08 - Nachtschwarz
▷ X Ambassadors Hoping ◁
Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich rolle mit den Augen. Von all den Menschen die an meiner Tür stehen könnten muss es ausgerechnet Noah sein. Es muss Noah sein, der mich davon abhält, endlich diesem scheiß Leben ein Ende zu setzen. Ich ertrage ihn jetzt nicht.
"Leonie ist nicht hier", fauche ich und drücke mich an ihm vorbei.
"Zu ihr will ich nicht", entgegnet er leise und hält mich an meinem Arm fest. Ich halte die Luft an und sehe ihn langsam an. Die Stelle an der er meinen Arm berührt fängt an zu brennen. Als würde er Säure darüber verteilen.
"Ich bin auch nicht da. Du hast mich nicht gesehen." Mit meiner freien Hand wedle ich vor seinem Gesicht herum und versuche mich aus seinem Griff zu befreien, der sanft aber bestimmt ist. Es gelingt mir nicht. Ich seufze. "Kannst du mich bitte los lassen? Ich muss dringend etwas erledigen."
Doch er schweigt nur und zwickt kurz die Augen zusammen. Er nimmt meine freie Hand und dreht sie um. Der Moment in dem er mich berührt durchfährt mich ein Stromschlag und ich kann mich gerade noch zurückhalten, nicht in die Luft zu springen. Noah öffnet meine harte Faust und legt mir einen Gegenstand in die Handfläche. Verwirrt beobachte ich, wie er meine Hand wieder schließt und mir dabei unbeabsichtigt über die Narbe an meiner Pulsader streicht. Ich halte die Luft an. Verdammt. Als ich die Faust wieder öffne, halte ich mein Feuerzeug in der Hand. Das hatte ich ganz vergessen.
"Danke. Ich muss jetzt gehen." Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, gehe ich den Flur entlang und direkt in die Toiletten. Meine Gedanken fahren wirr umher und ich weiß nicht, was ich machen soll. Gerade war ich noch absolut entschlossen, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Alles zu beenden. Für immer. Aber die Sekunde in der Noah vor der Tür stand, hat das feste Standbein meines Entschlusses zum Wackeln gebracht. Verloren fahre ich mir über mein Gesicht.
Vielleicht gehen wir erst einmal zur Maltherapie und dann können wir uns immer noch entscheiden. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und trockne es mit Papierhandtüchern ab. Einen Blick in den Spiegel wage ich nicht.
Im Bunker laufe ich schnurstraks zum Utensilienschrank und schnappe mir Pinsel, Papier und Acrylfarbe. Es ist keine leichte Entscheidung, welche Farben ich nehmen soll. Nach einiger Überlegung entscheide ich mich für Schwarz, Rot und Gelb.
"Eine interessante Farbwahl, Frau Großmann." Die Stimme des Maltherapeuten stiehlt sich mir ins Ohr und ich erschrecke so sehr, dass ich krachend gegen den Schrank falle.
"Oh Verzeihung. Ich wollte Sie nicht erschrecken." Erschrocken sieht er mich an, aber ich winke ab und nehme meine Malutensilien, mit denen ich zum Maltisch gehe. Kurz werfe ich einen Blick in die Runde und entdecke Leonie, die mir winkt. Ich lächle sie kurz an und lasse mich dann am anderen Ende der Bank fallen. Es ist noch nicht viel los und die Reihen füllen sich nur langsam. Ich genieße den freien Platz an meinem Ende und tunke meinen Pinsel in die nachtschwarze Farbe, mit der ich mein weißes Blatt Papier einfärbe. Nachdem mein Papier gänzlich schwarz ist und die Farbe getrocknet ist, tunke ich den Pinsel in das Rot und verteile wilde Striche darauf. Das Gelb wirkt verloren auf der Palette und so verteile ich ein paar Spritzer auf dem Bild.
"Wow, Lia. Das ist wunderschön." Leonie steht hinter mir und lächelt mich an.
"Ja, das ist voll die Kunst." Ein junger Mann sitzt ein paar Sitze neben mir und sieht sich mein Bild auch an. Ich ertrinke in Scham, denn ich ertrage es nicht, im Mittelpunkt zu stehen.
