2. Kapitel
Jetzt könnte ich eine Umarmung brauchen, aber nicht von diesem jungen Mann vor mir, sondern von IHM. Eine Umarmung von ihm, die ich immer genossen habe. So tröstend und beschützend. Und jetzt? Jetzt umarmt mich keiner mehr und ich will es auch nicht. Keiner kann ihn ersetzten. Immer war er da und auf einmal nicht mehr. Auf einem Schlag war ich alleine.
Jeder normale Mensch würde weinen, doch ich habe nie eine Träne vergossen. Nie habe ich wegen etwas geweint. Weinen ist nur ein Zeichen der Trauer. Die Trauer kann man auch anders symbolisieren. Es gibt verschiedene Wege. Und ich glaube nicht, dass ich den schlausten gewählt habe. Aber wer ist schon schlau?
Sind die Leute mit einem 1,5 Noten Durchschnitt, die ein hohen IQ haben, schlau? Oder sind die Leute, die die Welt ein wenig verstehen, schlau? Jeder ist anderer Meinung.
Ich muss meine Arme verdecken, damit keiner merkt, wie es mir wirklich geht. Doch ist es sinnlos.
Wer interessiert sich schon dafür? Wen interessiert es schon, dass eine junge Frau sich ritzt? Genau, niemand. Wenn es keiner sieht, ist alles gut. Doch wenn nur einer sieht wie meine Arme aussehen, ist es schlimm.
Selbst weiß ich, dass es nicht gut ist. Aber ich kann nicht selber entscheiden was ich mache?
Der Psychologe fand das auch nicht so prickelnd.
Apropo Psychologe. Heute müsste ich eigentlich dort hin. Vielleicht gehe ich nochmal zu ihm. Ihm ein bisschen Gesellschaft leisten und zeigen, dass ich noch nicht gestorben bin. Leider. Sollte ich nicht froh sein, dass ich überlebt habe? Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich weiter leben kann, doch bin ich es nicht.
Mir wird etwas schwindelig. Ich will jetzt kein Schwächeanfall bekommen. Nicht jetzt. Zuhause ja, wo keiner ist und keiner mehr da sein wird.
Ich mache meine Augen wieder auf. Hoffentlich merkt keiner etwas von meinem Schwächeanfall. Meine Hände zittern wieder. Es soll vorbei gehen. Mein Leben soll wieder normal werden, wenn man es normal nennen konnte.
Es war ein wundervolles Leben, mit Liebe und was sonst noch dazu gehört.
Ich wurde geliebt und habe geliebt. Meine liebevollen Eltern und mein Zwillingsbruder waren alles für mich. Nicht zu vergessen, den tollsten Freund, den man haben konnte.
Viele sagen sowas, doch bei mir stimmt es. Er war fantastisch zu mir. Er konnte meine Gedanken lesen. Er hat alles für mich gemacht. Egal ob ich es wollte oder nicht. Mit ihm hätte ich alt werden und Kinder bekommen können. Das habe ich mir immer vorgestellt.
Doch von einen Tag auf den anderen war er weg, weg für immer. Als er im sterben war, musste ich ihm versprechen, dass ich mich nicht umbringen würde. Immer mal wieder hab ich mit den Gedanken gespielt das Versprechen zu brechen. Aber was wäre ich dann für eine Freundin?
Statt mich umzubringenn, hab ich mich dazu entschieden, mich zu verletzen. Doch seit Tagen ist schlimmer denn je. Ich halte es langsam nicht mehr aus. Viel zu wenig hab ich in der Woche gegessen. Es ist kein Wunder, dass ich dabei bin, umzukippen. Vielleicht ist es soweit, dass ich die Welt verlassen werde und zu meinem Schatz gehen kann. Und zum Rest meiner Familie.
Zu meinem Zwillingsbruder, der meine zweit wichtigste Person war. Er war mein Beschützer, mein bester Freund und meine beste Freundin. Einfach alles. Er hat mich getröstet, aber mich auch zum Lachen gebracht. Die Flachwitze fehlen mir. Die, die so schlecht sind, dass du trotzdem lachen musst, weil seine Lache urkomisch ist. Doch werde ich niemals mehr seine Lache hören können. Als Erinnerung habe ich nur noch die Fotos, Videos und Audios.
Zum Einschlafen, wenn ich überhaupt schlafe, mache ich immer das Lied an, was er für mich komponiert hat. Es ist das schönste Lied, was ich je gehört habe. Doch schmerzt es mich es zu hören, aber trotzdem beruhigt es mich. Es fühlt sich immer so an, als ob er noch für mich spielen würde. Als ob er noch immer am Klavier sitzen würde und spielt.
Selbst habe ich aufgehört zu spielen. Seit jenem Tag kann ich es nicht mehr ertragen in der Nähe eines Klaviers zu sein. Zu viele schöne und traurige Erinnerungen sind daran gefesselt. Es wäre komisch zu spielen und dann keine Kritik von meinem strengsten Lehrer zu bekommen, von meinem Bruder. Mein Bruder hat mir das Spielen beigebracht, nachdem er es gelernt hat. Als erstes wollte ich es gar nicht, danach habe ich es geliebt. Jetzt hasse ich es.
Ich vermisse ihn so sehr. Nie habe ich gedacht, dass es so enden wird. Immer habe ich uns beide auf der Veranda vorgestellt, wie wir unsere Kinder und Enkelkinder beim Spielen im Garten zu sehen. Meinen Ehemann neben mir und seine Ehefrau neben ihm. Händchenhaltend. Doch jetzt werde ich alleine dort sitzen. Ohne meinen Bruder, ohne meinen Ehemann, ohne meine Kinder und deren Kinder.
