06 - Azurblau
▷ Snow Ghosts - And The World Was Gone ◁
Nach Luft schnappend schrecke ich hoch. Es war nur ein Albtraum, Lia. Es war nur ein Albtraum. Entspann dich. Langsam versuche ich, wieder ruhiger zu atmen. Doch es will mir nicht so recht gelingen. Konzentriert versuche ich, die Bilder aus meinem Kopf zu bekommen, aber sie wollen nicht gehen. Ich kneife die Augen zusammen und halte die Luft an. Du darfst nicht weinen. Nicht, Lia. Bitte. Tief einatmend setze ich mich auf und starre in die Dunkelheit. Lenk dich ab. Ich atme tief aus und lasse meinen Kopf nach vorne sacken.
Die erste Woche in der Klinik verging erstaunlicherweise wie im Flug. Schon allein weil ich unglaublich viele Termine bei den Ärzten hatte, die einzelnen Therapien kennen lernte und die zuständigen Therapeuten. Am Freitag nach meiner Ankunft musste ich mich in der Aulagruppe vorstellen. Es waren alle Patienten des Hauses anwesend und ich hätte dem Chefarzt fast vor die Füße gekotzt. Ich hasse es, vor fremden Menschen zu sprechen und im Mittelpunkt zu stehen. Die neuen Patienten wurden begrüßt und die alten wurden verabschiedet. An sich war es interessant, aber fast drei Stunden herumzusitzen und Menschen beim Reden zuzuhören gehörte noch nie zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Zur Gruppentherapie sowie zur Reittherapie darf ich erst ab nächster Woche. In der Zeit bis heute ging ich Noah ziemlich angestrengt aus dem Weg. Ich konnte auf ihn und seine dummen Kommentare wirklich verzichten. Aber Leonie wuchs mir in der kurzen Zeit schon sehr ans Herz. Sie zeigte mir das Gelände und wir erkundigten die Umgebung und den Wald. Am liebsten war ich allerdings alleine im angrenzenden Waldstück unterwegs. Mit Musik im Ohr erschien alles gleich viel angenehmer.
Angestrengt versuche ich nun, wieder einzuschlafen. Aber ich werde immer aggressiver und irgendwann liege ich in meinem viel zu kleinen Bett und spiele Pfannkuchen, was bedeutet, dass ich mich ständig hin und her drehe. Bevor ich Leonie aufwecke, entschließe ich mich, mich in das Raucherzimmer zu verkrümeln, das die ganze Nacht geöffnet ist. Kurzerhand verschwinde ich im Bad und ziehe mich um. Meine graue Jogginghose sitzt locker um die Oberschenkel und ich zupfe kurz zufrieden am Hosenbund. Es war eine gute Entscheidung, sie einige Größen größer zu kaufen. Mein schwarzer, warmer Pulli versteckt mich ziemlich gut vor dummen Blicken. Auch wenn wir Sommer haben, nachts ist mir immer kalt. Es fühlt sich grauenvoll an, von innen heraus zu frieren. Mit den Zigaretten und meinem Tagebuch bewaffnet, laufe ich leise in den Keller. Ich hoffe, die Stufen knarzen nicht. Ich will nicht, dass jemand wegen mir nicht schlafen kann. Es ist ungewohnt, leise durch das Haus zu schleichen und ich komme mir ein wenig vor wie ein Einbrecher. Die Flure sind leer und ausgestorben. Es ist still und kurz habe ich das Bild einer Zombieapokalypse vor mir, in der ich die einzige Überlebende bin, die nach einem langen Schlaf aufwacht und feststellt, dass alle anderen tot sind. Schnaubend schüttle ich den Kopf und haste die leise knarzenden Stufen hinunter. Als ich endlich unten bin, atme ich erleichtert auf. Plötzlich höre ich Stimmen und ich bin versucht, mich in irgendeiner Ecke zu verstecken, doch es ist bereits zu spät. Die Tür wird geöffnet und mir kommt eine kleine Gruppe entgegen, von denen ich einige vom Sehen kenne. Und da ist Aaron.
