vi. die orphische hymnos
Stimmen dringen zu mir hindurch. Erst leise, doch dann werden sie immer lauter, bis ich sie erkennen kann.
»Tony? Bruce?«, flüstere ich mit krächzender Stimme. Mein Mund ist so trocken, als hätte ich seit Tagen nichts mehr getrunken.
»Warte!« Höre ich die besorgte Stimme von Bruce. Das Licht blendet mich auch durch meine geschlossenen Augen, weswegen ich sie zu behalte, als ich spüre, wie jemand mein Kopf vorsichtig anhebt. »Trink«, werde ich aufgefordert und spüre ein Glas an meinen Lippen. Ich öffne sie einen Spalt und nehme die kostbare Flüssigkeit in mir auf.
»Was ist passiert?«, will ich wissen und lasse meinen Kopf wieder auf das weiche Kissen gleiten. »Sollten wir das nicht eher dich fragen, Dornröschen?«, mischt Tony sich ein.
Bei dem Spitznamen, den Natasha mir schon gegeben hat, muss ich leise brummen. Langsam öffne ich meine Augen. Tränen schießen in meine Augen und schnell presse ich sie zusammen, bevor ich es ein weiteres Mal versuche und meine Sehkraft sich langsam verschärft.
Bruce und Tony stehen beide vor mir. Sie tragen nicht mehr ihre Uniform, sondern haben sich ihre normale irdische Kleidung übergezogen.
»Passiert das öfter?«, will Bruce wissen und die Art, wie er seine Brille zurechtrückt, mich durch die Gläser ansieht und das Klemmbrett, das er in seiner Hand hat, erinnert mich an einen Arzt. An so einen, wie aus der einen Serie, die Thor mir gezeigt hat, nachdem Jane ihn zuvor gezwungen hat.
»Ich benutze meine Kräfte nicht allzu oft. Sie erschöpfen mich viel zu schnell«, erwidere ich und immer noch spüre ich, wie mir die Kraft fehlt. »Konntest du sie schon mehr als dreimal benutzen?«, will dann auch Tony wissen.
»Höchstens vier«, ich zucke mit meinen Schultern, bevor ich meine Beine aus dem Bett schwinge. Immer noch trage ich meine dreckigen Klamotten von der Mission, aber irgendwie bin ich froh, dass mich keiner der Avengers ausgezogen hat.
»Was ist passiert, nachdem ich... Nun ja, nachdem ich umgekippt bin?«, will ich wissen und klemme nervös meine Lippen zwischen meinen Zähnen. Es war meine erste Mission, das erste Mal, dass ich mich beweisen konnte und ich verliere das Bewusstsein... Wenn das nicht ein guter Start ist.
»Bucky stand hinter dir und hat dich aufgefangen, bevor du zu Boden fallen konntest und diese komische Sekte... Ich gebe es nicht gerne zu, aber sie sind so schnell wieder verschwunden, wie sie auch aufgetaucht ist.« Tony sieht ratlos aus, während er vor der Art Bett, auf der ich liege, auf und abgeht.
Mich wundert es, dass es ausgerechnet Bucky war, der mich aufgefangen hat. Es ist egal, dass er mir am nächsten stand, so wie ich ihn bisher kennengelernt habe, hätte ich erwartet, dass er mich einfach fallen lässt. Doch vielleicht steckt doch ein Körnchen Gutes in seiner harten Schale, die er so verkrampft versucht, aufrecht zu erhalten.
»Ich sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht«, murmle ich und winkle meine Beine an, schlinge meine Arme darum und vergrabe meinen Kopf. Die Helligkeit strengt meine Augen an, weswegen ich sie wieder schließe.
»Dürfen wir vielleicht ein paar Tests mit dir durchführen?«, will der Wissenschaftler vorsichtig wissen. »Ich bin keine Ratte«, erwidere ich und nervös lacht er.
»Das wollte ich damit nicht ausdrücken, Celeste. Aber was weißt du eigentlich über deine Kräfte?«, fragt er weiter, was mich meinen Kopf heben lässt.
»Dass ihr Geheimnis mit meinem Planeten gestorben ist.« Meine Stimme ist leise und kraftlos. Dennoch verstehen die beiden Männer vor mir jedes einzelne Wort und kurz herrscht Stille, die sich keiner traut zu unterbrechen.