Ich werde alleine auf den Garten schauen, der nicht von lachenden Kinder besetzt ist. Ich werde alleine dort sitzen, ohne 3 Stühle neben mir.
Es wird kein Ehering an meiner linken Hand einen Platz finden. Dort wird es für immer kahl bleiben.
"Miss, Miss. Ist alles gut? Setzen Sie sich.", sagt der Unbekannte zu mir.
Ich öffne mühselig die Augen.
Blaue, besorgte Augen strahlen mir entgegen.
Warum ist er besorgt? Er kennt mich nicht.
"Alles ist gut. Mir ist nur etwas schumrig. Das wird schon wieder.", versuche ich ihn zu beruhigen.
Doch funktioniert es nicht. Er holt ein Stuhl und kommt zu mir hinter die Theke. Der Fremde drückt mich auf den Stuhl.
Was bringt es jetzt zu sitzen?
Es soll keiner mit bekommen wie es mir wirklich geht.
"Können Sie mich bitte in Ruhe lassen. Mir geht es gut. Ich bin nur müde und erschöpft. Es war eine langer Tag für mich. Nichts weltbewegendes. Trinken Sie ihre Cola, aber lassen Sie mich in Ruhe.", gifte ich ihn an.
Es tut mir leid ihn so anzufahren, aber sonst habe ich das Gefühl, dass er mich nicht versteht.
Ich stehe auf und trage den Stuhl schwankend weg.
Der Mann geht mir hinterher und setzt sich zurück auf seinen Platz.
Er sieht geknickt aus. Ich wollte das nicht. Es tut mir leid.
"Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verletzen. Bitte verzeihen Sie mir.
Ich bin nicht ganz, wie soll ich es sagen, menschenfreundlich. Nehmen Sie es nicht persönlich.", rede ich mich raus.
Ich war mal sehr menschenfreundlich, doch ändert die Zeit die Menschen. Ob es nur wegen dem Alter ist, oder ein Schicksalsschlag war. Irgendwann ist jeder anders, als er es einmal war.
Der Fremde sagt nichts dazu. Er legt viel zu viele Pfund auf den Tisch und geht. Ich fühle mich schuldig. Was ist wenn er sich das zu sehr zu Herzen nimmt?
Ich habe nicht das Recht einfach andere Leute so anzupflaumen.
Für einem Moment ist mir die Arbeit egal. Auf einem Bierdeckel schreibe ich eine kurze Nachricht.
Hoffentlich kann er meine geschmierte Schrift lesen.
Mit dem zu vielen Trinkgeld und dem Deckel laufe ich ihm hinter her. Schnell bin ich außer Puste. Zu lange habe ich keinen Sport gemacht, doch habe ich ihn fast eingeholt.
Die vielen Leute, an denen ich vorbei laufe, ignoriere ich. Es ist mir egal was sie denken und sagen. Ich muss den Typen einholen.
"Warte doch mal.", rufe ich ihm hinterher.
Tatsächlich hält er an und dreht sich um. Überrascht schaut er mich an, während ich zu ihm gelaufen komme.
Ohne ein Wort gebe ich ihn das was ich ihm geben wollte und drehe mich um. Diesmal gehe ich normal und laufe nicht wie eine verrückte.
"Wie heißt du?", fragt er hinter mir.
"Claire.", antworte ich und gehe einfach weiter.
Ohne mich nochmal umzudrehem gehe ich ins Restaurant.
Mein Chef hält mir eine Predigt und dann ist es wieder gut. Was er gesagt hat, habe ich nicht wirklich verstanden. Vielleicht weil ich einfach nicht bei der Sache bin.
Der restliche Arbeitstag lief ohne Ereignisse ab. Keiner ist mir auf die Nerven gegangen. Keiner meint mit mir zu reden. Nach meiner Schicht bin ich sofort gegangen. So wie immer halt. Ein einfaches Kopfnicken und gut ist. Heute bin ich fertig mit der Arbeit, doch morgen wird wieder alles von vorne anfangen.
Der ganze Tagesrhythmus.
Doch werde ich übermorgen nicht da sein.
Heute ist aber auch etwas anders als sonst. Statt jetzt in meiner Wohnung zu sitzen und irgendwas im Fernsehen zu gucken, sitze ich im Wartezimmer. Im Wartezimmer meines Psychologen.
Ich habe mich dafür entschieden ihm einen Besuch abzustatten.
Es wird ja wohl nicht so schlimm werden.
"Claire Prince, bitte.", ruft die Sekretärin.
Ich stehe auf und gehe zum Behandlunsgzimmer.
Ist das überhaupt eine Behandlung?
Mir werden nur Fragen gestellt, die ich beantworten soll. Ich finde diese Fragen blöd.
Immer diese Frage 'Wie geht es Ihnen heute?'.
Soll es mir fantastisch gehen, nachdem ich einen Monat nicht beim Psychologen war?
Mittlerweile ist der letzte Termin ein Monat her. Nach einem Monat geht es mir auch nicht besser.
Es heißt die Zeit heilt alle Wunden.
Doch stimmt es nicht. Man gewöhnt sich nur an den Schmerz.
Der Schmerz frisst dich von innen auf, bis er dein ganzen Körper überfallen hat. Und dann ist es vorbei mit dir.
Wann ist es bei mir soweit?
Wann ist es bei mir vorbei?
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