12 - Himbeerrot
▷ Melanie Martinez - Pity Party ◁
"Hatten Sie und Ihre Eltern schon immr solche Probleme, Frau Großmann?" Frau Eichendorf sitzt mir gegenüber und tippt wartend mit ihrem Kugelschreiber auf den Block. Die beschriebenen einzelnen Seiten davon werden dann in meine Akte gelegt und verstauben dort, bis sie weggeworfen werden. Mein trauriges Leben wird hier auf dünnem Papier vermerkt, dass man im Supermarkt für nicht einmal einen Euro erwerben kann. Es ist genauso wenig wert wie mein Leben.
Heute ist ein schlechter Tag. Die Reittherapie gestern war ein Reinfall, spätestens seit Noahs Kommentar. Ich bin mir bewusst, wie wenig ich wert bin. Wie unbedeutend ich bin. Wie wenig es auffallen würde, wenn ich nicht mehr da wäre. Ich brauche zu viel Platz. Ich nehme zu viel Platz weg. Ich wünschte, ich könnte verschwinden. Ins Nichts. Könnte zu Sternenstaub und unsichtbar werden. Die Dunkelheit wäre mein ständiger Begleiter, würde mich immer umringen. Mich einsperren und doch freilassen. Sie wäre meine beste Freundin. Daran würde sich also nichts ändern.
Amadeus ließ sich von uns nicht gerne striegeln. Vermutlich hat er die Anspannung zwischen Noah und mir gemerkt. Ich habe gestern den ganzen Tag nicht mehr gesprochen. Und es ist niemandem aufgefallen. Ich bin so unsichtbar, dass selbst meine Stimme ihren Klang verliert. Mein Dasein ist nicht erwünscht, in keinster Weise. Das wird mir immer wieder gezeigt. Ich bin unnötig.
"Frau Großmann?" Frau Eichendorf sieht mich abwartend an.
Ich bin inzwischen so angespannt, dass sich meine Hände wie von selbst zu Fäusten ballen und meine Knöchel weiß hervortreten. Wütend bohre ich mir die Fingernägel in die Handflächen und versuche, mich auf den Schmerz zu konzentrieren. Das Gedankenkarussell in meinem Kopf dreht sich in einem Tempo, dass ich ihm nicht mehr folgen kann und mir schwindelig wird.
"Mh", murmle ich und schließe die Augen. Hinter meinen Augen leuchten Farben auf. Verschiedene Nuancen von Rot, Blau und Grün. Als hätte sie mir jemand mit einem Pinsel auf die Lider gemalt.
Es wird nie besser, egal, was jeder sagt. Es wird einfach nie besser. Die Dunkelheit wird mich mein ganzes Leben lang begleiten. Ich werde immer die Unsichtbare sein, immer die Unbedeutende. Der Hass auf mich selbst frisst mich von innen heraus auf, verbrennt mich; lodert wie Feuer in mir. Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr die Wut schmerzt, die ich gegen mich selbst richte. Wie weh es tut, wenn man sich selbst auch nie genug ist. Ich habe Angst, dass es nicht besser wird und rede mir ein, dass es nie besser wird - denn so ist die Enttäuschung im Nachhinein nicht so groß.
"Was geht in Ihnen vor?", möchte die Therapeutin wissen und lehnt sich in ihrem Stuhl nach vorne.
Ich hole tief Luft. Ich habe keine Lust zu reden. Ich habe keine Lust auf irgendwas. Aber ich habe noch 45 Minuten und ich halte es nicht aus, darauf zu warten, bis die Wut mich weggeätzt hätte. Wobei - dann wäre ich weg. Und ich würde niemandem mehr den Platz wegnehmen.
"Ich bin wütend", gebe ich zu und drücke meine Hände noch mehr zusammen. Die Fingerspitzen kribbeln, meine Arme zittern leicht ob der Anspannung und Anstrengung.
"Warum sind Sie wütend?" Frau Eichendorf notiert sich etwas auf ihrem Block.
"Weil ich sinnlos bin."
"Was meinen Sie damit?", möchte sie wissen, die Augenbrauen zusammengezogen. Sie schlägt das Bein über das andere und lehnt sich zurück.
"Meine ganze Existenz ist sinnlos. Alles, das ich kann, ist, Platz wegzunehmen. Ich bin eine Platzverschwendung."
"Das sind Sie nicht, Frau Großmann. Warum denken Sie das? Woher kommt dieser Gedanke?"
"Weil ich nichts kann. Ich bekomme nichts gebacken. Ich bin nicht gut genug.Ich werde den Erwartungen nicht gerecht. "
"Ihren Erwartungen oder der Ihrer Familie?"