"Danke, Leute", murmle ich leise und stehe auf. So, liebe Lia. Jetzt musst du dich entscheiden. Entweder pro Leben oder contra Leben.
"Bist du fertig? Dann können wir hochgehen und unseren Beautyabend machen." Ihre Augen glitzern so freudig, dass ich nicht absagen kann. Vielleicht kannst du dich dann einfach morgen umbringen. Ich lache kurz laut auf ob meiner bescheuerten und kranken Gedanken. Leonie zieht einen Schmollmund und sieht mich abwartend an.
"Ja, klar. Gern", sage ich zu.
Sie hüpft freudig auf und ab und drückt mich kurz an sich. Nachdem ich die Pinsel sorgfältig ausgewaschen und die Palette abgewaschen habe, suche ich den Kunsttherapeuten um ihm mein Bild zu zeigen. Ich habe für mich herausgefunden, dass es mir ziemlich unangenehm ist, mein Bild allen Anwesenden zu zeigen. Deswegen zeige ich es ihm immer unter vier Augen.
Im Nebenraum finde ich ihn. Er steht an einem Tisch an dem nur zwei weitere Patienten sitzen. Einer davon ist Noah. Herr Litzke redet ruhig auf ihn ein aber er starrt nur auf das Bild vor sich. Er wirkt, als wäre er vollkommen in einer anderen Welt.
"Frau Großmann, ich bin gleich bei Ihnen. Warten Sie bitte vor der Tür." Er lächelt mich freundlich an. Nachdem mein Blick kurz auf Noah fällt, folge ich seiner Anweisung und verlasse den Raum. Ich lasse meinen Blick durch den Malraum im Bunker schweifen und beobachte, wie der Typ der mich eben noch wegen meines Bildes gelobt hat, mit wütendem Blick sein Bild auseinanderreißt. Weil ich nicht weiß, ob ich etwas sagen soll, starre ich stattdessen auf die Wand.
Endlich öffnet der Maltherapeut das Zimmer und so zeige ich ihm das Bild.
"Ein schönes Bild haben Sie gemalt, Frau Großmann. Man sieht, dass Sie zwar die Dunkelheit mit offenen Armen begrüßen und damit viel Schmerz verbunden ist, dass Sie sich aber weigern, dass die Dunkelheit Ihr Leben vollkommen im Griff hat. Das erkennt man an den kleinen, leichten gelben Tupfern. Das ist das Licht, das sich seinen Weg durch die Dunkelheit sucht. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie es eines Tages wieder finden." Während er redet, deutet er auf einzelne Stellen auf meinem Bild.
Gebannt und fasziniert starre ich ihn an. Wow.
Mir fehlen die Worte. Aus diesem Grund bringe ich auch nicht mehr als ein sinnloses Gestammel heraus. Ich verabschiede mich von ihm und werfe noch einen kurzen Blick in den Raum in dem Noah sitzt. Es scheint, als wäre er mit seinen Gedanken gänzlich wo anders. Und kurz überfällt mich die Neugier, sein Bild zu betrachten. Ich schüttle den Kopf und mache mich auf den Weg zu Leonie.
Dann bringen wir uns morgen um.
Als ich den Flur zu unserem Zimmer entlanglaufe, halte ich mein gemaltes Bild in der einen und meine Schachtel Zigaretten in der anderen Hand. Ich sollte aufhören zu rauchen. Das ist ungesund, daran könnte man sterben. Der Gedanke bringt mich zum Lachen. Sich umbringen wollen aber dann aufhören wollen zu rauchen weil man daran sterben könnte. Okay, Lia. Okay.
Vor unserer Zimmertür höre ich leise Musik aus dem Zimmer flüstern und betrete den Raum. Leonie steht vor ihrem Bett und summt mit der Melodie die den Raum erfüllt. Schmunzelnd schließe ich die Tür und lege mein Bild in das Regal. Vorsichtig fahre ich über die Buchrücken der Bücher die ich mitgenommen habe. Wenn ich mich morgen umbringen würde, dann könnte ich die gar nicht mehr lesen. Ich ziehe 'Die Bücherdiebin' aus dem Regal und verfolge mit meinen Fingern das Relief des Titels.
