02 - Zitronengelb
▷ Billie Eilish - Six Feet Under ◁
Ich habe kaum Zeit, um richtig durchzuatmen und mich von dem eben erlebten Schreck zu erholen, als Frau Koch vor einer Tür stehen bleibt und mich abwartend ansieht. Den Blick der wütenden Sturmaugen auf meiner Haut eingebrannt, sehe ich Frau Koch vorsichtig an.
"Bereit, Frau Großmann?", fragt sie leise und wartet meine Antwort gar nicht ab. Sie geht in das Zimmer, in dem eine Gruppe von Leuten sitzt, deren Gespräch augenblicklich verstummt und die mich sofort ausgiebig und neugierig mustert.
"Hi", sage ich leise in den Raum und vermeide, so gut es geht, jemanden anzusehen. Der Boden ist aus Holz und knarzt leise, als ich die Türschwelle überschreite.
"Setzen Sie sich doch zu Herrn Surbeck", sie zeigt auf einen leeren Platz zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau, "er ist Ihr Pate und wird Ihnen in der ersten Zeit zur Seite stehen." Ich möchte mich am liebsten verstecken, weil mir all die Aufmerksamkeit zuwider ist. Und ich wünsche mir eine Unsichbarkeitskappe, als ich mich auf den leeren Platz begebe. Am liebsten hätte ich den Tarnumhang von Harry Potter. In den letzten Jahren habe ich die Kunst des Unsichtbarseins gelernt. Ich habe es wirklich gut drauf, mich so zu verhalten, dass mich niemand sieht; dass ich untergehe. Dennoch wäre dieser Tarnumhang nicht schlecht.
"Hallo. Ich bin Aaron", teilt er mir mit und sieht mich abwartend an.
"Ich bin Lia."
Er lächelt und wendet sich wieder an den Herrn, neben dem Frau Koch jetzt sitzt.
"Guten Tag, Frau Großmann. Ich bin Herr Zesinski und teile mir mit Frau Koch zusammen die Leitung dieser Millieugruppe. Die Sitzung für heute ist fast vorbei, deswegen würde ich vorschlagen, dass wir vielleicht noch kurz eine Vorstellungsrunde machen."
Innerlich rolle ich mit den Augen, da ich es eigentlich vermeiden wollte, bereits am ersten Tag vor allen Leuten zu reden. Und ich hasse Vorstellungsrunden.
"Frau Großmann, vielleicht möchten Sie damit beginnen?" Herr Zesinksi sieht mich gutmütig lächelnd an und ich hole tief Luft. Es sind mir zu viele fremde Menschen.
"Ich bin Lia, bin 20 und hier, weil meine Eltern es so wollen."
"Und du? Möchtest du es auch? Immerhin bist du alt genug um eigene Entscheidungen zu treffen." Eine blonde Frau, die mir gegenüber sitzt, hat die Frage gestellt und sieht mich interessiert an.
"Ehrlich gesagt ... ich weiß es nicht." Ich zucke mit den Schultern und mustere den Boden. Und meine eigene Entscheidung wurde ja nicht akzeptiert.
Der Rest der Gruppe stellt sich vor, aber ich kann mir keinen einzigen Namen merken und ich höre auch nicht wirklich zu, alles überfordert mich zu sehr. Außer Aaron, der mich immer wieder von der Seite ansieht, habe ich alle Namen bereits wieder vergessen. Ich fühle mich unwohl. Sicherlich ekeln sich alle vor mir aufgrund meines Gewichts. Und am liebsten würde ich mich verstecken. Unter die Bettdecke kriechen und niemanden sehen oder hören. Und keinen Blicken ausgesetzt sein.
Nachdem sich alle vorgestellt haben, beendet Frau Koch die Sitzung.
"Rauchst du, Lia?" Aaron steht auf und streckt sich.
Ich nicke. Leider ja.
"Gut, dann zeige ich dir gleich mal die Raucherplätze. Die offiziellen und die inoffiziellen", meint er und hält mir die Tür auf.
"Danke", flüstere ich und betrete den Gang, in dem ich vorher gegen den Riesen gelaufen bin.
Zu meinem Erstaunen wendet sich Aaron nach rechts, obwohl die Tür, die in den Garten führt, links ist. Vor einer Metalltür bleibt er stehen.
"Das hier ist der Raucherraum, er ist ab zehn Uhr abends bis morgens um sechs geöffnet. Ich persönlich bin nicht so gerne in dem Raum, weil man danach riecht wie zwölf Tage durchgeraucht. Aber zur Not ist es sicherlich nicht schlecht."
Er wendet sich wieder nach links und wir gehen den Gang entlang, dessen Wände mit Mosaiken geschmückt ist. Ich nehme mir vor, sie mir zu einem anderen Zeitpunkt genauer anzusehen. Auch wenn ich gar nicht weiß, wie lange ich überhaupt hier bleibe.
"Hier sind die Gruppenräume der anderen Millieugruppen. Wir haben auch Gruppentherapie, diese Gruppen setzen sich dann aus einem Mix der Millieugruppen zusammen. Und das hier ist der Raucherpavillon, in dem wir offiziell rauchen dürfen."