Ich schlucke und weiß nicht, was ich sagen soll.
"Beides. Ich bin es nicht wert zu leben. Und es kotzt mich an, dass man mir diese Entscheidung abgenommen hat."
"Ihre Familie hat Ihnen auch die Entscheidung abgenommen, sich frei zu entwickeln, wie ich Ihrem Anamnesebogen entnehmen kann."
"Scheiß auf diesen verfickten Anamnesebogen!" Wütend beiße ich auf meine Unterlippe. So lange, bis ich Blut schmecken kann.
Frau Eichendorf zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts ob meines Ausbruches. "Sie konnten sich nicht so entwickeln, wie Sie es sich gewünscht hätten. Die Stäbe des goldenen Käfigs haben sie verbrannt - Ihre Worte. Ihre Eltern hatten eine gewisse Vorstellung, wie Sie zu sein haben. Das hat Sie erdrückt. Und Sie sind ausgebrochen, in dem sie Ihren Körper verändert haben. Nur jetzt entsprechen Sie so gar nicht dem, was sich Ihre Eltern vorgestellt haben - und fühlen sich unter Druck gesetzt; werden es vermutlich auch. Aber Frau Großmann, Sie sind alt genug. Sie können die Freiheit nutzen, die Sie hier drin haben, und Ihre Talente und Leidenschaften entdecken. Und wie ich von Herrn Litzke erfahren habe, haben Sie ein gutes Auge für die Malerei. Das ist-"
"Hören Sie auf." Ich unterbreche sie. All die Gefühle, die ich seit meiner Ankunft in Bezug auf meine Eltern verdrängt habe, kommen wieder an die Oberfläche. All der Druck, die Enttäuschung, die Wut und die Erinnerungen an fliegende Tassen und schneidende Worte. All das ist mir zu viel. "Ich muss jetzt gehen", sage ich nur und stehe auf.
"Frau Großmann, bitte bleiben Sie hier. Es wäre nicht gut, wenn Sie jetzt gehen."
"Sie haben mir nichts zu sagen, verdammt. Niemand hat das. Und wenn ich mein Leben beenden will, dann tue ich das. Ich kotze im Strahl, wenn ich noch ein Wort über meine Eltern sprechen muss."
"Dann wechseln wir das Thema. Aber bitte bleiben Sie hier. Ich verstehe Ihre Wut-"
Wieder unterbreche ich. Rote Schlieren blitzen vor meinem Auge. "Sie verstehen gar nichts!"
Ich reiße die Tür auf, die gegen die Wand dahinter knallt und knalle sie wieder mit voller Wucht zu. Vor der Tür zum Essenssaal steht eine Gruppe Leute, die sich verwundert umdrehen. Doch ich bin zu aggressiv, voller Selbsthass, als dass ich sie großartig beachten könnte. Alles, was ich will, ist mich schneiden. Und gleichzeitig auch wieder nicht. Ich so wütend und kann das wütende, aggressive Biest in mir nicht zähmen. Deswegen gehe ich, so schnell ich kann - laufen ist für meine Gelenke nicht gesund - in Richtung Wald. Mein ganzer Körper steht derartig unter Strom, dass ich zittere. Als ich den Wald betrete, atme ich tief ein und versuche, mich mit der frischen, erdigen Waldluft zu beruhigen. Der Boden knirscht unter meinen Füßen und einzelne kleine Äste knacken, als ich auf sie trete. Ich laufe und bringe, so schnell ich kann, genügend Abstand zwischen mich und die Klinik. Die Vögel zwitschern und singen irgendwelche Lieder von fernen Ländern. Wäre mein Leben eine Leinwand, ich hätte sie in Schwarz getaucht und sie mit himbeerroten Spritzern versehen. Die Wut in mir brodelt und bringt mein Blut zum Kochen. Ich hasse mich. Ich hasse meine Eltern. Ich hasse diese Leben.
Mein Mund öffnet sich wie von selbst und ich schreie. Ich schreie so laut ich kann. Schreie mir die Seele aus dem Leib und stütze mich an einem Baum ab. Mein Blick wandert den Stamm entlang zu den Blättern. Sie sind trichterförmig, grün, gewellt und ihre Enden haben eine leichte Rundung. Ich lehne mich jetzt an den Stamm der Eiche und starre durch ihre Krone in den Himmel. Es fühlt sich an, als wäre ich die Treppen in der Klinik fünfmal hoch und runter gelaufen. Mein Herz schlägt mir in der Brust. Mir ist bewusst, dass mich jemand gehört hat. Aber ich habe bereits einige Leute hier im Wald schreien gehört. Okay, das klingt jetzt, als wäre ich Teil eines Horrorfilms. Aber mir wurde gesagt, dass es hilft, sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Und tatsächlich: Die eisernen Ketten um meine Brust haben sich etwas gelockert. Und es fühlt sich an, als wäre wenigstens ein kleiner Stein zu Boden gefallen.
