend fahre ich ihn an. "Und du, du bist auch nicht besser. Verurteilst ihn, weil er Tattoos und Piercings hat. Das allein sagt noch überhaupt nichts über den Charakter eines Menschen aus. Hört endlich auf, Menschen ständig zu verurteilen und lernt sie doch erstmal kennen, bevor ihr euch das Maul über sie zerreisst."
Der Kaffee in meiner Tasse fliegt durch die Luft, als ich mit wütenden Schritten das Haus betrete, um so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Meine Schritte hallen von den senfgelben Wänden des Hauses, als ich die durch die Gänge schreite. Ich bin viel zu wütend und aggressiv. Und doch durchflutet mich eine Welle von Stolz. Denn ich habe mich behauptet, ich habe mich gewehrt und endlich meinen Mund aufgemacht.
Ich bin lange geduldig, schlucke vieles lange runter und bin lange still. Aber wenn es mir reicht, dann reicht es. Und dann explodiere ich - man sollte in solchen Fällen einen möglichst großen Abstand zwischen sich und mich bringen. Das möchte ich an dieser Stelle nur mal geraten haben.
Vor lauter Wut sehe ich nicht, wer vor mir läuft. Erst als es zu spät ist. Und so rausche ich mit voller Wucht gegen eine Person, die bei näherem Betrachten niemand geringeres ist als unser Chefarzt.
"Oh, verzeihen Sie bitte."
"Frau Großmann, das hier ist keine Rennstrecke. Haben Sie es so nötig, die Aufmerksamkeit des Chefarztes zu bekommen, dass Sie hier wie eine Furie durch die Gänge irren? Sehr bedauerlich, dass Sie das so nötig haben." Er zieht eine Augenbraue nach oben und mustert mich von oben bis unten. Mir wird schlecht und ich dränge mich an ihm vorbei.
So ein eingebildeter Widerling!
Ich haste in unser Zimmer und schnappe mir mein Tagebuch. Das Fenster steht noch immer offen und ich schließe es. Der Wind hat zugenommen und ich möchte nicht, dass irgendwelche losen Blätter in unserem Zimmer herumfliegen. Meinen Kugelschreiber hebe ich vom Boden auf und stecke ihn in meine Hosentasche. Den Vormittag werde ich mit Schreiben verbringen. Es ist wichtig, dass ich meine Gedanken ordne und sortiere. Gerade, wenn mir solch ein wilder Wirbelwind durch den Kopf fährt wie heute. Noahs Stimmungsschwankungen machen mich seekrank. Langsam weiß ich nicht mehr, ob das alles nur seine Art ist, sich Menschen vom Hals zu schaffen oder ob er einfach so ist. Langsam bin ich mit meinem Latein wirklich vollkommen am Ende. So ein Vollpfosten. Seufzend stopfe ich mir noch etwas zu trinken in meine Tasche und verlasse das Zimmer. Die Couch im Speisesaal ist leer und ich freue mich sehr, dass ich sie für mich alleine habe. Die Seiten füllen sich, während die Zeiger auf der Uhr immer schneller voranschreiten - und schon ist Mittagessen. Da ich die erste aus unserer Gruppe bin, decke ich den Tisch und setze mich dann wieder auf die Couch.
Die Musiktherapie macht mich neugierig. Aber gleichzeitig stelle ich es mir gruselig vor, vor all diesen Leuten zu stehen und zu spielen. Deswegen sitze ich auch heute wieder nur da und höre zu. Manche spielen in perfekter Harmonie - andere trommeln und klopfen einfach drauflos und suchen zusammen einen Rhythmus.
Den Nachmittag verbringe ich mit Lesen in unserem Bett. Inzwischen hat es draußen angefangen zu regnen. Dicke Regentropfen knallen gegen das Fenster und trüben die Sicht. Es klopft sachte an die Tür.
"Ja?", rufe ich und hoffe, es ist laut genug, damit mich die Person auf der anderen Seite hört.
Es ist Aaron. Schüchtern lächelt er und winkt. "Hey, Lia." Man sieht ihm an, dass er etwas auf dem Herzen hat. Aber Leonie möchte ihre Ruhe und ein Gespräch zwischen Tür und Angel würde hier nur stören. Also schlage ich mein Buch zu, werfe die Bettdecke zurück und gehe mit ihm vor die Tür.
"Was gibt's?", erkundige ich mich und lehne mich an die Wand. Abwartend sehe ich ihn an.
"Es tut mir leid wegen heute. Irgendwie ist alles so komisch, wenn Noah da ist. Aber du hast Recht-"
"Natürlich habe ich das", unterreche ich ihn und grinse.
Er erwidert mein Grinsen. "Klar hast du das. Aber er macht es einem einfach nicht leicht."
"Ich weiß. Wem sagst du das."
Aaron nickt und zupft sich überschüssige Nagelhaut vom Finger. "Magst du mit mir eine rauchen gehen?"
"Klar, ich hole nur kurz noch meine Jacke."
Ich habe gänzlich übersehen, wie die Zeit vergangen ist. Bald haben wir schon wieder Abendessenszeit. Und das, obwohl ich noch immer so voll bin vom Mittagessen. Aber gut. Andere haben vielleicht auch nicht zweimal Nachschlag geholt.
"Wie gefällt es dir hier so, Lia?" Aaron steckt sich eine Zigarette in den Mund und zündet sie an.
"Ganz gut, eigentlich. Ich finde die Therapien wirklich sehr gelungen und interessant. Allerdings weiß ich noch nicht, ob ich so warm werde mit der Musiktherapie. Ich möchte mich nicht da vorne hinstellen und wie verrückt auf irgendeinem Instrument herumklopfen.
Aaron lacht. "Ja, ich verstehe das. Deswegen bin ich da ausgetreten."
"Man kann aus Therapien austreten?"
"Ja", entgegnet er und nickt, "aber nur in Absprache mit dem Therapeuten.
Die Tür zum Speisesaal wird geöffnt. "Aaron, wir müssen den Tisch decken. Kommst du dann?"
"Bin gleich da", antwortet er der Blondine. Er drückt die Zigarette aus und winkt mir noch einmal kurz zum Abschied.
Nach dem Abendessen gehe ich mit Leonie rauchen. Wir stellen uns zu Aaron und Timo. Die drei unterhalten sich und ich scanne die Umgebung nach sturmblauen Augen ab. Aber sie sind nirgendwo zu sehen. Leise atme ich erleichtert auf und entspanne mich ein bisschen.
"Hat jemand noch Lust auf ein Brettspiel?", wirft ein älterer Mann in die Runde.
Es melden sich einige Freiwillige und mein Herz ist schwer. Zu gern würde ich zusagen, aber ich weiß nicht, ob ich erwünscht bin.
"Was ist mit dir - hast du Lust?" Der ältere Mann steht nun direkt vor mir. Es könnte also sein, dass er mich meint.
"Oh, ich habe noch Filmtherapie nachher. Aber ich würde gerne mitspielen, wenn ich darf."
"Die Filmtherapie ist erst um sieben. Du hast also noch eineinhalb Stunden Zeit. Das reicht." Der Mann nickt und wir folgen ihm in den Speisesaal.
Gerade bin ich dabei, Georg - so heißt der ältere Mann - sein gesamtes Geld abzuluchsen, als die ausgelassene Stimmung plötzlich etwas weniger ausgelassen wird. Ohne aufzusehen weiß ich, wer am Tisch steht. Es ist Noah. Er sieht müde aus, abgeschlagen. Die übliche Spur Wut ist aus seinen Augen verschwunden.
"Möchtest du mitspielen, Noah?" Georg zeigt auf einen freien Stuhl in der Runde. Doch Noah schüttelt nur den Kopf. Er setzt sich dennoch hin und sieht zu. Unter seinem Blick fühle ich mich minderwertig und schon ist das Spiel für mich gelaufen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr.
"Ich muss zur Filmtherapie. Danke für das Spiel." Ich schiebe den Stuh zurück.
"Oh, ich muss da auch hin", merkt Noah an und folgt mir. Es macht mich wahnsinnig, wie er mir hinterherläuft und ich jeden seiner Schritte höre. Ich höre sie, aber ich kann ihnen nicht ausweichen. So gern ich das auch täte. Am liebsten würde ich ihm davonlaufen. Aber durch seine langen Beine würde er mich immer und immer wieder einholen.
Im Raum der Filmtherapie setzt er sich mir gegenüber, macht seine Beine breit - genau so, dass niemand sonst neben ihm Platz hat.
Herr Meyer, der Filmtherapietherapeut, erklärt für die neuen nochmals den Ablauf.
"Wir sehen uns zuerst einen Film gemeinsam an. Und am Ende sprechen wir darüber. Einige Filme sind extrem triggernd. Bitte seien Sie so gut und passen auf sich auf. Heute sehen wir 'Das weiße Band'. Bitte seien Sie vorsichtig. Und wenn Sie merken, es geht nicht, dann verlassen Sie bitte das Zimmer und melden sich kurz bei der Krankenschwester."
Mit gebannten Augen verfolge ich das Geschehen auf dem Monitor und schlucke, als der Vater seine Kinder anschreit. Ich habe große Angst, da ich ahne, dass seine Gewalt nicht nur verbaler Natur ist. Einige von uns sind bereits gegangen. Mein Blick schwebt über die noch dagebliebenen und bleibt an Noah hängen. Er wirkt unruhig. Er knetet seine Hände und sitzt kerzengerade auf seinem Stuhl. Sein Gesicht ist weiß wie die Wand hinter ihm. Gerade als ich etwas sagen wollte, springt er auf und verlässt das Zimmer fluchtartig. Und mir wird schlecht. Die Gefühle in seinem Gesicht sprachen Bände. Mein Herz springt mir fast aus der Brust, als mir bewusst wird, dass Noah fällt. Und gerade in diesem Moment ist niemand da der ihn auffängt.
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