"Gute Nacht, Lia." Aaron zwinkert mir zu und folgt den anderen. Ich warte, bis der Lärm abgeebt ist und öffne die Tür zum Flur, in dem das Raucherzimmer ist. Erfreut höre ich nur Stille.
Mit der Erwartung, völlig allein zu sein, stoße ich die Tür zum Raucherzimmer auf - und ich hätte sie am liebsten sofort wieder zugeknallt. Das darf nicht wahr sein! Das darf einfach nicht wahr sein. Ich unterdrücke ein Stöhnen und betrete das kleine Zimmer. In der Mitte steht ein Tisch, an dem einige Stühle stehen. Und auf einem der Stühle sitzt Noah. Er wirft mir einen wütenden Blick zu und schüttelt den Kopf.
"Muss das jetzt sein? Ich kann doch eh schon nicht schlafen. Dann brauche ich doch wirklich nicht auch noch meinen personifizierten Albtraum." Seine Stimme donnert durch den kleinen Raum und ich ziehe automatisch den Kopf ein.
"Können wir nicht einfach in Ruhe hier sitzen, ohne uns einmal dumm anzumaulen? Geht das? Lass' deine schlechte Laune doch bitte einmal nicht an mir aus. Danke", fauche ich ihn an.
Noah seufzt und sieht aus dem Kellerfenster. Angespannt zünde ich mir eine Zigarette an und puste den Rauch in die Luft. Die Atmosphäre ist aufgeladen und ich habe Angst, die falsche Bewegung zu machen. Fast erwarte ich, dass er mich anfällt und schlägt. Aber er bleibt still. Ich beobachte, wie sehr seine Hände zittern, als er sich noch eine Zigarette anzündet, krame nach meinem Kugelschreiber und klappe mein Tagebuch auf.
"Du schreibst Tagebuch während ich hier am Tisch sitze? Denkst du wirklich, dass das sonderlich klug ist?", fährt er mich an. Seine Augen sind auf mich gerichtet und sehen mich durchdringend an.
"Naja, ich denke, es gibt weitaus interessantere Dinge die man lesen kann", entgegne ich schulterzuckend und widme mich wieder meinen geschriebenen Zeilen in azurblauer Farbe.
"Vielleicht auch nicht", sagt Noah leise. Stirnrunzelnd sehe ich ihn an und kann kaum an mich halten. Sein süffisantes Grinsen ist fast eine Einladung, es ihm aus dem Gesicht zu wischen. Mit dem Stuhl.
Noah verlässt den Raum eine halbe Stunde später und auch ich bleibe nicht mehr lange. Denn ich merke, wie ich endlich müder werde, als ich die wirbelnden Gedanken notiert und festgehalten habe. Oben im Zimmer entledige ich mich meiner Klamotten und ziehe meine Schlafsachen an, bevor ich todmüde ins Bett falle. Ich will morgen in den Wald.
Und so stehe ich einige Stunden später an diesem Donnerstag mitten in dem Stück Wald, das ich als Neuling betreten darf ohne eine Zustimmung Dritter zu benötigen und betrachte den Himmel. Die Baumkronen lassen nur an vereinzelten Stellen das Dunkelblau durchblitzen und die untergehende Sonne kündigt den ich bin dran. Zusammen mit Klara aus meiner Gruppe bin ich diesen Tag für den Tischdienst eingetragen. Ärgerlich ist nur, dass Klara absolut nie hilft und ich immer alles alleine mache. Aber wenn ich sie darauf anspreche, zuckt sie nur lässig mit den Schultern und stopft sich ihren Mund mit dem Essen.
