Betriebsführung
Ich blickte kurz entschuldigend zu Harry und Eleanor, dann trat ich einige Schritte zur Seite und nahm den Anruf an. „Briana", sagte ich und versuchte mit meiner Stimmlage deutlich zu machen, wie unerwünscht ihr Anruf im Moment war. „Louis", entgegnete sie im selben Tonfall, der deutlich werden ließ, dass sie im Moment die Augen verdrehte. „Ich wollte nur sichergehen, dass du unseren Sohn nicht schon wieder vergisst", sagte sie, wobei ich nicht so ganz heraushören konnte, ob sie mich jetzt wirklich tadelte, oder ob sie das halb im Spaß sagte.
„Ich habe Freddie nicht vergessen. Ich kann doch auch nichts dafür, dass mein Chef mir spontan ein Meeting reindrückt. Aber ich habe heute Nachmittag meinen ganzen Kalender blockiert, ich werde um 14 Uhr Feierabend machen und unseren Sohn pünktlich an der Schule abholen. Und ich werde noch ein, zwei Stunden mit ihm ins Badeparadies gehen, er hat sich das gewünscht. Aber keine Angst, er wird pünktlich zu Hause sein, damit du ihn heute Abend noch mit zu deinen Eltern nehmen kannst", erklärte ich Brianna meinen Plan für den Nachmittag in der Hoffnung, sie würde mich nicht wieder als gedankenlosen und unverantwortlichen Vater abstempeln.
„Okay, gut, das wollte ich von dir hören. Jetzt bin ich beruhigt. Ehrlich. Ich habe ja Verständnis dafür, dass du deinem Chef nicht vor den Kopf stoßen kannst, aber Freddie war totunglücklich als sein Vater ihn letzte Woche nicht abgeholt hat und er über eine Stunde auf mich warten musste." Ich seufzte schuldbewusst und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Als ich jedoch nichts mehr darauf erwiderte, fand Brianna schnell Worte des Abschieds. „Bis heute Abend, Louis. Ich liebe dich", schmunzelte sie und machte dabei keinen Hehl aus ihrer Abneigung. Irgendwie mochte ich diese Spielerei zwischen uns, weshalb ich einen Mundwinkel in die Höhe zog und darauf einging. „Ich liebe dich auch. Bis heute Abend." Damit legte ich auf.
Ich schob mein Telefon in meine Tasche und ging die wenigen Schritte zurück zu Harry und Eleanor, die mittlerweile in ein Gespräch vertieft waren. Jedoch musste ich feststellen, dass Harrys Miene, die vorhin schon beinahe entspannt und zufrieden gewirkt hatte, sich nun wieder verhärtete. Auch der erst aufgekommene hoffnungsvolle Schimmer in seinen Augen war wieder verschwunden und eine eiskalte Distanz schien sich zwischen uns aufzubauen.
Nervös machte ich noch einmal einen halben Schritt zurück. Es machte mich verrückt, nicht zu wissen, was in ihm vorging. Also schlug ich unbeholfen vor, zum Mittagessen gemeinsam in die Kantine zu gehen. Die beiden stimmten zu, weshalb Harry und ich gleich darauf Eleanor folgten, uns Essen holten und nach einem freien Tisch suchend durch die große Halle liefen. Schließlich fanden wir einen, an dem bereits Mitarbeitende aus unserer Abteilung saßen, weshalb sich Harry und Eleanor direkt an den zwei gegenüberliegenden, freien Plätzen am oberen Tischende niederließen. Den nächsten freien Platz gab es erst wieder am anderen Ende der Gruppe, sodass zwischen Eleanor und mir drei unserer Kollegen saßen.
Ich war froh, etwas Abstand zwischen Harry und mir zu haben, doch ich hätte mich im Moment sehr über Eleanors Nähe gefreut. Und vielleicht hätte ich mich doch auch gefreut, Harry aus unmittelbarer Nähe mustern zu können. Ich wollte wissen, ob er noch immer seine Lippen genau wie damals zu einem Lächeln verzog oder ob er noch immer diese anbetungswürdigen Grübchen hatte.
Während ich stumm mein Essen zu mir nahm, konnte ich meinen Blick kaum von dem schönen Mann nehmen, der schräg gegenübersaß und sich zwar schüchtern, aber höflich mit seinen neuen Kollegen unterhielt. Gebannt spitzte ich die Ohren und lauschte seinen Worten über den Lärm der Kantine hinweg. Wie sehr hatte ich es vermisst, seine Stimme zu hören.
„Darf ich fragen, wo du bisher gearbeitet hast?", wollte ein Kollege, Mr Payne, zwischen zwei Bissen wissen. Harry sah nervös aus, als er daraufhin von seinem Teller aufblickte. Ich bemerkte, dass sein Blick zu mir wanderte, weshalb ich mich schnell wieder dem Reis in meinem Teller widmete. Dennoch lauschte ich gebannt seinen Worten, als er auf die Frage antwortete. „Nirgendwo. Ich habe eben erst meinen Abschluss gemacht", erwiderte er in einem überraschend neutralen und leisen Tonfall.
„Was hast du dann vor deinem Studium gemacht? Du hast doch gemeint, du bist schon 26, oder? Und ein Bachelor geht ja nur drei Jahre", hakte der tätowierte Kollege weiter nach. Jetzt konnte ich mich nicht mehr beherrschen und blickte wieder auf. Sofort sah ich zu Harry, der schmerzerfüllt die Stirn gerunzelt hatte und hilfesuchend in meine Richtung sah. Ich wusste nicht, ob ich den Blick richtig deutete, aber ich hatte noch nie ertragen können, Harry auch nur ansatzweise leiden zu sehen. „Es ist doch unwichtig, was er bisher gearbeitet hat. Fragt ihn doch lieber, ob er seine neuen Kollegen mag", brummte ich und erinnerte mich wieder daran, warum ich sonst nicht mit den Leuten aus meiner Abteilung, sondern mit den anderen Teamleitern zusammen in die Kantine ging.
