13 - Kornblumenblau
▷ Billie Eilish - bellyache◁
Mein Wecker schreckt mich aus meinem Tiefschlaf und ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, um ihn auszustellen. Leonie schlägt sich grummelnd die Decke über den Kopf und dreht sich zur Wand. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, der Grund für ihre schlechte Laune zu sein. Langsam setze ich mich auf, streiche mir meine wilde Haarpracht aus dem Gesicht und blinzle in das helle Sonnenlicht. Auch wenn die Vorhänge zugezogen sind, die hellen Strahlen der Sonne sind dennoch durch den dunklen Stoff zu sehen und blenden meine müden Augen. Ich habe die Nacht mehr im Raucherraum als im Bett verbracht. Allein. Zum Glück. Noah hätte ich nicht ertragen - und auch sonst niemanden. Die Seiten meines Tagebuches sind verknittert und vollgeschrieben mit Wut, Hass und Schmerz. Die schweren Wörter drücken die Seiten zusammen und lassen das Tagebuch gefühlte fünf Kilo wiegen. Ich habe es kaum die Treppen hochbekommen, so schwer hat es sich angefühlt. Die kornblumenblaue Tinte des Kugelschreibers ist kaum angetrocknet, da hätte ich am liebsten mit meinen blanken Händen darüber gewischt und sie unleserlich gemacht.
"Lia, alles gut?" Leonies verschlafene Stimme holt mich aus meinen Gedanken zurück in die wirkliche Welt.
Ich sehe sie an und finde mich noch immer nicht zurecht. Deswegen nicke ich nur.
"Ich gehe ins Bad, ja? Magst du das Fenster öffnen?" Leonie tapst durch das Zimmer und sieht mich abwartend an.
"Klar", antworte ich. Meine Stimme klingt so, als wäre ein Reibeisen darüber gefahren. Scharf, kantig.
Meine müden Knochen rebellieren, als ich zum Fenster gehe, den Vorhang zur Seite schiebe und es öffne. Die frische Morgenluft umspielt mein Gesicht, als ich es der Sonne entgegenhalte und ich schließe die Augen. Die Vögel zwitschern und unterhalten sich, als hätten sie tausend spannende Geschichten zu erzählen.
Morgen ist der erste Tag an dem ich an der Gruppentherapie teilnehmen werde. Mein Bauch kribbelt vor Nervosität, wenn ich nur daran denke. Die Einzelgespräche sind schon so schlimm - aber bei der Gruppentherapie sitze ich vielen anderen gegenüber und ich weiß noch nicht einmal, wer alles in meiner Gruppe sein wird. Ich schließe die Augen und versuche, den Gedanken an ihn zu verdrängen. Doch ich kenne mein Glück. Ich bin mir sicher, dass Noah auch in meiner Gruppe sein wird. Und dann wird die Welt untergehen. Aber zur Not kann ich mit Sicherheit wechseln. Alles andere würde mich in den bloßen Wahnsinn treiben. Ich schließe die Augen und genieße die Sonne, deren Licht sanft über mein Gesicht streicht. Eine weitere Sache, die ich nicht mehr hätte, wenn ich nicht mehr leben würde.
Ich drehe mich um und betrachte unser Zimmer. Die Wände sind weiß, an ihnen dürfen wir nichts befestigen. Die Klebestreifen können die Wand ruinieren, oder so. Aber an unseren Pinnwänden befinden sich einige Blätter. An Leonies Pinnwand ist es bereits kunterbunt. Doch auch ich habe bereits einiges an meiner Pinnwand angebracht. Vorrangig sind es Bilder aus der Maltherapie, zumindest die, die nicht zu düster sind und bei denen keine Gefahr besteht, dass ich Leonie triggern könnte - oder mich. Schlurfend trete ich an mein Bett und schüttle energisch die Bettdecke auf. Der Staub, der dadurch aufgewirbelt wird, kitzelt mich so sehr in der Nase, dass ich niesen muss. Und während andere still und leise niesen können - elegant und niedlich - niese ich wie ein sterbender T-Rex. Ich habe schon sehr oft versucht, leise zu niesen. Aber ich bin leider keine Zauberelfe. Genau in dem Moment in dem ich niese, wird die Tür geöffnet und Leonie starrt mich an. Der Flur in dem Haus erzeugt ein gutes Echo und so ist es mein Niesen, das von den Wänden wiedergegeben wird. Meine Mitbewohnerin versucht angestrengt, nicht in Lachen auszubrechen und beißt sich auf die Lippen. Als ich aber prustend in Lachen ausbreche, kann auch sie nicht mehr an sich halten.
"Dein Niesen ist ja mega! Damit verscheuchst du die wilden Tiere beim Campen bestimmt!" Sie legt sich eine Hand auf den Bauch und hält sich mit der anderen am Regal fest.
"Pff. Du bist doch nur neidisch", entgegne ich, weil mir nichts anderes einfällt und schlage die Hände vor mein Gesicht. Ich könnte wetten, dass ich inzwischen beinahe so rot leuchte wie eine Tomate. Aber in meinem Bauch sammelt sich ein leises Brummeln, wie ein Schwarm Bienen und ich weiß plötzlich, was ich fühle. Freude. Etwas, das ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Leonie ist ein Mensch, der es immer schafft, mich zum Lachen zu bringen - egal wie dunkel es in meinem Kopf auch ist. Und genau solche Menschen sollte man festhalten und nicht mehr aus seinem Leben lassen.
"Genau. Ich bin neidisch, weil ich mit meinem Niesen keine Tiere verscheuchen kann. Das ist ein Talent, Lia. Das muss man ausbauen", kichert sie, "Ich bin jetzt fertig im Bad. Du bist dran." Ihr Grinsen lässt es nicht zu, dass ich empfindlich reagiere, weil ich weiß, dass sie es nicht böse meint.
Ich sammle meine Sachen zusammen und betrete das Badezimmer. Der Wasserdampf hängt noch in der Luft und der Spiegel ist sogar noch beschlagen. Scheinbar funktioniert die Lüftung in diesem fensterlosen Raum nicht besonders gut. Ich zucke nur mit den Schultern und putze mir die Zähne. Das warme Wasser der Dusche weckt zumindest etwas meine müden Lebensgeister und ich fühle mich schon ein wenig mehr wie ein Mensch, als ich wieder in unser Zimmer komme. Leonie sitzt auf ihrem Bett und kritzelt in ihr Tagebuch. Ich stupse sie sachte an.
"Mh?" Sie sieht nicht mal auf, als ich sie anstupse.
"Leonie? Hast du Hunger? Gehen wir frühstücken?"
Sie schüttelt den Kopf und starrt in ihr Tagebuch. Ihre Lippen sind fest zusammengepresst und den Stift in ihrer Hand hält sie so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Der offensichtliche Stimmungsumschwung verwirrt mich.
"Was ist los, was hast du?", erkundige ich mich und setze mich neben sie.
Wieder schüttelt sie nur ihren Kopf und starrt auf das Blatt Papier. Weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll, lege ich meine Hand auf den Arm. Doch sie zuckt so zurück, als hätte ich sie geschlagen.
"Lass mich in Ruhe, verdammte Scheiße", faucht sie, springt auf und pfeffert ihr Tagebuch in die Ecke. Ihre Atmung ist schnell und unkontrolliert.
"Leonie, soll ich jemanden holen?" Ich bin vollkommen überfordert, weil ich nicht weiß, was ich machen soll. Ich habe sie noch nie so erlebt und ihr Stimmungsumschwung innerhalb der letzten halben Stunde macht mir Sorge.
Zum erneuten Mal schüttelt sie den Kopf und atmet tief ein. "Ich gehe selbst."
Ich nicke. "Gut, ich komme mit", äußere ich, um sicherzugehen, dass sie wirklich Hilfe sucht.
"Ich brauche keinen Babysitter", faucht sie. Ihre Augen sind gerötet, als hätte sie geweint und ich wünschte, ich könnte sie in den Arm nehmen. Aber sie hat ja gezeigt, wie sie gerade im Moment zur Körpernähe steht.
Deswegen schnappe ich mir meine Tasche und öffne die Tür. Sie schießt an mir vorbei wie Flash und ich kann kaum Schritt halten. Vor der Tür des Medizinischen Dienstes bleibt sie stehen und schließt die Augen.
"Tut mir leid, Lia", flüstert sie und fährt sich über ihr Gesicht. Ihre roten Haare stehen ihr ein kleines bisschen zu Berge.
"Es ist alles gut, Leonie. Ich verstehe das."
Sie klopft und ich warte so lange, bis die Krankenschwester sie hereinbittet. Mir ist der Appetit vergangen und ich beschließe, mir nur einen Kaffee zu holen. Ich stoße die Flügeltür zum Speisesaal auf und fühle mich beobachtet, als ich auf den Tisch meiner Gruppe zu laufe.
"Guten Morgen, Leute", werfe ich leise in die Runde und sehe kurz auf.
"Hi, Lia." Aaron schiebt mir die Kaffeekanne rüber und grinst. Er selbst hat sich bereits eine Tasse eingeschenkt und dreht sich eine Zigarette.
Der Kaffee dampft in der weißen Tasse und ich mische etwas Milch dazu. Ich habe mir abgewöhnt, Zucker in den Kaffee zu mischen. Aber die Milch brauche ich nach wie vor. Schwarz ist er mir einfach zu bitter. Aaron dagegen kann ihn nur schwarz trinken.
"Wollen wir?", fragt dieser und nickt in Richtung Ausgang.
Der Stuhl schabt über den Boden, als ich ihn nach hinten schiebe und aufstehe. Beinahe wäre ich gestolpert und hätte jemandem aus meiner Gruppe den brühend heißen Kaffee über den Kopf gegossen. Das wäre eine Freude gewesen. Nicht.
Vor der Tür stehen bereits andere die rauchen, Kaffee trinken und sich unterhalten. Noah steht bei der Gruppe Jungs, bei der er immer steht und starrt in seine Tasse. Als hätte er meinen Blick gespürt, sieht er auf. Gerade war sein Blick noch leer und neutral - kaum hat er aber mich gesehen, werden sie dunkel und ich könnte schwören, dass mich eine Welle Hass überrollt. Ich seufze und sehe weg. Es ist windig und meine Haare wirbeln wie verrückt durch die Luft.
Aaron unterhält sich mit Timo über Fußball und irgendwelche Spieler. Mir ist langweilig, weswegen ich mich langsam von der Fußballgruppe entferne. Ich laufe in Richtung Raucherpavillon und stelle mich zu einer kleiner Gruppe von Tischen, die von einem Haselnussstrauch versteckt werden. Ich höre Schritte und drehe mich um, da ich Aaron erwarte. Aber es ist Noah. Der Wind fährt durch seine Haare, zerrt an ihnen. Seine Hände sind in die Hosentaschen vergraben und seine Schultern hochgezogen. Er sieht verletzlich aus. Aber auch gleichzeitig wild, wie der Wind mit seinen Haaren und Klamotten spielt und sein Piercing, das das wechselnde Licht widerspiegelt. Seine Augen passen perfekt zu diesem Wetter. Wir stehen nur wenige Meter auseinander und starren uns an. Niemand von uns sagt etwas. Ich habe Angst davor, dass er den Mund aufmacht und mich mit einem seiner üblichen Sprüche bewirft. Noah wirkt so, als würde er nachdenken. Als würde er sich den nächsten blöden Spruch überlegen, mit dem er mich verletzen kann. Ich ziehe an meiner Zigarette und blase den Rauch in den Wind, der ihn davonträgt und ihn irgendwo wieder freilässt.
Die Spannung ist für mich unerträglich, weswegen ich es nicht länger aushalte.
"Komm schon, Noah. Sag deinen täglichen Guten-Morgen-Lia-Spruch und lass mich dann in Ruhe für heute."
Noah schluckt. In der ganzen Zeit löst er den Blick nicht von mir. Und ich bekomme Gänsehaut. Sein Blick ist so intensiv, als würde er versuchen, etwas in meinen Augen zu lesen. Als würde er dort irgendwas suchen. Er runzelt die Stirn.
"Was? Noah, sag schon. Du bist doch sonst nicht so auf den Mund gefallen."
Er seufzt und zieht die Schultern noch höher. "Wie kann es sein, dass ich - obwohl ich dir gegenüber so ein Arschloch bin - in deinen Augen keinerlei Hass oder Abneigung erkennen kann, Dalí? Die Augen anderer würden schon längst sprühen vor lauter Hass."
Schwere legt sich auf meine Brust, Schwere die ich nicht beschreiben kann. Es wirkt, als wäre Noah es nicht gewohnt, dass jemand ihn nicht von sich stößt. Es ist das erste Mal, dass er normal mit mir spricht. Ohne eine Spur Hohn oder Abscheu.
Ich zucke mit den Schultern und trinke einen Schluck von meinem Kaffee. "Jetzt hör auf, mich ständig 'Dalí' zu nennen! Und um deine Frage zu beantworten: Ich bin nicht wie andere, Noah. "
Er lacht kurz auf und das ist Zeichen genug für mich. Ich muss hier weg.
"Schon gut. Ich gehe."
Noah steht so, dass ich mich an ihm vorbeischieben müsste, würde er nicht zur Seite gehen. Gott sei Dank hat er genug Anstand um auf die Seite zu treten. Gerade als ich ihn passiere, streckt er den Arm aus.
"Lia, warte, ich-"
"Noah, da bist du ja!" Eine mir nicht ganz unbekannte Stimme unterbricht ihn. Er sieht zur Quelle der Unterbrechung und ich nutze die Gunst der Stunde und verschwinde.
Was war denn das? Und kann es sein, dass er mich gerade das erste Mal mit meinem Namen angesprochen hat? Verwirrt drücke ich meine Zigarette im Aschenbecher aus und setze mich auf die Bank vor dem Pavillon. Ich bin ratlos ob dieses Gespräches und weiß absolut nicht, wohin mit meinen Gedanken oder Gefühlen. Als wäre ich jemand ganz Normales für ihn. Aber ich weiß, dass ich das niemals sein werde.
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