35. Kapitel
Noch Stunden verbringen wir die Zeit am Meer. Wir unterhalten uns über sinnvolle und schwachsinnige Dinge. Lachen und sind ergriffen. Und liegen einfach still da, einfach mitten auf dem Sand und genießen die Zeit. Alles in allem war es sehr schön.
Irgendwann wurde es mir zu kalt und so sind wir zurück ins Hotel gegangen.
Nun ist der nächste Morgen angebrochen. Ein neuer Tag. Fast würde ich sagen: Neuer Tag, neues Glück. Aber soweit bin ich noch nicht.
Zurzeit liege ich im Bett und genieße die Aussicht. Michael ist im Bad und macht sich fertig für unseren Ausflug zum Strand. Ich bin schon längst fertig, aber ich war auch die erste im Bad. Ich trage mein neues Kleid und darunter meinen Bikini. Handtuch und Buch sind in einer Tasche, die Michael mit genommen hat. Seine Sachen fehlen noch und er selbst, dann können wir los.
Vorfreude pulsiert in meinen Adern, auch, wenn wir gestern schon dort waren. Am Tag wird es wohl was anderes sein, als in der Nacht, außerdem trage ich diesmal Badeklamotten zum Schwimmen.
Urplötzlich ergreift mich die Panik.
Am Strand werden noch andere Menschen sein. Ich, dazwischen, unter ihnen. Ich, mit meinen Narben. Ich, das Knochengestell. Definitiv werde ich auffallen unter der Menge. So, mit dem Kleid finde ich es nicht schlimm. Damit falle ich nicht allzu sehr auf. Jedenfalls habe ich das Gefühl.
Doch halbnackt. Ne das ist... das ist zu viel. Zu viel für mich.
Meine Atmung beschleunigte sich. Der Puls steigt. Mir ist kalt und warm zugleich.
Verschiedene Szenarien spielen sich vor meinen inneren Augen ab. Verletzende Kommentare, verachtenden und vorurteilende Blicke. Jede Szene ist schlimmer als die anderen. Keine hat ein gutes Ende.
"Können wi-"
Michael stoppt abrupt in seinem Satz, als er mich zusammengekauert im Bett liegen sieht.
"Hey Claire. Was ist los?", fragt er vorsichtig und kommt zu der Bettseite, wo mein Kopf liegt.
"Ich habe Angst", flüstere ich zurück.
"Weshalb denn?"
Eigentlich ist es mir peinlich, doch weiß ich, das Michael mich nicht dafür auslachen wird. Er wird mich verstehen.
"Gleich am Strand. Ich werde total auffallen, wegen meiner Körperstuktur. Die werden mich dort anstarren. Dann sehen sie meine Narben und...und... und"
Weiter kann ich nicht sprechen.
"Wenn sie nur eine Bemerkung gegen dich aussprechen, bekommen sie es mit mir zutun.", meint Michael böswillig. "Mach dir keine Gedanken oder Sorgen deswegen. Es wird keiner auf dich achten und wenn schon, dann bin ich da. Wenn wir im Wasser sind, werden sie weniger von dir sehen und am Strand starrt dich schon keiner an, wenn du dort liegst. Schäme dich nicht dafür, wie du aussiehst. Die Fremden können nicht verstehen, was du durchlebst. Sie verurteilen einen, aber denken nicht darüber nach, was sie sehen. Also hopp hopp. Jetzt heißt es Sonne tanken und bräunen. Wenn wir später zurück sind und noch nicht zu sehr aufgeweicht sind, müssen wir mal den Pool ausprobieren. Nun komm schon. Wir sind hier nicht um Trübsal zu blasen, oder etwas anderes zu blasen, oder etwa doch?"
Allein seine Stimme und wie er das "blasen" ausspricht, sprüht nur von Perversheit.
Widerwillig stehe ich auf und wäre fast über Michael gefallen. Mit dem wenigen Gepäck in der Hand, gehen wir zur Ausgangstür unseres Hotelzimmers, wenn man das noch so definieren kann. Doch bevor ich die Türklinke herunter drücken kann, hält mich der Blonde auf.
"Sieh in den Spiegel", fordert er mich auf.
An der Garderobe, wo keine einzige Jacke von uns hängt, hängt ein Spiegel, der so groß ist, wie ich.
Ich gehorche Michael und schaue mein Ebenbild an.
"Was siehst du?", fragt er.
"Mich", antworte ich verwirrt.
Wen soll ich denn sonst sehen?
"Und dich natürlich", ergänze ich.
Dennoch weiß ich nicht, was er meint.
"Beschreibe die Person, die du siehst. Wie schaut sie aus. Wie wirkt sie auf dich"
Ich lasse mich drauf ein, auch wenn ich es für kompletten Schwachsinn halte.
"Eine junge Frau mit strubeligen, langweiligen, braunen, brustlangen Haaren. Fast in der gleichen Farbe sind auch ihre Augen. Sie wirken nicht fröhlich, aber auch nicht trüb. Schon fast gleichgültig. Unter ihren Augen sind blasse Augenringe, die einst schon mal schlimmer aussahen. Ihre Wangen erscheinen kränklich blass. Die Lippen zu dünn, zu schmal und zu wenig Farbe.
An ihren Ohren befinden sich keine Ohrlöcher für Ohrringe. Das Kleid, der Person, ist wunderschön. Sie trägt eine Kette, doch hat sie sie unter dem Kleid versteckt, weil es nicht zusammen passt. Ihre Körperhaltung ist geknickt, schon fast ängstlich. Wenn man weiter an ihr herab sieht, bemerkt man erst, wie dünn sie ist. Brüste sind kaum erkennbar, Taillie zu schmal, Hüfte eines Kindes. Auf der weißen Haut erkennt man direkt die Narben, auf den Unterarmen. Schon fast systematisch sind sie aufgereit. Es ist erschreckend, wie viele Striche es sind und wie tief die Wunden einst sein mussten.
Weiter unten erstrecken sich die dünnen weißen Beine aus dem Kleid. Sie gleichem schon fast einem Storch.
Was man nicht erkennen kann, wenn die junge Frau bekleidet ist, sind Narben an ihren Rippen. Lange, unzählige, grausame Teile, die nie wieder verschwinden werden. Die Person ist nicht mit sich zufrieden und fragt sich, warum sie das macht"
Ich wende meinen Blick ab. Für mich ist es schrecklich, mich selbst im Spiegel zu betrachten. Es ist eine Folter und eigentlich achte ich darauf, mich nicht in einem zu betrachten, außer wenn es notwendig ist.
"Möchtest du wissen, was ich sehe?"
Tief atme ich ein und aus. "Nein, nein eigentlich nicht"
Michael lacht auf.
"Das war mir klar, aber ich mache es trotzdem.
Ich sehe auch eine junge Frau. Ihre Haare fallen schwungvoll nach unten, in einer einzigartigarten Farben. Die Augen sehen mich genervt an. Eigentlich sind sie sehr ausdrucksvoll. Manchmal belebter als sonst. Manchmal funkeln sie wie die Sterne bei Nacht. Die Augenringe sind nur noch unmerklich zu sehen. Sie und ich wissen, wie sie noch vor ein paar Wochen aussahen. Ihre Körperhaltung ist verängstigt. Sie will unscheinbar sein, was aber nicht funktioniert. Auch wenn die Person es nicht sieht, die letzten Tage und Wochen hat sie zugenommen. Nicht viel, aber ich erkenne es und es ist ein Fortschritt.
Was ich sehe, ist eine starke Frau mit Verletzungen auf den Armen und sonst wo, die sie sich selbst zugefügt hat, wegen Schmerz die keiner verstehen kann. Ich sehe eine wundervolle Persönlichkeit, die sich nicht die Meinung anderer zu sehr zu Herzen nehmen soll. Und nun gehen wir schwimmen und haben unseren Spaß. Wie es auch jeder andere, der Urlaub hat, tun würde"
Noch immer verständnislos sehe ich aus der Wäsche. Erst Tage, sogar Monate später, verstehe ich, was es gebracht hat. Dann erst verstehe ich den Sinn hinter dieser Aktion.
"Hier ist doch ein guter Platz", meine ich am Strand.
Es ist eine Ecke, wo wenige andere Mitmenschen sich niedergelassen haben und somit haben wir unsere Ruhe.
"Ich finde es auch gut.", gibt Michael zu.
Wir breiten Handtücher auf dem Sand aus und setzen uns darauf. Die Sonne knallt auf uns. Sonnenmilch oder so etwas hat keiner von uns eingepackt. Wahrscheinlich kann ich heute abend einen Wettstreit mit einem Hummer machen.
Michael zieht sich neben mir bis zur Badehose aus. Mit meiner ganzen Überwindung schaffe ich es auch, mich zu entkleiden, doch fühle ich mich mehr als unwohl.
Immer wieder wiederhole ich in meinem Kopf, dass niemand auf mich achtet und sich keiner dafür interessiert. So ist es auch, aber dennoch fühle ich mich beobachtet.
Eine zeitlang liegen wir still und dösen vor uns hin. Wie ein Stück Fleisch auf dem Grill drehe ich mich jede halbe Stunde rum, damit ich überall ein wenig Sonne abbekomme. Die bequemste Stellung ist auf dem Bauch, doch da habe ich Sand gegessen. Egal wie schön er auch ausschauen mag, schmecken tut er definitiv nicht.
"Hey du. Komm wir gehen ein wenig schwimmen. Mir ist tierisch heiß in der Sonne und eine Abkühlung wäre jetzt klasse", reißt Michael mich aus meinen unbestimmten Gedanken.
Langsam stehe ich auf und schaue direkt in die Sonne, sodass ich erstmal nichts anderes als Licht sehen kann.
Von der Sonne geblendet, laufe ich schwankend in Richtung Wasser. Als ich die kühle Nässe an meinen Fußknöchel spüre, lasse ich mich ins Meer fallen. Erstmal tauche ich unter und tauche einige Meter weiter. Als sich keine Luft mehr in meiner Lunge befindet, schwimme ich zur Oberfläche. Knapp kann ich nur noch den Boden berühren.
Michael stellt sich locker neben mich.
Seine Haare stehen in alle Himmelsrichtungen ab und irgendwie sieht er mit seinen verschmitzten Lächeln aus wie ein Strand Boy. Fehlt nur noch sein Surfbrett und das Bild wäre perfekt.
Ich hingegen sehe bestimmt aus wie ein nasser Hund. So halte ich mich auch übers Wasser und kämpfe gegen die leichte Strömung und die Wellen an, wie ein Hund der schwimmt.
"Kannst du einen Handstand im Wasser machen?", fragt Michael.
"Öhmm... ich habe es noch nie ausprobiert.", antworte ich wahrheitsgemäß.
Der Blonde taucht unter und seine Füße gucken aus dem Wasser heraus. Würde ich mich nicht ein wenig vor Füßen ekeln, dann würde ich ihn jetzt kitzeln, doch höre ich auf, ohne je angefangen zu haben.
Michael taucht wieder ganz auf und ich aplodiere ihm zu. Ein wenig sarkastisch, aber das scheint ihm nicht aufzufallen oder ihn gar zu stören.
Nach vielen Versuchen scheiter ich am Handstand. Ich habe es noch nicht mal geschafft richtig unter zutaucht, doch habe ich einen Nemo gesehen. Nun tun mir die Augen vom Wasser weh, doch das ist es mir das wert gewesen.
Nach unserer Abkühlung und Pause auf dem Strand, kommt Michael auf eine geniale Idee.
"Lass uns jetzt professionell tauchen gehen"
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