I
Was ist schlimmer als ein erster Schultag? Ein erster Schultag mit Leibwächter.
Seriously. Warum? Ich bin ein ganz normales, siebzehnjähriges Mädchen, das zur Schule fährt. Doch scheinbar darf ich das nicht alleine. Bisher waren es immerhin meine älteren Brüder, die auf mich aufgepasst haben. Und ganz früher war es meine Mutter, die uns alle zur Schule gebracht hat. Aber heute ist der erste Schultag, an dem ich ganz alleine zur Schule fahre.
Oder auch nicht, denn dieser bescheuerte Kerl sitzt ja hinter mir. Ehrlich, normalerweise hätte ich mehr Angst vor ihm, als vor irgendwem sonst in diesem Bus. Zumal ich weiß, dass er Kräfte hat. Aber das ist nun mal das Problem: Alle in meiner Familie haben schon Kräfte, nur ich noch nicht. Ich bin auch die Jüngste, da ist das wohl kein Wunder, aber trotzdem. It sucks.
Mein Bruder Brian hat vergangenen Sommer sein Abitur gemacht und ist danach direkt ins Familienunternehmen eingestiegen. Wie mein Vater es geplant hatte. Übrigens plant er dasselbe noch für mich. Spätestens zum Abitur sollte ich meine Kräfte also haben. Wobei man das nicht beschleunigen kann und ich soll nicht zu traurig sein, wenn es noch ein Jahr länger dauert bei mir, solange kann ich ja an einer Fernuni studieren, bla bla bla.
Ich hasse es. Es kotzt mich an. Immer die Kleine zu sein, die beschützt werden muss. Nie wirklich ich sein zu dürfen und immer an die Familie denken zu müssen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit meinen Vater sagen zu hören: »Meine Tochter wird einmal zur größten Beschützerin aller Frauen in Kasparshafen.«
Okay, das klingt schon cool und so, aber ich will nicht seine Beschützerin aller Frauen sein. Wisst ihr, was ich meine? Er ist so der Vater aller ›Superhelden‹ und hat an der Elbe seine eigene Stadt gebaut, um seine Macht zu demonstrieren, aber manchmal hat er echt schräge Ansichten. Naja, und deswegen will ich eigentlich nicht für ihn arbeiten. Außerhalb seiner Familie gelten Frauen für ihn als beschützt, wenn es ein Nottelefon gibt, wo sie nach Vergewaltigungen anrufen können. Egal, ob jemand rangeht oder nicht. Man kann ja eine nette Wartemusik einbauen.
Aber so schlimm das jetzt klingen mag, das ist nicht die schlimmste Eigenschaft meines Vaters. Wer so ein paar Comics kennt, weiß, dass die Aussicht auf übermenschliche Kraft oder ewiges Leben für den Cliché-Deutschen quasi seine Achilles-Ferse ist. Und aus irgendeinem Grund ist der Vergleich mit dem Griechen Achilles hier lustiger, als er sein sollte...
Naja, jedenfalls ist es keine gute Idee, wenn man im demokratischen Deutschland plötzlich einen Mann hat, der nach einem Unfall im Kernfusionsreaktor zum Übermenschen wird. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen wurde mein Vater nämlich von diversen Menschen als neuer, parteiloser Bundespräsident vorgeschlagen. Und seit seiner Wahl haben wir Personenschutz, solange bis wir selbst Kräfte haben.
Wie das mit den Kräften funktioniert? Nun, das weiß keiner. Meinen Vater interessiert es nicht und darum kümmert sich keiner darum. Denn er tötet jeden, der das untersuchen will. Fakt ist aber, dass alle, die damals bei diesem Reaktorunfall in einem Umkreis von fünf Kilometern anwesend waren, entweder innerhalb von Sekunden gestorben sind oder mittlerweile Kräfte entwickelt haben. Alle bis auf mich. Ich bin die letzte. Ich war damals zwei und meine Mutter war gerade schwanger. Wie oft musste ich mir schon den Satz anhören: ›Wie froh ich doch bin, dass ich noch vor dem Unfall eine Tochter bekommen habe...‹
Denn – oh Wunder! – meine Eltern können seitdem keine Kinder mehr bekommen. Und ich habe den starken Verdacht, dass wir anderen das auch nicht können. Aber wie ich sagte: das erforscht ja keiner.
Früher mit Brian hat das Bahnfahren mehr Spaß gemacht. Brian hat immer ein Spiel gekannt, das gerade Spaß gemacht hat und vor allem hat er bis letzten Frühling auch gut meine Zweifel an unserem Vater verstanden. Aber seit Vater zu Ostern zu Hause war und sie sich eine halbe Stunde unterhalten haben, ist Brian wie ausgewechselt. Er ist zu einem verdammten Echo unseres Vaters geworden.
Und damit kommen wir auf das größte Problem zurück: Mein Vater ist deutsch, sehr stark und in letzter Zeit hat ihn der Nationalstolz gepackt. Sein aktuelles Ziel ist, Deutschland ›wieder‹ zum weltweit bedeutendsten Industriestaat zu machen. Als ob es das jemals war.
Dabei vergisst der liebe Herr Superheld nur leider die Umwelt. Denn statt etwas neues zu entwickeln, setzt der alte Sturkopf auf ›Bewährtes‹. Und bewährt haben sich offenbar Autos und Panzer.
Sehr hilfreich scheint da auch mein ältester Bruder Tom zu sein, der mit Geologie, tektonischen Platten und allerlei anderem Gedöns Kohlenstoffbasierte Bodenschätze ›produzieren‹ kann. Und ja, das habe ich mir nur zusammenreimen können, weil ich im Chemie-Leistungskurs bin.
Meine große These ist nämlich, dass alle Kräfte, die es gibt, etwas mit den Elementen zu tun haben: Wasser, Luft, Erde, Feuer. Jede Superkraft ist in der Lage, mit einem dieser Elemente zu interagieren und seine Gegebenheiten nach dem Willen des Trägers nutzen zu können. So stelle ich mir das vor. Und in dem Fall hätte ich am liebsten Fähigkeiten der Luft. Denn dann könnte ich fliegen.
Ich stelle mir vor, dass man dann die Atome der Luft unter einem zusammenrufen kann, damit sie einen tragen können. Und dann fliegt man wie auf einem Teppich, den niemand sehen kann. Es gibt auch einige Superhelden, die fliegen können, doch ich durfte noch keinen davon persönlich kennenlernen. Ohnehin darf ich niemanden kennenlernen. Nicht mal mit meinem Bodyguard da hinten darf ich reden. Stattdessen muss ich brav auf meine Kräfte warten, um dann in die Firma meines Vaters einzusteigen, die mittlerweile meine Mutter führt. ›Kaspar & Partner‹. Die absolute Dienstleisterfirma. Egal welche Dienstleistung, für den richtigen Preis kannst du sie kriegen. Vater sollte mich zur Werbetexterin machen.
Mein Bodyguard ist übrigens eingeschlafen. Es merkt vielleicht nicht jeder, aber er hat seine Zeitung schon wirklich lange nicht mehr umgeblättert. Naja. Ein Verlust ist es wohl nicht. Ich brauche ihn ja nicht wirklich.
Und genau dieser Anblick des schlafenden Bodyguards brachte einen kleinen Stein ins Rollen. Im Nachhinein war es wohl wirklich das Einschlafen dieses Mannes, das ›war wie das Fallen kleiner Steine, das eine Lawine im Gebirge einleitet‹. Um Gandalf zu zitieren.
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