
16. Kapitel
"Hallo",flüstert er.
Ich runzel meine Stirn.
"Was soll das Michael?",frage ich ihn.
Mein Puls entspannt sich allmählich von dem Schock.
"Ich wollte dich eigentlich nur erschrecken, aber du hast ja nicht mal mit der Wimper gezuckt.", jammert er.
Seine Augen suchen den Augenkontakt zu meinem. Mir ist die Körpernähe bewusst, die wir zu einander haben. Wir berühren uns ganz leicht. Die kalte Mauer hinter mir ist unangenehm an meinem Rücken gedrückt.
"Abgehärtet, denke ich", lüge ich ihn an.
Eigentlich ist mir das Herz in die Hose gerutscht, doch jetzt geht's mir wieder gut. Nur bringt diese Nähe mich metaphorisch um. Es ist mir unangenehm. Gestern war es etwas ganz anderes.
"Aber weißt du, was mir Angst macht?",frage ich Michael. "Dass du schon wieder da bist, wo ich bin. Verfolgst du mich? Wenn ja, habe ich dir etwas getan?"
Er lacht. Anscheinend hat er gute Laune und das freut mich. Jedenfalls einer, der glücklich ist. Hoffentlich ist Michael das auch und tut nicht nur so. Das würde mich nur noch trauriger machen.
"Diesmal bin ich dir wirklich gefolgt, denn wir machen einen Ausflug"
Als Michael das ausspricht, wird sein Lächeln nur noch breiter. Hingegen bin ich eher skeptisch.
"Und wenn ich nicht will?"
"Das ist mir egal", lacht er.
Bevor ich auch nur ansatzweise noch etwas sagen kann, nimmt er seine Hand in meine und zieht mich gegen meinen Willen mit.
Eine Zeit lang lasse ich es mir gefallen, dass Michael mich durch die Gegend zieht, doch irgendwann will ich auch nicht mehr.
Ich reise mich von seiner Hand los und er guckt mich an, als ob gerade ein Einhorn vom Himmel gefallen ist.
"Wo willst du denn hin?", frage ich genervt.
"Suprise, Suprise", grinst er schon wieder. In seinen Augen ist etwas zu sehen, was für mich unerklärlich ist.
Michael zieht mich weiter durch die Gegend. Wir überholen viele Touristen. Ich weiß nicht, woher sie kommen. Ihre Sprache hört sich für mich einfach falsch an. Ihnen geht es wohl auch nicht anders, wenn wir Englisch sprechen. Da aber Englisch die Weltsprache ist, sollten sie sie einigermaßen können.
Es dauert eine Zeit, bis ich eine Vermutung habe, wohin wir gehen. Ob ich mich freuen soll, oder nicht, ist die Frage. Aber warum Michael mit mir das machen will, ist die entscheidene.
Immer näher kommen wir ans London Eye. Meine Vermutung bestätigt sich.
"Warum das Riesenrad?",frage ich. "Warum überhaupt?"
"Nur so", meint er, doch weiß ich, dass er mich anlügt. Ich spreche ihn nicht drauf an.
Wir stellen uns an der Schlange an. Verhältnismäßig sind nicht viele Leute da. Michael geht in Richtung Kasse. Mir fällt auf, das ich gar kein Geld dabei habe. Mist. Sonst habe ich immer etwas in meinem Portmonee, aber da ich nicht gerechnet habe, heute noch irgendetwas nach der Arbeit zu machen, habe ich es Zuhause liegen gelassen.
"39,94£, bitte", sagt die Verkäuferin.
Michael gibt ihr wortlos das Geld.
"Ich gebe dir das später zurück", flüster ich.
"Ich habe dich eingeladen und ich bin der Mann."
Das erinnert mich an David. So hätte er auch reagiert. Es gibt noch Gentlemans. Halleluja!
Nicht lange müssen wir warten, bis wir diese Kuppel betreten. Wir sind alleine. Wir haben unsere Ruhe, wofür ich echt dankbar bin. Es wundert mich. Vielleicht sehen wir beide so angsteinflössend aus.
"Hätte ich dir sagen sollen, dass ich Höhenangst habe?", frage ich Michael.
Es ist zu spät zum Flüchten. Das London Eye fängt an sich zu drehen.
"Was ist das schlimmste, was dir passiert ,wenn du Höhenangst bekommst?", fragt er hastig.
Ich muss nicht mal darüber nachdenken. Es kommt wie aus der Pistole aus mir heraus geschossen.
"Mir wird schwindelig unter anderem. Nicht zu vergessen bekomme ich eine Panickattacke, aber jetzt geht es noch. Ich bin sehr nervös"
Meine Hände zittern wie verrückt. Das nenne ich mal nervös sein.
Die Übelkeit kommt langsam angekrochen, aber hält sich noch im Hintergrund.