Das Training und die darauffolgende Mission hat uns so sehr abgelenkt, dass ich nicht mehr darüber nachgedacht habe, dass keiner so wirklich weiß, woher ich komme. Höchstwahrscheinlich denken alle, dass ich ebenfalls eine Asin bin, weil es alle denken. Und es mag sein, dass ich mehr mit Asgard verbinde, als mit Bhati, meinem Heimatplaneten, aber in meinem Inneren werde ich immer die Tochter des Lichts bleiben.
Diejenige, die das Geschenk der Göttin Pandia bekommen hat und diejenige, die sie nicht zu kontrollieren weiß.
»Bei einer Sache kannst du dir aber sicher sein. Doktor Stark und Doktor Banner sind die Besten in ihrem Gebiet!« Versucht Tony es als erster und mit seinem eigensinnigen Humor und seinem charmanten Lächeln, schafft er es tatsächlich auch, mir ein kleines Lächeln zu stehlen.
»Ein Versuch ist es wert«, gebe ich mich geschlagen. So schlimm kann es doch gar nicht werden, oder?
»Du bist bei uns in guten Händen!«, verspricht Bruce, was mir nur ein leises ›Ich hoffe, ich bereue es nicht‹ entlockt.
»Aber nicht jetzt«, spricht Tony und dreht sich um. »Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich könnte gerade Berge verdrücken!«
Tony und Bruce gehen voran, während ich ihnen etwas langsamer folge. Ich setze Schritt vor Schritt. Ich spüre, wie die Kraft langsam in mir zurückkommt, als wir einen riesigen Raum betreten. Auf der rechten Seite befindet sich eine riesige Glasfront, die den Blick auf eine große Terrasse zulässt. Auf der anderen Seite des Raums befindet sich eine offene Küche, in der Clint gerade in einem riesigen Topf rumrührt.
Ein leckerer Geruch, den ich nicht identifizieren kann, dringt in meine Nase und mein Magen beginnt zu knurren. Seitdem ich auf der Erde bin, habe ich nichts mehr zu mir genommen.
»Spaghetti Bolognese«, erklärt Natasha, die gerade den Tisch gedeckt hat und meinen fragenden Blick bemerkt. »Es riecht wirklich gut«, erwidere ich und lasse mich neben Bruce auf einen Stuhl nieder.
»Clint mag ein guter Bogenschütze sein, aber ein noch besserer Koch«, pflichtet Thor ihm bei, während seine blauen Augen zur Küche huschen, wo Clint gerade den dampfenden Topf zu uns rüber bringt.
»Ich fühle mich manchmal wie eine Mutti«, brummt dieser, bevor er den Topf in die Mitte des Tisches stellt. Neugierig erhasche ich einen Blick auf die goldfarbenen länglichen Teigteile. »Und wir lieben Mutti-Legolas!«, erwidert Tony, bevor er schon nach einer Kelle angelt und sich etwas der Spaghettis (etwas ist untertrieben, sein gesamter Teller quillt förmlich über) auf seinen Teller häuft.
»Lass noch was übrig!«, beschwert Charlotte sich und klaut dem verdutzten Tony die Kelle aus der Hand, um sich selbst etwas auf ihrem Teller zu machen.
»Sie sind, wenn es ums Essen geht, schlimmer als Tiere«, murmelt Bruce an meiner Seite, was mich leicht lächeln lässt. Das hat er gut zusammengefasst.
»Danke«, sage ich zu Natasha, die zu meiner Rechten sitzt und mir, nachdem sie sich selbst etwas auf ihren Teller gemacht hat, die Kelle gibt. Wie Natasha, mache ich mir nicht so viel wie die Männer auf meinen Teller, bevor ich sie weiter an Bruce gebe.
Neben Bruce sitzt Steve, neben ihm Bucky und die letzten im Bunde sind Thor und Clint. Letzterer setzt sich mit einem weiteren dampfenden Topf hin. Die Sauce wird genauso verteilt wie die Nudeln und Clint ist am Ende froh, dass er überhaupt etwas von der Bolognese abbekommt.
»Will noch jemand ein Tischgebet sprechen?«, fragt Clint. Tony, der sich gerade eine riesige Gabel mit Nudeln in den Mund gestopft hat, sieht auf. Die Nudeln fallen ihm fast aus dem Mund. Charlotte Indes wirft dem Milliardär nur einen genervten Blick zu, bevor sie mit ihren schönen blauen Augen rollt.
»Essen wir einfach«, brummt sie leise.
Als hätten die anderen nur darauf gewartet, fällt Schweigen über den Tisch, der nur durch das zufriedene Gekaue der Avengers unterbrochen wird. In meinem Mund findet eine Geschmacksexplosion statt, als ich die verschiedenen Aromen der Gewürze auf meiner Zunge spüre.