Ich beobachtete, wie Harry kurz einen Mundwinkel anhob und seinen Kopf schief legte, aber nur Sekunden später wieder zu dem Mann neben Eleanor sah. Doch dieser kurze Moment, so winzig er auch gewesen sein mochte, zeigte mir, dass er noch immer der Harry war, den ich gekannt hatte. Den ich so sehr geliebt hatte.
Da ich es nicht mehr ertrug, ihm so nah und gleichzeitig so fern zu sein, schnappte ich mir meinen halb leer gegessenen Teller, brachte ihn zur Geschirrrückgabe und verließ zügig die Kantine. Es machte mich fertig, nicht zu wissen, was er dachte. Es machte mich fertig, nicht zu wissen, was er in den letzten zehn Jahren gemacht hatte. Es machte mich fertig, nicht zu wissen, warum er die Frage vorhin nicht beantworten wollte.
Gerade als ich den langen Flur zwischen Kantine und Büroräumlichkeiten entlanglief, hörte ich, wie sich eilige Schritte näherten. Da ich ansonsten – überraschenderweise – alleine im Flur war, blieb ich mit klopfendem Herzen stehen und drehte meinen Kopf, um nachsehen zu können, wer mir hinterherrannte. Als ich erkannte, dass es Harry war, der mir folgte, setzte mein Herz ganz aus, zu schlagen. Dann pochte es rasend schnell in meiner Brust, sodass ich mich beherrschen musste, ruhig stehen zu bleiben und nicht entweder wegzurennen oder ihm sehnsuchtsvoll in die Arme zu fallen.
„Mr Tomlinson", rief Harry, was mein Herz erneut zum Stocken brachte. Nichts zeigte deutlicher die Distanz zwischen uns als diese förmliche Anrede. Ich schloss für einen Moment meine Augen und biss fest auf meine Lippen, um meinen Puls und meine Atmung etwas zu beruhigen, bevor ich ihm antworten würde. „Louis... Ich bin immer noch Louis", murmelte ich, während ich mich zu ihm umdrehte, und war mir nicht einmal sicher, ob er es überhaupt gehört hatte. Als Harry mich daraufhin mit großen Augen ansah, wusste ich, dass er es verstanden hatte. „Louis...", hauchte er, als würde er sich meinen Namen langsam auf der Zunge zergehen lassen.
Ein wohliger Schauer durchströmte meinen Körper, als ich wieder und wieder dieses eine von Harry gesagte Wort in meinen Gedanken abspielte. Ich kam nicht umhin zuzugeben, dass ich wohl nie etwas Schöneres gehört hatte.
„Danke... also wegen vorhin... Es ist nicht einfach darüber zu reden, dass man im Leben etwas länger braucht als andere..., dass einem das Leben schwerfallen kann", gestand Harry und zog erneut seine Stirn in Falten.
Ich wurde so von Neugierde über und Sehnsucht nach diesem Mann überrumpelt, dass mein Mund das Sprechen übernahm, bevor ich überhaupt über die Worte nachdenken konnte, die meinen Mund verließen. „Mit mir kannst du reden, Harry. Bitte, rede mit mir." Ich spürte, wie einzelne Tränen meinen Blick verschleierten. Meinem Gegenüber klappte wortwörtlich die Kinnlade herunter. Gleichzeitig kam er langsam zwei Schritte auf mich zu. „Du würdest noch immer mit mir reden?", wollte er wissen und wischte sich mit seinem Handballen Tränen von seiner Wange.
Vorsichtig nickte ich und blinzelte ebenfalls gegen die Tränen an. „Ja", hauchte ich und schloss erneut für einige Sekunden meine Augen. Das half mir aber nicht dabei, einen klaren Gedanken zu fassen. „Darf ich dich zum Abendessen einladen? Dann können wir reden", lud ich ihn ein, nachdem ich all meinen Mut zusammengenommen hatte und einfach ins kalte Wasser gesprungen war. Alles in mir war zum Zerreißen angespannt, als ich auf seine Antwort wartete.
Harry nickte ganz langsam, als müsste er sich erst klar werden, ob er das überhaupt wollte. Dann nickte er plötzlich ganz schnell. „Das würde ich gerne."
Ich atmete tief durch und streifte meine schwitzigen Hände an meiner Hose ab. „Um 19 Uhr bei mir? Eleanor wird dir meine Adresse geben. Und sie wird dich auch einarbeiten", meinte ich und wartete nur noch eine zustimmende Geste seinerseits ab. Dann machte ich kehrt und verschwand schleunigst in meinem Büro.
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[1429 Wörter, 03.12.2023]
Puh, habt ihr Louis' emotionale Achterbahn auch gespürt? Er hat also ein Kind. Und in welcher Beziehung steht er zu Briana? Seid ihr schlau draus geworden? Und was denkt ihr, wie steht er zu Harry? Ist es möglich, dass er ihm sein Verschwinden verzeiht? Was denkt ihr über Harry/ Harrys Charakter? Irgendwelche Vermutungen, was er so gemacht hat vor seinem Studium? Und finden wir die Essenseinladung gut? Was könnte da denn passieren? Und ist euch auch aufgefallen, dass Louis noch mehr Arbeit an Eleanor abdrückt? Es war schließlich seine Aufgabe, Harry einzuarbeiten. War das eine gute Entscheidung?
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