Michael schüttelt neben mir den Kopf. Etwas wie "hätte ich das vorher gewusst" höre ich aus seinen Mund sagen. Könnte aber auch "Pinguine sind toll" gewesen sein.
"Schließe die Augen, Claire."
Ich lasse mich drauf ein. Meine Hand klammert sich an das Medailon. Steven hatte auch Höhenangst. Er würde verstehen, wie es mir geht.
"Du bist wieder ganz weit weg von hier. Weist du noch das Meer? Genau da bist du wieder. Du hast nur eine Pause am Strand gemacht. Ein Harry Potter Buch liegt neben deinen Handtuch, worauf du liegst. Doch willst du nicht länger dort liegen, sondern zurück zum Wasser, zu den Wellen. Es sehnt sich nach dir und du nach ihm. Immer schneller gehst du dem Wasser entgegen, bis du bis zum Bauchnabel tief drin bist. Das Wasser ist immer noch klar. Nichts hat sich verändert. Rein gar nichts. Jetzt gehst du immer tiefer bist du nicht mehr stehen kannst. Ohne viel darüber nach zu denken tauchst du in die Unterwasserwelt ein."
Ich bin ganz in meiner Fantasie und merke nicht, dass wir immer weiter höher steigen.
"Nemos und Doris begrüßen dich wieder freudig, aber auf einmal siehst du etwas viel interessanters. Ein Delfin kommt in deine Richtung geschwommen. Ganz nah kommt er an dich ran. Du musst nur deine Hand ausstrecken dann kannst du ihn streicheln.
Du bringst deinen ganzen Mut zusammen und öffnest die Augen, damit du die schöne Aussicht siehst."
Und nochmal höre ich auf ihn und bin sprachlos.
Michael nimmt meine freie Hand. Diesmal nicht um mich durch London zu ziehen, sondern um mir halt zu geben.
"Alles ok?",fragt er.
Ich kann nur mein Kopf hoch und runter bewegen. Die Aussicht überwältigt mich sehr. Schon immer lebe ich in London und nie war ich auf dem Riesenrad. Einer der Gründe ist wohl meine Höhenangst. Aber der Kerl neben mir hat mir geholfen und ich achte gar nicht mehr darauf, dass wir mehr als hundert Meter vom Boden weg sind.
Ich sehe den Big Apple, die Tower Bridge und nicht zu vergessen den Sonnenuntergang. Den besten Sonnenuntergang, den ich je gesehen habe. Die Farben spielen ganz anders miteinander und die Londoner Attraktionen sehen ganz anders aus in der Dämmerung.
Automatisch schaue ich runter zum Boden. Viele Meter unter uns ist der Boden. Die Menschen sind klitzeklein. Soweit weg sind wir vom Boden, soweit weg, soweit weg.
Falscher Gedankenweg.
Richtig falscher Gedankenweg.
Ein sehr sehr schlechter.
'Ahhhhh', schreit es in meinem Kopf.
Meine Atmung ist unregelmäßig. Nur noch stoßweise ziehe ich die Luft ein und wieder aus.
So viele Meter kann ich runter fallen und doch ist es dumm.
Vor ein paar Tagen noch stand ich am Rand eines Daches, wollte runter springen und hatte keine Probleme mit meiner Höhenangst. Und jetzt bekomme ich eine Panickattacke.
Meine Hände fangen zu schwitzen. Die, die das Medailon erdrückt und die, die Michaels Hand zerquetscht.
"Guck nicht runter.", murmelt Michael. "Guck gerade aus. Spüre die Freiheit, die du hier oben hast. Spüre die Leichtigkeit. Keiner kann dir hier oben etwas antun. Keiner dieser Menschen, die dich immer aufs Neue verletzen. Die nicht merken, wie schlecht es in dir aussieht. Diese kannst du alle für einen Moment aus deinen Gedanken verscheuchen."
Es ist aber keiner auf der Welt mehr, der mich verletzt. Sie sind alle tot. Tot, tot und nochmals tot. Mausetot. Sie können nicht wieder kommen und werden es auch nicht. Ob sie es wollen oder nicht.
Die Angst verfliegt. Sie wird von innerlichen Schmerz übertrumpft. Ich fühle mich alleine, auch wenn ich dies nicht bin. Der junge Mann steht noch tapfer neben mir, aber wer ist er? Wer ist dieser Kerl? Was ist hinter dem Gesicht? Was ist seine Vergangenheit? Was hat er schon alles ertragen müssen?
Ich will weinen, ich will schreien, ich will mir weh tun, ich will sterben und dennoch bleibe ich ruhig stehen und mache kein Mucks. Alles in mir ist ein Tornado. Meine Gefühle wirbeln und wirbeln herum. Und in meinem Auge, der Ort wo es immer ruhig ist, ist Michael.
"Eigentlich wollte ich mit dir dort oben ein Foto machen", sagt Michael, als wir wieder festen Boden unter den Füßen haben. Einen kleinen Moment überlege ich, ob ich den Boden knutschen soll, aber dann entscheide ich mich dagegen.
"Ich halte nicht sehr viel von Bildern, aber wenn du möchtest, können wir eins vor dem Riesenrad machen. Es sieht nicht so schön aus, als ob wir es von oben gemacht hätten aber besser als nichts", meine ich und stelle nicht die Frage, die mir auf der Zunge liegt.
Warum wilst du ein Foto machen mit mir? Das wäre meine Frage gewesen, aber er hat bestimmt einen triftigen Grund dafür.
"Uhhh ja, dass wäre schön. Komm beeilen wir uns. Es ist gleich stockdunkel"
Michael holt sein Handy raus und entsperrt es. Sein Pincode ist mein Geburtstag, nur das Jahr ist anders. Wieder liegt mir eine Frage auf der Zunge, die ich runter schlucke.
Seine freie Hand legt er mir sachte auf die Schulter. Wie auf Knopfduck gehen seine Mundwinkel nach oben und ich tu ihm gleich. Meine Wangenmuskel tun schon weh, von den ganzen gelogenen Lächeln.
Das Foto sieht schön aus, aber es ist eine Lüge. Wir beide sehen glücklich aus, aber das bin ich nicht. Just im Moment fühle ich mich unbehaglich und nicht wohl. Ich will nur noch in mein Bett und dort Trübsal blasen.
"Gibst du mir deine Handynummer? Dann kann ich dir das Bild schicken", fragt er mich.
"Ich habe kein Handy und brauche auch keins", schockiere ich ihn.
Sein Gesichtsausdruck ist das beste, was ich seit langen gesehen haben. Einen Moment braucht er, um sich zu fangen.
"Du bist anders. Nicht nur, weil du schon so viel durch leben musstest. Noch nie habe ich jemand getroffen, der ungefähr in deinen Alter ist und kein Handy hatte.", erzählt Michael. "Ich finde das beeindruckend. Kein Handy haben in der Zeit, wo alle nur mit Smartphones durch die Gegend laufen. Persönlich könnte ich das nicht."
"Es gibt viel wichtigere Dinge, als Technik. Die Menschen machen nicht mehr die Augen auf. Alles was sie schätzen sind Followers, Likes und was sonst noch dazu gehört. Keiner denkt mehr an die wichtigen Sachen. Natürlich kann man ein Handy besitzen und die Socialen Medien, aber man sollte davon nicht beherrscht sein. Du scheinst mir ein aufmerksamer Kerl zu sein. Du läufst nicht mit geschlossenen Augen durch die Welt und das sind nur noch wenige. Ob mit Handy oder ohne spielt dabei gar keine Rolle. Ich habe kein Handy, weil ich keins brauche. Es gibt keinen mit dem ich Nachrichten austauschen kann. Und welcher Promi mit wem zusammen ist, interessiert mich herzlichst wenig. Sie sind auch nur Menschen. Die Tennies sollen nicht so ausrasten, wenn es neuen Tratsch gibt. Das meiste ist doch nur Schwachsinn.", halte ich meine kleine Rede, mit viel Inhalt.
Keiner von uns hat noch etwas zu sagen. Wir gehen nebeneinander durch die Londoner Straßen. Wir haben kein bestimmtes Ziel. Wir biegen mal links und mal rechts ein. Es ist Stockdunkel. Ich kann meine eigenen Hände nicht mehr vor Augen sehen. Kalt ist mir auch noch.
"Wohin gehen wir?",frage ich.
Michael schüttelt den Kopf.
"Keine Ahnung. Willst du nach hause?"
"Ja, ich will nach hause", flüster ich.
"Ok. Dann zeige mir den Weg"
Ich gehe voraus. Wir sind gar nicht mal soweit von meiner Wohnung entfernt. Es dauert geschätzt 10 Minuten Fußmarsch und ich bin froh, dass es so schnell geht.
"Sooo. Da wären wir. Meine Wohnung"
Ich präsentiere die Außemauer des Hauses. Michael lacht laut auf und meine Mundwinkel ziehen sich unmerklich nach oben. Aber nur kurz, dann senken sie sich wieder.
"Ich denke mal nicht, dass du mich in deine Wohnung rein bittest, was nicht schlimm ist, deswegen gehe ich auch mal nach Hause. Wir sehen uns"
Michael geht die Straße weiter entlang und dreht sich noch mal kurz um. "Wir sehen uns früher wieder, als du denkst", ruft er mir zu und verschwindet dann im Dunkel.
Verwirrt betrete ich meine Wohnung und schmeiße mich auf die Couch. Heute werde ich rein gar nichts machen. Mir keine Gedanken machen. Rein gar nichts.
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