Ein Knacken schreckt mich auf und ich halte mich still, in der Hoffnung, dass ich übersehen werde. Nur leider habe ich dumme Nuss den Weg nicht verlassen und stehe somit mitten auf dem Präsentierteller. Der Wind fährt durch die Blätter der Eiche und hinterlässt ein Rascheln, als er mit ihnen spielt. Eine Strähne kitzelt mich am Hals und ich genieße das Gefühl des Windes auf meiner Haut. Doch die Freude währt nicht kurz. Natürlich.
In der Klinik sind unzählige Patienten. Unzählige Patienten, die den Wald hätten betreten können, als sie mich schreien hörten. Aber es sind zwei mir nur allzu bekannte Gesichter. Noah und Aaron.
Noahs Augenbrauen sind zusammengezogen, seine Stirn ist gerunzelt und ein Schatten liegt über seinem Gesicht. Weshalb ist er mitgekommen? Will er mich unbedingt so sehen? Oder dachte er, es wäre eine holde Maid in Gefahr, die er retten müsste? Aaron neben ihm atmet erleichtert auf.
"Lia, Gott sei Dank. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, als du das Büro von Frau Eichdorf verlassen hast. Ist alles gut?"
Ich nicke und zucke mit den Schultern. Mein Blick ist nur auf Aaron gerichtet, ich ertrage es nicht, Noah anzusehen. Zu sehr habe ich Angst vor seinem Blick oder vor einem Kommentar von ihm.
Aarons Handy klingelt und er hält es entschuldigend in die Höhe. "Mama, da muss ich ran. Bin gleich wieder da."
Seufzend lege ich den Kopf in den Nacken. Warum lässt er uns jetzt alleine? Er kann uns doch jetzt nicht alleine lassen. Ich schüttle den Kopf und betrachte den Boden. Baumrinde und Moos sind darüber verstreut. Die Sonne strahlt in die Bäume und hinterlässt einen Fleckenteppich aus Licht und Schatten.
Noah tritt von einem Bein auf das andere. "Wow. Ich dachte, hier wird jemand getötet. Kann ich wieder gehen, oder muss ich Angst haben, dass du dich erhängen willst und dabei die Bäume zerstörst, Dalí?" Seine Stimme trieft vor Hohn und ich möchte ihm sein süffisantes Grinsen aus dem Gesicht wischen.
Ich fahre mir durch die Haare und lecke mir über die Lippen. Es dauert eine Weile, bis ich den Mut habe, Noah endlich anzusehen.
"Nenn' mich nicht so, verdammt. Außerdem ist er nicht durch Erhängung gestorben. Sei einfach ruhig, Noah." Meine Stimme ist resigniert und leise. "Lass mich doch einfach in Ruhe."
"Das kann ich nicht." Er schüttelt kurz den Kopf und grinst. Noah geht einen Schritt auf mich zu.
"Solltest du aber, wenn du mich doch so hasst." Ich will ihm ausweichen und einen Schritt zurückgehen, doch die Eiche ist bereits in meinem Rücken. Keuchend atme ich auf, als ich mit meinem Hinterkopf dagegenknalle.
Noah mustert mich nur und schweigt. Es ist ungewohnt, ihn schweigen zu hören. Aber sein Blick ist ernst und intensiv. So intensiv, dass mir warm wird.
"Hass ist ein großes Wort. Und ein Gefühl. Und das würde bedeuten, dass du mir was bedeutest. Aber das tust du nicht. Du bist mir scheiß egal. Wie jedem anderen Menschen auf dieser Erde." Er grinst und dreht sich um.
"Fick dich, Noah. Fick dich einfach."
"Nicht vor dir, danke. Ich hol deinen Kindergärtner, Aaron. Er scheint ja eine Vorliebe für hoffnungslose Fälle wie dich zu haben."
"Du bist ein Arschloch."
"Ich weiß. Besser ein Arschloch als fett." Noah dreht sich um und winkt übertrieben zum Abschied.
Er hinterlässt einen weiteren Sprung in meinem Herzen und einen weiteren Punkt auf meiner Liste, warum ich dieses Leben besser beenden sollte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro