Dinner
Nachdem ich die Hähnchenbrust, welche ich mit Mozzarella gefüllt und mit Speck umwickelt war, in den Ofen geschoben und das Kartoffelpüree vorbereitet hatte, deckte ich gestresst den Tisch. Ich konnte es kaum erwarten, mit Harry zu reden. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatte ich das nicht mehr getan. Doch gleichzeitig hatte ich auch unsagbare Angst davor. Angst davor, zu erfahren, dass ich etwas gesagt oder getan hatte, das ihn zum Gehen ermutigt hatte. Da ich meine Gedanken kaum mehr aushielt, warf ich das Besteck einfach in die Mitte des Tisches, eilte durch den großen Raum hindurch, indem sich sowohl Küche und Essbereich als auch Wohnbereich befanden, und stürmte auf den Balkon hinaus, der auf der Vorderseite des Hauses war.
Schon als ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen steckte, die wie ich feststellte, ausgetrocknet waren, und mit einem Feuerzeug das andere Ende des Nikotinröllchens anzündete, konnte ich beobachten, wie eine große Person im schwarzen Kapuzenpullover auf einem dieser grünen Leihfahrräder, wie es sie in jeder halbwegs großen Stadt gab, vor unserem Haus hielt und abstieg. Erst jetzt erkannte ich, dass es Harry war, der erst umständlich mit seinem Smartphone hantierte, dann einen Ärmel hochkrempelte und so einen tätowierten Arm entblößte und sich mit einer Hand durch die Haare kämmte.
Mir stockte der Atem, als ich meinen ehemaligen besten Freund, meine erste große Liebe so sah. Ich brannte danach zu erfahren, wie sein Leben in den letzten zehn Jahren verlaufen war. Ob er noch mehr Tattoos hatte, ob diese eine Bedeutung hatten, ob... ja, ich wollte sogar erfahren, wie es seiner Familie ging oder – und daran wollte ich eigentlich gar nicht denken, weil der Gedanke in mir Übelkeit verursachte – ob er selbst eine Familie gegründet hatte in der Zwischenzeit.
Ich beobachtete, wie er sein Smartphone in die Bauchtasche seines Hoodies schob und dann in Richtung Haustüre lief. Lange Zeit stand er einfach nur davor und hob manchmal seinen linken Zeigefinger zu der Klingel, drückte aber nie den Knopf. Schließlich, nach einer herzzerreißenden Ewigkeit, in der ich ihn beobachtet hatte, drehte er sich um und ging zurück zu dem Fahrrad. Als er aber sein Smartphone aus der Tasche zog, um erneut den QR-Code zu scannen, brannte etwas in mir durch. Schnell drückte ich meine Zigarette in den Aschenbecher und lehnte mich dann ans Balkongeländer, damit er mich sehen konnte.
„Harry", rief ich lautstark und wurde so sehr von meinen Emotionen überrollt, dass er sicherlich den Schmerz in meiner Stimme wahrgenommen hatte. Der brünette Mann, der durch mein Rufen erschrak, ließ sein Smartphone fallen, bevor er sich suchend umblickte und schließlich zu mir hochsah. Er starrte mich einige Sekunden unergründlich an, bevor er sich bückte, sein Smartphone vom Boden aufhob und dann zur Eingangstür eilte.
Ich tat es ihm gleich und verließ zügig den Balkon, um ihm die Tür aufzumachen. Ich drückte schnell den Türöffner, dann hetzte ich in die Küche, wo ich den Backofen ausschaltete und noch zwei Teller hineinstelle, damit diese bis zum Essen warm würden. Dann rannte ich quer durch die Wohnung hindurch, um die Wohnungstür zu öffnen und – mit einem Fuß in der Tür – im Flur auf ihn zu warten.
Als Harry schließlich in meinem Blickfeld erschien, pochte mein Herz so stark vor Nervosität, dass mir beinahe schwindelig wurde. Außerdem war mir plötzlich heiß und kalt zugleich, sodass ich nicht wusste, ob ich zuerst meine schwitzigen Handflächen an meiner Hose abstreifen oder meine kalten Oberarme warm reiben sollte.
„Hey", hauchte ich nervös und versuchte mich an einem zaghaften Lächeln, welches Harry augenblicklich imitierte. Dieses unscheinbare Lächeln sorgte dafür, dass mein Herz einen Schlag aussetzte, bevor es kräftig zu pochen begann, dass es lauter war als alle Geräusche der Umgebung. Ich wurde immer aufgeregter, als ich daraufhin in die Wohnung hineintrat und Harry die Türe aufhielt. „Du...", begann ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo der Satz hinführen sollte. Dann konnte ich mich wieder daran erinnern, was ich mir heute Mittag zurechtgelegt hatte, als ich Freddie bei den Wasserrutschen beobachtet hatte.
Ich atmete tief durch, sah Harry aufmerksam in die Augen und hielt die Wohnungstür dabei noch ein Stückchen auf, um meine Worte zu untermalen. „Du bist doch nicht nur hier, weil ich irgendwie dein Vorgesetzter bin, oder? Denn wenn du dich unwohl fühlst, dann werde ich dich nicht davon abhalten, zu gehen. Ich möchte als Louis mit dir reden und nicht als dein Teamleiter", brachte ich hervor, obwohl ich immer wieder kämpfen musste, dass meine Stimme nicht mitten im Satz brach.
Harry sah mich einen Moment lang sichtlich überfordert an, bevor er den Kopf schüttelte. „Nein, nicht deshalb...", gestand er, „ich bin hier, weil ich... weil ich es dir schuldig bin... und... und auch weil ich endlich lernen muss, über meinen eigenen Schatten zu springen und mich meinen Ängsten zu stellen." Überrascht riss ich die Augen auf. Ängste? Wovor hatte er Angst? Vor mir?
Bevor ich allerdings nachhaken konnte, zog Harry ebenfalls die Augenbrauen in die Höhe. Als wäre ihm eben erst aufgefallen, was er da gesagt hatte. „Ich meine natürlich, ich bin hier, weil... weil ich auch mit dir reden möchte... Louis", fügte er noch hinzu, als wäre er unschlüssig, ob er meinen Namen überhaupt über die Lippen brachte, „und weil ich mich für dein Leben interessiere. Ich freue mich, deine Frau und deinen Sohn kennenzulernen." Nachdem er das gesagt hatte, blinzelte ich verwirrt. Wie kam er auf so einen Schwachsinn? Wie kam er darauf, ich hätte eine Frau?
„Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich habe nur für uns gekocht, Harry. Für dich und mich", erklärte ich. Da Harry nicht wirkte, als würde er in den nächsten Sekunden die Flucht ergreifen wollen, schloss ich endlich die Tür und deutete mit einer Hand in Richtung Wohnzimmer. Der Mann, der ein Feuer in mir entfachte, von dem ich nicht gewusst hatte, dass mein Körper in der Lage war, so etwas zu fühlen, wirkte noch immer etwas fehl am Platz, folgte aber dennoch meiner stummen Aufforderung.
„Ich hoffe, du magst Hähnchen und Kartoffelpüree", erkundigte ich mich, als ich ihm einen Stuhl zurückzog und mich erneut an einem Lächeln versuchte. Es schien zu funktionieren, denn gleich darauf zog auch Harry seine Mundwinkel in die Höhe. Und wieder musste ich feststellen, dass er einfach atemberaubend gut aussah. Er hatte irgendetwas an sich, das mich komplett und bedingungslos in seinen Bann zog und mich das Atmen vergessen ließ. Nur mein Herz, das wild in meiner Brust pochte, erinnerte mich daran, dass dieser Moment real war.
„Das mag ich sogar sehr", antwortete er zaghaft. Ich wusste nicht, was es war - velleicht war es die Tonlage, die Sprechgeschwindigkeit, die Lippen, die sich leicht kräuselten oder die verräterische Augenbraue - doch irgendwas sagte mir augenblicklich, dass er nicht komplett ehrlich mit mir war. Als ich auch nur wenige Sekunden darüber nachdachte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Du bist Vegetarier", rief ich perplex aus, nachdem ich versucht hatte, sein Zögern zu verstehen. Harry knabberte verlegen an seiner Unterlippe, dann schüttelte er den Kopf. „Ja, also nein. Nein. Ich bin Flexitarier und Hähnchen mag ich wirklich", führte er nun aus, weshalb ich die Stirn runzelte und für einen Moment meine Augen schloss. Die Worte, die er von sich gab, deuteten darauf hin, dass er im Moment genauso verwirrt war wie ich es war.
„Ich hätte dich fragen sollen, was du magst. Ich kann dir gerne eine vegetarische Tiefkühlpizza in den Ofen schieben", bot ich an, da ich wirklich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich wollte ihm etwas Leckeres kochen und dieses Gericht war nun einmal das einzige, das ich wirklich gut konnte. „Nein, Louis. Ich esse das, was du vorbereitet hast. Ich freue mich auf das Essen", entgegnete er. Dabei sah er mich mit diesem Blick an, mit dem er schon früher immer alles von mir bekommen hatte, was er wollte.
Ergeben seufzte ich, deutete ihm mit einer Hand an, Platz zu nehmen, dann ging ich zur Küchenzeile hinüber und holte mit einem Ofenhandschuh zuerst die Teller und dann die Auflaufschale mit der Hähnchenbrust heraus. Dann garnierte ich Letzteres zusammen mit der Beilage und der Soße auf den beiden Tellern und brachte diese dann rüber zum Tisch. Schließlich schenkte ich uns beiden noch ein Glas Wasser ein. Als ich mich ebenfalls setzte, musterte ich meinen Gegenüber aufmerksam. „Bitte lüg mich nicht an, Harry. Auch nicht aus Höflichkeit. Wenn du das nicht essen möchtest oder du es nicht magst, dann musst du das auch nicht. Wir können auch Essen bestellen", erklärte ich, während ich ihm das Besteck reichte.
Harry sah mich einen Moment lang an, dann schüttelte er gedankenverloren den Kopf. „Ich mag das wirklich. Das ist sehr lecker...", erklärte er mit einem versöhnlichen Lächeln auf den Lippen, nachdem wir uns gegenseitig guten Appetit gewünscht und schließlich zu Essen begonnen hatten. „Aber wie hast du mich so schnell durchschaut? Wir haben uns zehn Jahre lang nicht gesehen. Und auch davor hast du nicht jede Notlüge von mir erkannt", meinte er und erwiderte meinen Blick dabei auf eine solch intensive Weise, dass ich gebannt den Atem anhielt. „Was meinst du? Welche Notlügen?", wollte ich wissen, woraufhin ich Zeuge davon wurde, wie Harry die Röte in die Wangen stieg.
Gerade als ich aber nachhaken wollte, was er damit meinte, klingelte mein Smartphone. Ich zog es aus meiner Hosentasche und wollte den Anruf schon wegdrücken, als ich den Namen sah. Entschuldigend hob ich den Blick und sah Harry für einige Sekunden an, abwägend, was ich tun sollte. „Entschuldige, da muss ich rangehen. Das ist die Mutter meines Kindes", teilte ich ihm schließlich mit, dann stand ich auf und lief einmal quer durch den Wohnraum, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
„Briana", begrüßte ich meine Ex-Freundin, als ich endlich den Anruf annahm. „Louis! Gut, dass du rangehst. Es gab leider einen Notfall und ich muss mit meiner Mutter ins Krankenhaus. Darf ich Freddie so lange zu dir bringen? Ich weiß, es ist super spontan, aber ich weiß gerade keine andere Lösung. Hast du Zeit? Bist du daheim?", wollte sie wissen, wobei ihr Tonfall deutlich werden ließ, wie gehetzt sie im Augenblick war. Ich sah einmal quer durch den Raum zu Harry, der gedankenverloren Kartoffelpüree auf seinen Löffel lud, dann stieß ich seufzend den angehaltenen Atem aus.
„Natürlich. Er kann bei mir bleiben", meinte ich widerwillig. Ich liebte Freddie über alles, doch ich hatte mich schon ein wenig darauf gefreut, endlich mit Harry zu reden und vielleicht sogar zu erfahren, wie er mich ohne ein Wort des Abschieds zurücklassen konnte. „Danke, Louis. Tausend Dank. Wir sind übrigens schon da. Machst du die Tür auf?", bat sie. Ich beendete den Anruf, rollte noch einmal mit den Augen, dann ging ich wieder zum Esstisch zurück. „Du hast doch vorhin gemeint, dass du gerne meine Familie kennenlernen würdest. Bist du bereit, meinen Sohn kennenzulernen?", bereitete ich Harry vor und hoffte, dass er nun nicht direkt die Flucht ergreifen würde. Die ganze Situation war bereits jetzt angespannt genug.
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[1813 Wörter, 07.12.2023]
Harry hat also vermutet, dass er Louis' Frau kennenlernen würde. War das etwa der Grund, warum er lange unsicher war, ob er überhaupt klingeln soll? Was denkt ihr über die Szene? Außerdem, habt ihr bemerkt, dass Louis nicht besonders neutral Harry gegenüber ist? Sein Körper scheint ganz genau zu wissen, wie er zu Harry steht. Und, habt ihr auch bemerkt, dass Louis Harry ganz schnell durchschauen kann? Nur von welchen Lügen hat Harry gesprochen? Was haltet ihr von dieser Flexitarier-/Vegetarier-Geschichte? Besonders viel Wärme und Zuneigung kam ja noch nicht auf, denkt ihr, das wird sich im nächsten Kapitel ändern? Wie wird Freddie diese Dynamik verändern?
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