Die Musik frisst sich durch die Kopfhörer in meine Adern und bahnt sich ihren Weg zu meinem Herzen. Ich schließe die Augen und genieße das Gefühl alleine zu sein, nur umgeben der Musik die mich trägt. Träge mache ich mich auf den Weg zurück zum Haus und kann mich kaum überwinden, es zu betreten. Schon immer war ich ein kleiner Naturfreak, der die Zeit lieber unter freiem Himmel verbrachte als eingesperrt im Haus. Seufzend bahne ich mir einen Weg durch die rauchenden Menschen und stoße die Tür zum Speisesaal auf. Die Küche hat die Durchreiche noch nicht geöffnet und all die armen Menschen, die ebenfalls zum Tischdienst verdonnert wurden, stehen mit mir im Raum. Unter ihnen - natürlich, wie es auch anders sein soll - Noah. Angestrengt und äußerst konzentriert mustert er die Holzvertäfelung des Esstisches seiner Gruppe und anschließend seine Fingernägel. Ich rolle mit den Augen und drehe mich weg.
"Hey, Lia. Alles gut?" Celines Stimme lenkt mich von meinen Gedanken ab. Celine ist eine Freundin von Leonie. Aber ich werde nicht so wirklich schlau aus ihr. Deswegen erzwinge ich mir ein Lächeln.
"Ja, natürlich. Und selbst?", erkundige ich mich.
Sie legt den Kopf schief. "Wieso starrt Noah so dümmlich zu uns? Mag er dich?"
Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke. "Ganz sicher nicht!", gebe ich keuchend von mir, als ich endlich wieder genügend Luft bekommen habe. Ich huste noch einmal und fahre dann fort: "Er kann mich nicht leiden. Vermutlich denkt er sich gerade den nächsten dummen Spruch aus, mit dem er mich nerven kann. Er ist so dämlich." Ich seufze theatralisch und sehe Celine an, die aber mit großen Augen über meine Schulter starrt.
"Da könntest du ausnahmsweise mal Recht haben, Fetti." Noahs eiskalte Stimme durchschneidet das Schweigen zwischen Celine und mir und ich drehe mich langsam um. Noahs sturmgraublaue Augen funkeln mich einerseits wütend, andererseits belustigt an, ehe er mich zur Seite schubst und an die Durchreiche tritt, die just in dem Moment geöffnet wird.
Erleichtert atme ich die Luft aus, die ich unbemerkt angehalten habe und lege den Kopf in den Nacken.
"Lia, da bist du ja." Aaron tippt mir auf die Schulter und ich werfe ihm einen kurzen Blick zu.
"Hey, Aaron", sage ich leise und folge dem Pulk, der sich langsam an die Durchreiche traut, nachdem Noah einen Teil der Ration an Essen für seinen Tisch geholt hat. Ich schnappe mir zwei Brotkörbe und zwei Teller Gemüse, die ich genervt auf den Tisch knalle. Während alle anderen zu zweit den Tisch decken, kämpfe ich mich alleine mit allem ab.
"Du hast die Teller und das Besteck noch gar nicht, Lia." Celines Stimme kratzt in meinen Ohren und ich bin zu genervt um freundlich zu antworten. "Ja, danke. Weiß ich", schnaube ich und stampfe wütend zur Durchreiche. Es sind zu viele Teller als dass ich alle auf einmal tragen könnte, also muss ich mehrmals gehen. Ich muss das klären. Sonst ändert sich da nichts.
Verzweifelt versuche ich, alles auf einmal zu machen und verliere beinahe die Wurst auf der Wurstplatte. Als ich mich umdrehe, stehen die restlichen Teller auf dem Tisch. Verwundert sehe ich mich nach Klara um, weil ich die Hoffnung habe, dass sie mir nun doch hilft. Aber ich entdecke sie nicht. Kurzum stelle ich die Teller an jeden leeren Platz und sehe aus den Augenwinkeln eine Bewegung an unserem Tisch.
Und irgendwie kann ich nicht so recht glauben, was ich sehe. Es ist Noah, der mir hilft und mir die restlichen Teller auf den Tisch stellt. Aber warum?
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