"Das Buch ist gut. Hast du das noch gar nicht gelesen?" Leonies Haare sind zu einem Dutt zusammengebunden.
Kurz presse ich meinen Mund zusammen und schüttle den Kopf.
Leonie strahlt mich an und zieht mich zu ihrem Bett. Dort liegen einige Gesichtsmasken, Nagellack, Handcremes und Teepäckchen. Begeistert strahlt sie mich an. Ihr Strahlen ist so ansteckend, dass ich nicht anders kann, als zurückzugrinsen.
Wir machen uns Tee, indem wir zum Wasserkocher im Speisesaal gehen. Anschließend entscheide ich mich für eine Peel-Off-Maske weil ich die am liebsten habe. Und während die Maske einwirkt, lackiert Leonie mir die Nägel in Rot. Ich genieße den Abend und die Ruhe mit ihr. Sie lenkt mich ab. Und einen kurzen Moment vergesse ich sogar über mein Vorhaben.
Doch an eben dieses denke ich wieder, als unser Mädelsabend vorbei ist und ich alleine im Bett liege. Leonies regelmäßige Atemzüge zeugen davon, dass sie bereits tief und fest schläft, während ich mich von einer Seite auf die andere drehe und einfach keine Ruhe finde. Und je öfter ich mich umdrehe, desto aggressiver werde ich. Also schlage ich die Bettdecke zurück und ziehe mich um. Ich schnappe mir mein Tagebuch, Stift und Zigaretten und mache mich auf den Weg zum Raucherraum. Die Klinik ist wie ausgestorben und wirkt erneut wie ein Ort für einen Horror- oder Zombiefilm. Eine leichte Gänsehaut legt sich mir über die Haut, die ich mit Rubbeln loszuwerden versuche.
Im Keller ist es noch stiller als im oberen Teil des großen Hauses und irgendwie bereue ich meine Entscheidung, nachts noch rauchen zu gehen. Aber du hättest Leonie vermutlich aufgeweckt und das möchtest du doch nicht, Lia. Oder?
Langsam öffne ich die Tür zum Raucherzimmer und versuche, das unheimliche Quietschen zu ignorieren. Vorsichtig luge ich durch den Türspalt und möchte die Tür am liebsten wieder zuknallen. Das gibt es einfach nicht. Von all den Menschen die hier in der Klinik sind und rauchen, von all denen sitzt natürlich er drin.
Kurz lehne ich meinen Kopf gegen das kühle Metall bevor ich die Tür aufschiebe und den Raum betrete. Noahs Blick sagt alles und ich werde mir meiner Jogginghose bewusst und meines eher legeren Auftretens und fühle mich noch hässlicher als die letzten Tage.
"Dich wird man einfach nicht los, oder?" Ein leichtes süffisantes Grinsen zupft an seinen Mundwinkeln.
Ich presse entschuldigend grinsend meine Lippen zusammen und zucke mit den Schultern.
Er sieht wieder weg und ich lasse mich gegenüber von ihm nieder. Nachdem ich mein Tagebuch sowie den Kugelschreiber auf den Tisch gelegt habe, ziehe ich eine Zigarette aus der Schachtel und blinzle diese irritiert an. Ich schüttle die Schachtel aber vergebens: Das Feuerzeug liegt in meinem Zimmer. Ich seufze. Toll. Noah starrt seit einer gefühlten Ewigkeit auf den Tisch. Also muss ich ihn ansprechen, da er meine Misere nicht beobachten konnte.
Ich räuspere mich.
"Noah?"
Langsam wandert sein Blick von der Tischplatte zu mir. Er sieht mich abwartend an.
"Kann ich dein Feuer haben?"
"Ich habe dir doch deins wiedergegeben?!"
"Ja. Ich. Ich weiß nicht wo es ist."
Er starrt mir kurz in die Augen ehe er meinen Blick meidet und schiebt mir sein Feuerzeug über den Tisch.
"Danke, Noah."
Er nickt nur. Schweigen füllt den Raum. Nur das Surren des Lüfters und die Schreie des Uhus vor dem Kellerfenster lassen uns nicht an der Stille ersticken.
Ob ich aus seinem Mund jemals meinen Namen hören werde?
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