
Kapitel 6 Vergangenheit
„Was machst du, Eurus?“, fragte ich Eurus, die sich mit ausgestreckten Armen im Kreis drehte.
„Ich bin ein Flugzeug“, rief sie mir zu und kletterte auf die Reste einer Mauer, über diese sie dann balancierte.
Der Himmel war bewölkt und kündigte baldigen Regen an. Einzig die Krähen hüpften noch über die Wiese, um sich die Regenwürmer zu sichern, die bald aus der Erde kriechen würden.
Ein einsamer Ort, zu dem die Ruinen einer gefallenen Burg passten.
Ich drehte mich um und sah zu Mycroft und Sherlock, die bei ihren Eltern auf einer Decke saßen. Sie waren bereits dabei einzupacken. Die Mutter der drei winkte mir zu und lächelte.
Ich wandte mich zurück zu Eurus um, die plötzlich verschwunden war. Verwundert lief ich los, um sie zu suchen, als sie aus einem Gebüsch gesprungen kam und sich auf mich drauf setzte. Ich verzog das Gesicht, bei dem Gefühl der Nässe, von der matschigen Erde, die sich in meinem Pullover fest saugte.
„Lass uns etwas anderes spielen!“
Grinsend saß sie auf mir.
Ihr Haar, zu zwei Zöpfen hoch gebunden, wurde, vom Wind der aufkam, umhergewirbelt. Sie war ganz zerzaust.
Eurus kindliches Lächeln, das so unschuldig war, lehrte mich das Fürchten und brachte mir bei, niemandem zu vertrauen, der lächelte.
In der nächsten Sekunde zog sie ein Messer hervor.
„Lass uns Täter und Opfer spielen! Du bist das Opfer!“, befahl sie und umgriff mit beiden Händen den Griff des Messers, das sie mit einer schnellen Bewegungen auf mich zu bewegte. Ich war so erschrocken, dass ich sie von mir runter schubste. In dieser Bewegung streifte die Klinge mich unterhalb meiner Rippen. Sie hinterließ eine lange Narbe unterhalb meiner Rippen, auf der rechten Seite meines Bauches.
Während ich davon lief, spürte ich das warme Blut, welches von meiner Kleidung aufgesogen wurde, wie von einem Schwamm. Der scharfe Schmerz der Schnittwunde brannte sich mir ins Gedächtnis.
„Hilfe!“, schrie ich panisch und suchte Schutz bei Eurus‘ Familie. Zuerst lachten sie und dachten, wir würden nur harmlos Fangen spielen, doch dem war nicht so. Zum Glück war ich schneller als Eurus.
„Eurus, Stopp!“, rief ihre Mutter und hatte das Messer, als solches in der Hand ihrer Tochter, erkannt. Entrüstet blieb diese stehen und sah in die Runde. Ich hatte mich derweilen hinter Mycroft versteckt, der dies nicht ganz verstehen konnte.
Ein wenig später saß ich mit Mrs. Holmes in ihrem Badezimmer, wo sie mich verarztete. Im Hintergrund hörte ich Eurus‘ Schreie, weil ihre Eltern sie in ihrem Zimmer eingesperrt haben.
„Es tut mir furchtbar leid. Eurus hat Phasen in denen sie…“ Ich schüttelte nur den Kopf und stand auf, als sie mich fertig verbunden hatte.
„Deine Mutter kommt dich nachher abholen. Ich kann dich aber auch nach Hause bringen und dort mit dir auf deine Mutter warten.“
„Eurus macht mir keine Angst.“ Ich zog mir meinen einst weißen Pullover wieder an und verließ das Badezimmer. Das Blut war eingetrocknet und machte den einst weichen Stoff steif.
Ich kam im Wohnzimmer an und sah Mycroft, Snacks essend, auf dem Sofa. Er schaute zum Fernseher, in dem gerade eine Wissenschaftssendung lief.
Als er mich bemerkte hielt er mit seiner Hand, die er für den nächsten Bissen zum Mund geführt hatte, inne.
Er verfolgte meine Schritte, mit seinen dunklen Augen, die zu dem freien Platz neben ihm führten. Er trug immer noch den Matsch braunen Pullover mit dem grauen Hemd darunter. Dazu eine noch dunklere braune Hose und gelbe Gummistiefel, die bis zum Sofa eine Spur aus Matsch hinterlassen haben.
„Willst du nicht nach Hause?“, fragte er und aß weiter. Dabei krümelte er mit seinen Chips alles voll.
„Warum? Zuhause wartet niemand", erklärte ich und lehnte mich zurück, dabei schielte ich auf die Flecken meines Pullovers. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, was mich nicht daran hindern konnte zu zittern.
„Nimm dir Kleidung von Eurus“, kommentierte Mycroft, der mein Unwohlsein wegen des Drecks bemerkt hatte.
„Mach dich nicht lustig über mich.“
Mycroft hörte auf zu knabbern und legte die Tüte beiseite. Ich sah ihm nach, als er aufstand und die Treppe hoch lief, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden war.
Mir fiel nichts besseres ein, als den Fernseher an zu sehen. Von der Wissenschaft wechselte das Programm zu einer Doku über das deutsche Kaiserreich zur Zeit der Römer und Germanen.
Es dauerte nur ein paar Minuten, in denen ich mich in der Sendung verloren hatte, bis Mycroft plötzlich wieder neben mir saß und mir einen Stapel aus Kleidung reichte.
Ich erkannte allein an der Farbe, dass es seine Kleidung war. „Danke.“
Sofort zog ich mir den Pullover aus und griff zu dem weißen Hemd, das mit auf dem Stapel lag.
„Du kannst doch nicht, während ich hier sitze…!“, fuhr mich Mycroft an und beendete seinen Satz nicht, womöglich aus Scham.
Sein Gesicht nahm einen tiefen Rotton an, während er zur Seite sah. Ich wusste, dass dort aber ein Spiegel hing.
„Tut es sehr weh?“, fragte er, mit dem Blick auf meinen Verband. Ich knöpfte das Hemd zu und ließ vier Knöpfe offen. Es war offensichtlich eines der Hemden, aus denen Mycroft herausgewachsen war, weil er so dick war. Über dem Hemd zog ich mir die braune Weste an.
„Nur wenn ich mich beuge oder strecke“, erklärte ich ihm und zog mir meinen dreckigen Rock aus, um mir die braune Hose an zu ziehen.
Als ich fertig war, kam Mycrofts Mutter ins Wohnzimmer, vielleicht war sie auch schon länger anwesend gewesen und ich hatte sie nicht bemerkt, und musterte uns beide mit irritiertem Blick.
„Eyris, deine Mutter sitzt in Liverpool fest. Wegen eines Sturms, sind alle Züge und Straßen gesperrt“, erklärte sie mir und ging vor mir in die Hocke.
„Sie wollen mir jetzt anbieten, dass ich hier essen und schlafen darf, bis jemand kommt, um mich ab zu holen, aber das brauchen Sie nicht. Ich kann mir Brot Zuhause machen und besser schlafen kann ich dort auch“, erklärte ich ihr und stand auf.
„Ja, dass sagte mir deine Mutter auch. Aber Eyris, du bist hier immer willkommen. Eurus tut es auch furchtbar leid, was sie getan hat“, log sie. Eurus hatte keine Schuldgefühle diesbezüglich. Ich sah zu Mycroft, dessen Blick leer schien, während er wieder im Fernsehprogramm versunken war.
„Vielen Dank, Mycroft“, sagte ich und sah ihn nur abwesend mit der Hand winken.
„Dann lass mich dich wenigstens noch nach Hause fahren. Es regnet in Strömen.“ Ich sah zu Mrs. Holmes nach oben und lächelte. „Ein Schirm reicht mir, danke. Machen Sie sich keine Umstände“, bat ich und lief zur Tür, wo ich mir meine weißen Gummistiefel anzog. Mrs. Holmes gab mir einen Schirm und sah mich besorgt an.
„Es ist kein Gewitter und weit ist es auch nicht bis nach Hause. Ich kenne den Weg!“, sagte ich beruhigend und spannte den Schirm auf, als ich den ersten Schritt nach draußen setzte.
Ich kam ein paar Schritte weit, da bog der Wind meinen geliehenen Schirm nach vorne, sodass er unbrauchbar wurde.
„Vielleicht fahren Sie mich besser doch“, sagte ich und strich mir die nassen Haare aus dem Gesicht.
Mit einem Kopfschütteln lief Mrs. Holmes zum Auto. Ich folgte ihr und stieg bei der Beifahrerseite ein. Während sie noch trocken war, da sie unter der Markise zum Auto gegangen war, war ich komplett durchnässt.
Sie schaltete die Heizung ein, bevor sie in gedrosseltem Tempo los fuhr. Der Regen verschlechterte die Sicht, trotz Scheibenwischer.
„Mycroft hat keine Freunde, oder?“
Mrs. Holmes blickte kurz zu mir, konzentrierte sich dann weiter aufs fahren.
„Ich befürchte nein. Musgrave Manor ist ein einsamer Ort. Hier gibt es kaum Kinder. Zumal Mycroft nicht sonderlich am Kontakt zu anderen Menschen interessiert ist.“
„Das verstehe ich. In der Schule spielen die Kinder immer Streiche und prügeln sich.“ Sie nickte und beugte sich nach vorne, als würde es ihr die Sicht in der Dunkelheit erleichtern. Die Scheinwerfer waren nicht besonders hell.
„Du scheinst ihn zu mögen“, sagte sie und wirkte immer noch angespannt. Ihre Hände hielten das Lenkrad viel fester als nötig.
„Er nervt jedenfalls nicht. Sherlock will immer Pirat spielen und ich soll immer über die Planke springen“, beschwerte ich mich und sah aus dem Fenster.
Ein Blitz erhellte den dunklen Himmel.
Es war kaum etwas zu erkennen, der Regen war zu stark.
„Eurus geht es nicht gut, oder?“
Sie zuckte spürbar zusammen. Als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich auf Eurus zu sprechen kam.
„Nein… Nein, ihr geht es nicht sehr gut.“
„Das ist schade. Sie ist meine einzige Freundin.“
Ihre Hand berührte meinen nassen Schopf und ließ mich zurückweichen. Mit großen Augen sah ich sie an.
„Ich mag nicht gestreichelt werden.“
„Nein, natürlich magst du das nicht“, murmelte sie bedrückt.
Es herrschte bedrückende Stille zwischen uns. „Da vorn ist es“, durchbrach ich das unangenehme Schweigen nach fünfzehn Minuten. Mrs. Holmes fuhr mich bis zum Haus und parkte das Auto so, dass ich ohne noch nasser zu werden, ins Haus kam.
„Auf Wiedersehen“, sagte ich schnell und verließ den Wagen. Die Kälte ließ mich sofort zittern. Schnell hatte ich die Eingangstür hinter mir gelassen, ohne mich noch einmal nach Mrs. Holmes um zu sehen, die offenbar noch gern ein wenig mit mir gesprochen hätte, doch das konnte ich nicht.
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