1. Kapitel
Wie jeden Tag werde ich durch meinem Alptraum zur gleichen Zeit wach. Wie jeden Tag mache ich mir ein Kaffee um wach zu werden, obwohl ich nicht wach werden will. Jeden Tag betrachte ich mich im Spiegel und frage mich, warum?
Nie antwortet mein Spiegelbild.
Mich sehen nur braune, matte Augen an, die Trauer ausdrücken.
Wie jeden Tag gehe ich duschen und ziehe mich an. Wie jeden Tag, außer sonntags, gehe ich zur Arbeit.
Nicht freiwillig. Ich mache es nur, weil ich irgendwie Geld verdienen muss, für Essen und andere Sachen. Auch wenn ich das gar nicht mehr will.
Wer mich sieht, fragt sich sofort, was mit mir los ist. Ich würde es machen, wenn so jemand wie ich, an mir vorbei gehen würde.
Doch keiner verschwendet heutzutage noch Gedanken an jemanden, der dünn ist.
Mit tiefen Augenringe, die aussehen, als würden sie tätowiert sein. Als würden sie gar nicht mehr weggehen. Weggegangen sind sie schon lange nicht mehr. Überschminken hilft da auch nichts mehr.
Aber es gibt welche, die sich Schwarz unter die Augen tätowieren lassen. Auch wenn ich Tattoos schön finde und mir sogar morgen eins stechen lassen werde. Als Gedenken an meinen Liebsten, die übermorgen vor einem Jahr gegangen sind. Die vom Tod geholt wurden. Zu früh meiner Meinung nach.
Jede freie Sekunde denke ich darüber nach.
Was wäre, wenn es nicht passiert wäre?
Wäre ich noch bei ihnen, oder würde ich trotzdem mein Job machen und alleine wohnen? Würde ich wie geplant mein Schulabschluss haben und mein Traumberuf studieren?
Wäre ich wie geplant mit IHM im Urlaub gewesen, an meinem 18. Geburtstag.
Wieder viel zu viele Gedanken, die in meinem Kopf herumschwirren.
Wie jeden Tag, wenn ich zur Arbeit gehe. Ich wünsche mir, dass ich für ein Tag mein Kopf abschalten und es vergessen könnte. Diesen Tag würde ich genießen und danach so weiter leben wie ich es jetzt tue.
Was ich habe, kann man aber schon nicht Leben nennen. Jedenfalls keines, was schön ist.
Früher war es schön. Früher wo alles noch beim Alten war. Wo der 9. Juni noch nicht mein Leben verändert hatte.
Heute, der 7. Juni, zwei Tage vor dem Jahrestag, ist es schlimmer als sonst. Die ganze Woche ist es viel schlimmer. Ich verstehe so langsam, dass es die Realität ist und nicht einer meiner Fantasien.
An meinem Arbeitsplatz werde ich wie jeden Tag freundlich begrüßt. Und ich nicke nur, so wie immer und gehe hinter die Theke.
Ich arbeite als Kellnerin in einer Bar, die gleichzeitig ein Restaurant ist.
Das ist das Beste, was ich auf die schnelle gefunden hatte. Und dann hatte ich keine Lust mir was anderes zu suchen. Warum sollte ich mir auch was anderes suchen wollen?
Es wäre nur unnötig.
Ich trockene ein paar Gläser ab, als ein etwas älterer Herr sich gegenüber von mir hinsetzt.
Ich lasse ihm ein paar Minuten in Ruhe dasitzen, bis ich ihn frage, was er haben möchte.
Meine Kollegen würden es mit einem Lächeln fragen, doch mein Gesicht bleibt kalt. Die Stammkunden haben sich daran gewöhnt und mein Chef auch. Sie wissen nur nicht warum ich so bin und ich werde es ihnen auch nie sagen. Ich werde es niemanden sagen.
"Deine Handynummer, süße.", meint der Typ, dabei versucht er sexy zu klingen, dabei ist es eher das Gegenteil, was er bewirkt.
"Die werden Sie aber nicht bekommen.", sage ich emotionslos.
Solche Fragen bekomme ich mindestens einmal pro Tag.
Manche Fragen nett und andere eher ekelhaft. Einer war sogar schon aggressiv zu mir.
Die einen akzeptieren es, andere nicht. Ich verstehe nur nicht, was sie von einem kaputten Mädchen wollen. Erkennen sie es nicht? Haben die Menschen keine Augen mehr im Kopf, oder wollen sie es nicht wahr haben?
"Bist du dir sicher?", fragt er weiter.
Er widert mich an. Von Kopf bis Fuß. Vor allem sein Mundgeruch, den ich bis hier riechen kann. Anscheinend hat er schon vorher getrunken und das nicht wenig.
"Zu 100 Prozent. Und wenn sie jetzt nicht aufhören, werden Sie raus geschmissen.", antworte ich ihm.
Dabei schaut er mir auf die Brüste. Noch auffälliger geht es wohl nicht.
"Kevin!", rufe ich einen der Kellner.
Der besagte kommt sofort zu mir.
"Schon wieder?", fragt er.
Kevin weiß sofort Bescheid. Ich rufe ihn immer, wenn er mit mir Schicht hat und mir ein Gast zu aufdringlich ist.
Da ich heute überhaupt keine Lust drauf habe, rufe ich ihn heute etwas schneller als sonst. Doch heute geht es mir gar nicht gut. Schlimmer als sonst, wenn das überhaupt noch geht. Doch lasse ich es mir nicht anmerken. Was würde es mir auch bringen? Mitleid für etwas, für etwas, woran ich auch noch selbst dran schuld bin.
Ich nicke ihm als Antwort zu.
Kevin seufzt einmal und nimmt den älteren Heeren mit, der sich wehrt. Anscheinend hat er nicht verstanden, was er falsch gemacht hat.
Dummheit müsste wehtun, dann würde mehr als die Hälfte der Menschen mit schmerzverzehrten Gesichtern auf den Boden liegen.
Kevin ist groß und muskulös. Er hat grüne Augen und blonde Haare.
Sieht wie ein netter Kerl aus, aber im inneren ist er genau das Gegenteil.
Ich trockne weiter die Gläser ab, als wäre nichts passiert, dabei schaue ich die anderen Gästen beim Essen zu.
Viele sind mit ihren Familien, oder auch alleine da. Würde ich essen gehen, wäre ich auch alleine. Ich werde für immer alleine bleiben.
Bis ich zu ihnen kann, doch das kann oder wird noch viele Jahre dauern. Oder auch nur Tage oder Sekunden. Es könnte jeden Moment passieren.
Mein Herz muss einfach nur aufhören zu schlagen, dann könnte ich zu ihnen.
Ein neuer Gast setzt sich auf den Platz, wo der andere grade noch saß. Diesmal ist es ein junger Mann, nicht viel älter als ich. Er sieht auf den ersten Blick nett aus. Doch der erste Blick kann immer täuschen. Ich sehe auf den ersten Blick auch einfach nur müde und dünn aus, doch steckt viel mehr dahinter.
Man muss nur mein langärmliges Oberteil hoch ziehen, dann kann man das an den Narben und offenen Wunden erkennen.
Ich stelle das geputzt Glas hin.
"Was möchten Sie bestellen?", frage ich ihn.
"Können Sie mir eine einfache Cola geben?", fragt er müde, so wie ich mich fühle.
Ohne auf seine Frage zu antworten, schenke ich in einem Glas Cola ein und stelle es vor ihn hin.
Es kommt nicht sehr oft vor, dass alkoholfreie Getränke bestellt werden, vor allem von Leuten in meinem Alter.
"Dankeschön.", sagt er.
"Bitte.", sage ich leise, sodass er es wahrscheinlich nicht gehört hat.
Bitte zu etwas zu sagen, das selbstverständlich ist, ist unnötig.
Meiner Meinung nach. Doch meine Meinung ist immer etwas anders, als die von anderen. Ich bin nicht so wie die anderen. Ich bin anders, anders als andere.
"Sie sehen aus, als ob Sie traurig sind.", sagt der Gast.
Er ist der Erste, der mich je drauf angesprochen hat.
"Wie kommen Sie darauf?", frage ich ihn.
Ich betrachte ihn etwas genauer.
Er ist blond und hat diesen typischen Haarschnitt, der momentan von jedem getragen wird. Jeder macht den Trend nach, keiner geht seinen eigenen Weg.
Jedes Mädchen würde ihm zu Füßen liegen, nicht nur wegen seinen stahlblauen Augen. Jeder würde gerne mit ihm reden.
Ich bin nicht jeder. Ich interessiere mich nicht für ihn. Ich interessiere mich für keinen und keiner interessiert sich für mich. Außer diese ekelhaften Typen, die nur das eine wollen.
"Ihre Augen verraten Sie.", antwortet er auf meine Frage.
Ich kehre ihm den Rücken zu und tue so, als ob ich etwas suchen würde.
"Da sind Sie wohl der einzige, der diese Ansicht hat."
Er ist der Einzige. Der Einzige, der etwas mit bekommen hat . Er, der mich nur 5 Minuten gesehen hat, merkt es als erstes.
Nicht meine Mitarbeiter die ich bald 1 Jahr, fast jeden Tag sehe. Sie denken, dass ich einfach unfreundlich und müde bin. Wie gesagt auf den ersten Blick sieht alles anders aus, als es in Wirklichkeit ist. Um den jungen Mann wieder ins Gesicht zu sehen, drehe ich mich zu ihm um.
"Warum sind sie sich da so sicher?", frage ich ihn.
"Es ist nur eine Vermutung.", antwortet er mir.
"Vermutungen sind meistens falsch."
Aber nicht immer, sage ich mir in Gedanken. Ich würde nur ein anderes Wort für Trauer nehmen. Eher sowas wie Sehnsucht. Sehnsucht nach meinen Liebsten, nach meinen Liebsten, die ich so vermisse. Wofür ich selbst verantwortlich bin.
"Aber nicht immer.", meint er zu mir.
Kann der Fremde etwa Gedanken lesen?
ER konnte das immer. Immer wenn ich was wollte, mir was fehlte, oder etwas anderes war, wusste er es.
Immer hab ich mich gefragt warum er das konnte. Nie habe ich eine vernünftige Antwort bekommen.
Wenn überhaupt "Weil ich es kann", oder " Ich kenne dich einfach gut", oder " Du bist ein offenes Buch für mich".
Und jetzt werde ich es nie erfahren. Alles ist meine Schuld, einfach alles. Die Erinnerungen kommen wie so oft hoch. Wie sie alle am Boden liegen. Überall ist Blut. Zu viel rotes Blut.
Ich bin dazwischen. Zwischen den ganzen Toten. Zwischen den Toten, die ich so geliebt habe und immer noch liebe.
Ich muss mich an der Theke fest halten, um nicht umzukippen. Immer passiert mir das, wenn ich daran denke. Freiwillig denke ich nicht daran. Immer wieder kommen die Bilder hoch und immer wieder versuche ich es zu unterdrücken.
Mein Psychologe sagt, ich soll genau das Gegenteil machen. Ich soll Erinnerungen einfach über mich ergehen lassen. Irgendwann sollen sie nicht mehr urplötzlich auftreten.
Es hat nach Monaten nichts geholfen. Deswegen unterdrücke ich sie lieber, als alles wieder zu erleben. Mir ist egal was mein Psychologe dazu sagt. Ich gehe nicht mehr dahin.
Es bringt mir nichts.
Die ganze Zeit auf einem alten Sessel zu sitzen und nur über diesen einen Tag zu reden macht mich krank. Es hat mich kränker gemacht, als ich es anfangs war. Jetzt bin ich verloren. So verloren, wie ich nie gedacht hätte.
Und keiner kann mir helfen.
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