Ich kann es nicht beschreiben, aber das Essen auf Asgard ist weniger Geschmacksintensiv und eher leichter. So schnell wie noch nie habe ich meinen Teller aufgegessen. Satt und zufrieden lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. Das ist das, was mein Körper gebraucht hat.
Auch die anderen Avengers beenden ihr Essen ziemlich schnell, doch anstatt, dass einer nach dem anderen aufspringt, bleiben alle noch sitzen.
Man spürt, dass die Mission jedem noch in den Knochen hängt.
»Wir sollten die Fakten uns vielleicht genauer ansehen.« Charlotte ist die, die die Stille zwischen uns unterbricht und sofort hat sie die Aufmerksamkeit von uns allen. »Viel gibt es da aber nicht, oder?«, fügt Thor an.
»Die wichtigste Frage ist doch, was sie genau von uns wollen«, merkt Natasha und tippt sich auf ihre vollen, roten Lippen, während sie nachdenkt. »Sie wollen die Avengers zerstören«, erwidere ich.
Es ist ziemlich klar, was ihr Ziel ist. Was aber nicht klar ist, sind ihre Motive.
»Ja, das mag sein. Aber wer sind die Nemesis? Wer ist ihr Anführer?«, stellt Clint die Fragen, die sich jeder in diesem Raum stellt.
»Würde eine Liste von Feinden vielleicht helfen? Leute, die euch schon in der Vergangenheit schaden wollten und sich nun dieses Kostüm überlegt haben?«, frage ich und Charlotte prustet leise.
»Die Avengers haben viele Leute verärgert. Einige davon sind auch Menschen... Es wäre einfacher, eine Nadel im Heuhaufen zu finden.«
»Aber irgendwas müssen wir doch machen? Wir können nicht wie die Mäuse in einer Falle warten«, bringt Bruce sich ein. Danach herrscht Stille, während jeder versucht nachzudenken.
Sie haben gegen Aliens gekämpft. Gegen verrückte, größenwahnsinnige Götter, aber es ist eine andere Sache, wenn man den Feind nicht kennt. Wenn man nicht weiß, wessen Hass man auf sich gelenkt hat. Denn die Gefahr, die von ihnen ausgeht, kann man nicht kalkulieren. Am Ende wissen wir nichts.
»Wofür steht Nemesis nochmal?«, will Steve wissen und seine hellen Augen bleiben auf mir ruhen.
»Nemesis ist die Göttin des gerechten Zorns, der ausgleichenden Gerechtigkeit, wodurch sie zur Rachegottheit wurde. Sie wird oft mit Aidos in Verbindung gebracht, die Göttin der Scham«, erzähle ich.
»Ist sie also Richterin oder Rächerin?«, stellt Natasha die Frage in die Runde.
Richtet sie über das, was sie als unheilvoll ansieht, oder will sie sich für etwas rächen, dass ihr angetan wurde?
Die irdische Kunst des Dichtens ist atemberaubend. Die Dichter und Denker können mit ihren Worten zaubern.
»Laut der orphischen Hymnos ist sie mehr Richterin als Rächerin.« Wenn man jahrelang auf den gleichen Planeten weilt, ohne eine Aufgabe zu haben, dann fängt man an sich eine Beschäftigung zu suchen. Auf einem Planeten, der von einem der Götter überhaupt regiert wird, ist es zwangsweise die Mythologie. Nur, dass die der irdischen Bewohner etwas anders ist.
»Orphische Hymnos?«, will Bruce neben mir wissen. Er ist ein geborener Wissenschaftler und hat dafür sein Auge. Mit Literatur kann er dafür umso weniger anfangen.
»Ich rufe Dich, Nemesis!
Höchste!
Göttlich waltende Königin!
Allsehende, Du überschaust
Der vielstämmigen Sterblichen Leben.
Ewige, Heilige, Deine Freude
Sind allein die Gerechten.
Aber Du hassest der Rede Glast,
Den bunt schillernden, immer wankenden,
Den die Menschen scheuen,
die dem drückenden Joch
Ihren Nacken gebeugt.
Aller Menschen Meinung kennst Du,
Und nimmer entzieht sich Dir die Seele
Hochmütig und stolz
Auf den verschwommenen Schwall der Worte.
In alles schaust Du hinein,
Allem lauschend, alles entscheidend.
Dein ist der Menschen Gericht.«*
Die Worte haben sich in meine Seele gebrannt. Ich weiß nicht, wieso. Aber jedes einzelne Wort habe ich mir gemerkt und mit derselben Euphorie vorgetragen, wie die, als ich sie das erste Mal gelesen habe.
»Sie will über uns richten? Wieso? Weil wir die Menschheit vor sich selbst gerettet haben? Vor den Monstern, die unsere Heimat stehlen wollten?« Tony schnaubt verächtlich auf.
»Ich weiß nicht, wieso sie über die Avengers richten will, aber scheinbar fühlt sie sich dazu gezwungen.« Natasha nickt neben mir. »Sie wissen, was sie tun. Das haben sie nicht gestern geplant. Sie haben ein Ziel und ich verwette mein Dolch darauf, dass sie alles dafür tun werden.«
Natasha hat das gesagt, was den anderen durch den Kopf geht. Nemesis ist nicht Hydra. Sie haben ein ganz anderes Ziel und alle wissen, dass das gerade einmal der Anfang ist.
Bucky hat während des Essens und der nachfolgenden, nicht geplanten Meetings kein Wort gesagt, sondern nur zugehört. Als ich sehe, dass er als erster raus stürmt, tausche ich einen kurzen Blick mit Charlotte aus, bevor ich ihm folge.
Ich weiß nicht, warum mich meine Beine schnell zu ihm bringen, aber ich bin ihm etwas schuldig und egal, wie schwer unser Start gefallen ist, bin ich ihm zur Dankbarkeit verpflichtet.
»Bucky, warte!«, rufe ich, als der Brünette hinter einer Ecke verschwindet. Ich laufe etwas schneller und knalle fast in seinen Rücken hinein, als ich um die Ecke schlittere. Ich habe nicht gedacht, dass Bucky tatsächlich stehen bleiben wird.
»Ugh, sorry«, keuche ich und bremse gerade noch rechtzeitig ab, bevor ich in seinen Rücken krachen kann.
»Was willst du?«, gelangweilt dreht er sich zu mir um und kurz wandert mein Blick über sein Gesicht. Er verzieht keine Miene, als hätte ihm jemand diesen Ausdruck ins Gesicht gemeißelt. Er sieht mich gleichgültig an, wie immer. Als wäre er anwesend, aber nicht wirklich da.
Ich schlucke alles runter, was mir gerade auf der Zunge liegt. Ich will mich dafür bedanken, dass er mich aufgefangen hat und mich nicht schon wieder mit ihm prügeln.
Tief hole ich Luft, bevor ich ansetze: »Ich wollte mich nur bedanken, dass du mich aufgefangen hast. Ich weiß, wie schwer dir das gefallen sein muss.«
Und wie schwer mir diese Worte gerade über meine Lippen kommen.
Doch wenn er mich so ansieht, mit diesem Desinteresse und Gleichgültigkeit, könnte ich schon wieder an die Decke gehen. Bucky tut etwas mit mir, was noch keiner getan hat. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass ich seit Jahren immer dieselben Gesichter sehe.
»Glaub nicht, ich habe es für dich getan. Ich wollte mir nur das Gejammer von Steve ersparen«, erwidert er. Ich starre ihn an. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Ich spüre, wie die Dankbarkeit sich in Luft auflöst und die Wut sich wieder in meinem Körper ausbreitet.
Hättest du nicht einfach nur Danke sagen können? Ist das zu viel verlangt?
»Okay, jetzt hör mir mal zu, Arschloch, ich versuche wirklich, nett zu dir zu sein. Wir hatten einen blöden Start, aber du versuchst es nicht einmal!« Rege ich mich auf. Ich glaube, ich war noch nie so wütend wie in diesem Moment.
Ich bin wütend auf die Seuche, die meinen Planeten dahingerafft hat. Ich bin wütend, dass ich zu jung war und ich nur dabei zusehen konnte. Ich bin wütend, weil ich überlebt habe, während alle anderen gestorben sind. Aber noch nie habe ich so eine Wut gegenüber einer Person gespürt. Mein Herz donnert viel zu schnell gegen meinen Brustkorb, während ich ihn aus zwei Schlitzen fixiere.
»Doll, ich brauche keine Freunde oder irgendwelche Götter, die dazugehören wollen. Spiel deine Spielchen mit den anderen«, knurrt er. Bedrohlich macht er einen Schritt auf mich zu, während er seine blauen Augen nicht aus meinen nimmt.
Er hat wunderschöne Augen. Wäre dort nicht der hässliche Schmerz, der sie verdirbt.
Ich bleibe standhaft stehen, zeige keine Angst, als er einmal laut schnaubt und mich dann alleine im Gang stehen lässt.
*Der Orphisische Hymnos „An Nemesis"
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