Wir stehen vor einem kleinen Glaspavillon, in dem einige aus unserer Gruppe stehen und mit anderen sprechen. Und dann sehe ich ihn und mein Herz rutscht in die Hose. Hinten in der Ecke steht der Riese und starrt in den Wald hinter dem Pavillon. Ich möchte hier weg.
"Komm, ich stell dir ein paar Leute vor."
Ich unterdrücke ein Stöhnen und laufe ihm hinterher. Was soll ich auch sonst machen? Ich weiß im Moment nicht einmal mehr, wo mein Zimmer ist.
Aaron stellt mir einen weiteren Typen vor, der sich Timo nennt, ein Mädchen namens Clara und einige andere, deren Namen ich mir - oh Wunder - nicht merke. Meine Aufmerksamkeitsspanne ist gerade mal so groß wie die eines Goldfisches. Also gar nicht groß. Ich kann mich kaum auf irgendetwas konzentrieren. Alles überfordert mich und macht mich absolut taub für jegliches Ereignis um mich herum.
Der Riese drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus und drängelt sich durch die Gruppe. Vor mir bleibt er kurz stehen um mir einen schönen Satz vor dir Füße zu kotzen.
"Dass die sowas wie dich frei rumlaufen lassen, ist echt grenzwertig. Das ist ekelhaft. Wie viel wiegst du? Eine Tonne?" Obwohl seine Stimme tief und rau ist, erzeugt sie ein Klingen in meinen Ohren.
"Noah, lass' sie in Ruhe", mischt sich Aaron ein.
Noah also. Eigentlich ein schöner Name. Ein schöner Name für einen bescheuerten Typen. Er hätte einen hässlichen Namen verdient. Wie Atomfried oder Egbert.
"Guck nicht so dumm, sonst bleibt dir das", sagt er nur und schiebt mich auf die Seite. Kurz bevor er um die Ecke geht, ruft er noch: "Ich wasche mir jetzt erstmal die Hände, nachdem ich sie berüht habe."
Ich schließe die Augen und hole Luft. Genau wegen Typen wie ihm wollte ich nicht mehr leben. Sie geben der Dunkelheit in meinem Kopf nur noch mehr Futter.
"Denk dir nichts, Lia. Der Typ ist ein absolutes Arschloch. Der ist seit gestern hier, aber denkt schon heute, er wäre der König. Er denkt, er ist Sonstwer, richtet über andere und hat ständig einen schlauen Spruch auf den Lippen. Aber er ist absolut nicht selbstreflektierend und eigentlich ist er nur ein armes Würstchen." Timo hat sich jetzt direkt zu uns gestellt und bringt sich in das Gespräch ein.
"Vielleicht ist das auch seine Art, sich Menschen vom Hals zu halten", vermute ich und drücke die Zigarette im Aschenbecher aus. Wenn er seit gestern erst hier ist, dann würde er die vollen drei Monate mit mir hier sein. Darauf kann ich gut und gerne verzichten.
"Ja, das kann natürlich auch sein. Aber er sieht nicht wirklich so aus, als müsste er sich die Menschen durch eine Mauer vom Hals schaffen. Sein Charakter und seine Tattoos reichen ja schon", schaltet sich ein blondes Mädchen ein.
"Naja, Tattoos sind jetzt aber nicht wirklich ein Zeichen für schle-", ich werde unterbrochen.
"Ja, absolut. Er sieht aus, als wäre er aus einem Gefängnis entflohen", sagt ein braunhaariger, schlaksiger Kerl.
"Also ich finde wirklich nicht, dass Tattoos automatisch bedeu-", versuche ich zu erklären. Aber mir hört niemand zu.
Ich stehe in der kleinen Gruppe und niemand hört mir zu. Und ich finde, es gibt fast kein schlimmeres Gefühl, als inmitten einer Gruppe zu stehen und sich absolut alleine zu fühlen. Und wenn man mehrmals anfängt, etwas zu sagen, aber ständig unterbrochen wird und einem niemand zuhört, dann hört man irgendwann einfach auf zu reden. Wofür soll ich mich dann noch einbringen? Scheinbar ist es einfach nicht interessant genug. Scheinbar bin ich nicht interessant genug.
Mittlerweile denke ich mir, dass niemand meine Worte verdient hat, wenn er mein Schweigen nicht versteht. Und sogar hier wird gezeigt, wie wahr der Spruch ist. Irgendwie hatte ich doch eine kleine Erwartungshaltung an diese Einrichtung. Dass Menschen sensibler sind und man sich zuhört. Aber Pustekuchen.
"Lia, alles gut?", fragt Aaron und sieht mich mit schiefem Lächeln an.
Ich nicke nur und überspiele meine Verletztheit mit einem Grinsen, das mit Sicherheit eher unelegant aussieht.
"Wie wäre es, wenn ich dir jetzt noch ein bisschen von der Klinik zeige? Es gibt bald Mittagessen. Heute Nachmittag findet die Gruppentherapie statt, aber bis du in eine der Gruppen kommst, dauert das noch etwas. Du hast aber bestimmt genug anderes zu tun."
Beinahe ertrinke ich an Aarons Wortwasserfall und muss husten. Er zeigt mir den Waschraum, in dem drei Waschmaschinen und ein Trockner stehen. Außerdem laufen wir ein bisschen auf dem riesigen Gelände herum, auf dem sich ein Volleyball- und ein Basketballplatz befinden. Da die Klinik mitten im Wald führt, gibt es auch Trampelpfade durch den Wald, die ich in den nächsten Wochen auf jeden Fall besuchen werde. Neben dem Aufenthaltsraum, der zeitgleich auch der Essensraum ist, bekomme ich außerdem den Ort der Maltherapie gezeigt. Und urplötzlich freue ich mich auf die Maltherapie.
"Wann findet die Maltherapie denn so statt?", frage ich Aaron neugierig und aus der Puste, da Aaron um einiges schneller geht als ich und ich verzweifelt versuche, mit ihm Schritt zu halten.
"So ziemlich jeden Tag, nach dem Abendessen. Und das ist auch total ungezwungen. Für die meisten Therapien musst du dich anmelden. Aber für die Maltherapie nicht. Also könntest du da heute Abend schon hin, wenn du magst."
Ich freue mich, denn ich male und zeichne für mein Leben gern. Auch wenn meine Bilder nie so zauberhaft wie Van Goghs, Daliís oder Hundertwassers Gemälde aussehen. Malen und Musik erfüllt mich, macht mich ruhig und lässt mich mich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Es gibt nichts Schöneres, als ein weißes Blatt auf dem man sich austoben kann.
Beim Mittagessen sitze ich eher stillschweigend am Tisch und beobachte mehr die Leute in dem Raum als dass ich mich auf mein Essen konzentriere. Ich bin aufgeregt, mir ist schlecht und dadurch kann ich kaum etwas essen. Am Nachbarstisch entdecke ich einige aus dem Raucherpavillon - und sturmblaue Augen, die mich böse anfunkeln. Unter seinem Blick fühle ich mich klein und noch hässlicher als ich es eh schon bin. Und ich schwöre, hätte dieser Noah ein Messer, würde er es mir ins Gesicht rammen - oder mir damit mein Fett wegschneiden. Ich schlucke und widme mich konzentriert meinem Essen. Es ist Kartoffelauflauf und schmeckt eigentlich ganz gut. Nach dem Mittagessen bringt Aaron mich noch zu meinem Zimmer und verabschiedet mich vor meiner Zimmertür.
"Die Ärztin holt dich dann in einer Stunde. Bis dahin kannst du ja vielleicht deinen Koffer auspacken und dich ein bisschen einrichten. Und wenn die Gruppentherapie vorbei ist, komm ich und hol dich wieder ab, ja?"
Ich nicke und warte, bis er den Flur verlassen hat. Gerade als ich meine Zimmertür öffnen will, wird sie von innen aufgerissen und knallt mir gegen den Kopf. Schmerzerfüllt stöhne ich auf und reibe mir mit meiner Hand über die Stirn.
"Ach du heiliger Butterkeks!", ruft ein rothaariges Mädchen, deren Fingernägel in sattem Zitronengelb lackiert sind. "Das tut mir jetzt echt leid. Bist du Lia? Ich bin Leonie, deine Zimmernachbarin." Sie sieht mich besorgt an.
"Der Schmerz ebbt schon wieder ab, keine Sorge", äußere ich. Dann fällt mir ein, dass sie mir eine Frage gestellt hat. "Ja, ich bin Lia. In welcher Gruppe bist du?", frage ich, weil ich mich nicht erinnern kann, sie bei uns gesehen zu haben.
Leonie nickt. "Ich bin in der Merkur-Gruppe. Freut mich, dich kennen zu lernen, Lia. Du hör' mal, ich bin schon zu spät zur Gruppentherapie, aber vielleicht können wir nachher in aller Ruhe schnacken?"
"Klar, gerne", entgegne ich und mache den Weg frei, damit sie aus dem Zimmer kann. Sie lächelt mich breit an und winkt kurz zum Abschied.
Ich schließe leise die Tür und atme einen Moment durch. Endlich alleine.
Während ich meinen Koffer ausräume, höre ich Musik. Neugierig betrachte ich die Pinnwand über Leonie Bett, auf der einige Fotos angebracht sind, viele Karten und ein Bild vom Merkur. Als ich mich umdrehe und mir meine Pinnwand ansehe, entdecke ich, dass jemand dort einen Zettel angebracht hat. Auf der steht: "Hallo Zimmernachbarin, herzlich Willkommen im Hotel 'Zur lockeren Schraube'. Ich bin Leonie und freue mich sehr, dich kennen zu lernen. Außerdem hoffe ich, du fühlst dich hier - Dank mir - bald wohl."
Und mir kommt ein Gedanke, leise und klein: Vielleicht wird es hier ja doch ganz okay.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro