II
II - Kein Herein!
Fasziniert starrte Malika die verwackelten Aufnahmen des Kriegsreporters an. Die Kamera schwenkte über den staubigen Boden einer zerbombten Stadt. Über Häuser, von deren Mauern nur Gerippe übrig waren. Irgendwo im Hintergrund stieg Rauch in den Himmel. Trotz allem schien die Sonne und der Himmel war strahlend blau. Menschen suchten nach etwas in den Trümmern. Nach Verwertbarem oder nach Überlebenden? Toten? Auch der Reporter konnte nur mutmaßen. Immer wieder sah sie mit Plastikplanen und blutigen Tüchern bedeckte Leichen am Straßenrand liegen.
„Bilder, die dir nicht fremd sind, Malika." Der schwarze Schatten saß neben ihr auf dem Bett in ihrem Jugendzimmer. Sie war gut darin geworden, ihn zu ignorieren. Er war wie der Untertitel, den sie nicht las oder wie das Kleingedruckte in der Zeitung, das sie nur überflog. Sie wusste, dass er da war, beachtete ihn aber nicht. Seit Jahren nun hatte sie ihm nicht mehr geantwortet. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie seine Stimme hörte, dass der Schatten da war und sie ihn sich einbildete. Was sie auch versuchte, er ließ sich nicht verscheuchen, nicht abschalten, wie die Untertitel für Gehörlose.
Für einen kurzen Moment überkam sie der Gedanke, den Schatten nach ihrer Herkunft zu befragen. Ob er in dieser Zeit schon bei ihr gewesen war? Ob er ihr etwas sagen konnte?
Schüsse fielen. Der Reporter rannte in Deckung.
Schnell verwarf sie den Gedanken. Der Schatten war eine lästig gewordene Einbildung. Weiter nichts. Was konnte er ihr schon sagen, was ihr Unterbewusstsein nicht schon längst wusste.
„Diese Bilder lösen etwas in dir aus. Stimmt's?"
Maschinengewehre ratterten. Die Kamera lief weiter. Schotter. Füße im Straßenstaub. Die Lichtverhältnisse änderten sich. Schatten, ein Unterschlupf. Jemand flüsterte aufgeregt unverständliche Worte. Sirenen heulten auf.
„Du erinnerst dich noch an diese Geräusche, oder?"
Die Wahrheit war, Malika wusste es nicht. Welcher Teil ihrer Erinnerung war Einbildung, welcher Wahrheit? Was davon hatte sie sich aus Erzählungen nur zusammengepuzzelt?
Sie kannte ihre Geschichte, weil sie ihr erzählt worden war. Aber es fühlte sich an, als wäre es einer anderen passiert. War sie noch dieses kleine Baby, das man inmitten eines zerstörten Hauses gefunden hatte? Die einzige Überlebende eines massiven Bombenangriffs. Bundeswehrsoldaten hatten sie beim Beseitigen der Trümmer gefunden. Das frühste Bild zeigte sie auf den Armen ihres Retters. Sie hatte weder Familie, noch Herkunft oder einen Namen. Dafür hatte sie eine Geschichte.
Das Bild wackelte noch einmal stark, dann brach die Übertragung ab. Malika wählte das nächste Video in der Vorschlagsleiste aus. ‚Klima, Katastrophen, Kriege und Co. - Das Ende unserer Erde' klang verheißungsvoll in ihren Ohren.
„Was fasziniert dich so daran?", fragte der Schatten. Er wurde nicht müde, eine einseitige Unterhaltung mit ihr zu führen. Zu ihrer Verärgerung ging sie oft genug darauf ein. Wenn auch nur in ihren Gedanken. Diese Frage hatte sie sich selbst schon gestellt. Was stimmte nicht mit ihr, dass sie derartige Schreckensszenarien so in ihren Bann zogen? Vielleicht, weil sie tief in ihrem Inneren herauszufinden versuchte, ob es jemanden gab, der genauso war wie sie. Der Dinge sah, die nicht existierten. Der ähnlich mit frühkindlichen Traumata umging. Vielleicht, weil die Zerstörung und der Tod ein Teil ihres Schicksals waren. Sie wusste es nicht. Oder weil sie dann nicht darüber nachdenken musste, dass sie allein war. Seltsam. Unglücklich. Unverstanden. Kein Teil von etwas. Nirgends zugehörig. Dass sie jeden enttäuschte. Kriegsreportagen und Katastrophenberichte zu verschlingen, war ihr liebster Zeitvertreib und sie zeigten ihr, dass es Menschen gab, denen es schlechter ging.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihren Gedankenmonolog. Dann wurde die Tür langsam geöffnet.
„Komm bitte. Wir müssen zur Kirche."
Ihre Pflegemutter wartete hinter der halb geöffneten Tür, um sie nicht bei etwas zu stören. Schließlich hatte Malika nicht „Herein!" gesagt.
„Im Jahr 2021 fanden insgesamt 28 Kriege und bewaffnete Konflikte statt. 2021 war ein Katastrophen-Rekordjahr. Heftige Stürme, Sturzfluten, Erdbeben", erzählte die Sprecherin aus dem Bildschirm.
Schließlich sagte Malika nie „Herein!". Malika sagte überhaupt nichts.
„Kommst du? Schaust du schon wieder so einen Humbug. Lass uns lieber für den Frieden dieser Welt beten."
„Als ob beten schon jemals irgendwann irgendjemand irgendetwas geholfen hätte", warf die schwarze Gestalt vom Fußende des Bettes aus ein. Vom Konzept Kirche schien er nicht viel zu halten. Schien ihr Unterbewusstsein nicht viel zu halten, verbesserte sie. Aber das Mädchen ergab sich ihrem Schicksal und beendete die Reportage. Alles andere hätte nur zu einem einseitig wortlosen Konflikt geführt, den sie nur verlieren konnte.
Den Gottesdienst zu besuchen, war wichtig in den Augen der Manskes. Um zu zeigen, dass bei ihnen alles in Ordnung war. Wer Sonntag für Sonntag in die Kirche pilgerte, gehörte zu den guten Menschen. Der hatte sein Leben im Griff und nichts zu verbergen.
Malikas Blick schweifte über die Kirchenbesucher im feinen Sonntagsstaat. Sie nickte grüßend. Jeder hielt sie für ein anständiges Mädchen. Klar, ein wenig still wirkte sie. Die Gemeinde kannte ihre Geschichte. Sie war das Mädchen mit den dunklen Augen, die Unfassbares gesehen haben mussten. „Augen, wie ein endloses Meer aus Pech und Tränen", pflegte der Geistliche zu sagen und ihr die schwarzen Haare zu tätscheln. Sie hatte nie ein Lachen im Gesicht, war stets in ihren Gedanken versunken. Eine Überlebende. Eine Gerettete. Was für ein Glück sie doch hatte mit den Manskes. Das waren gute Menschen.
Der Pfarrer betrat den Kirchenraum. „Ehre sei Gott dem Herrn." Die Gemeinde erhob sich, antwortete, „Der Himmel und Erde erschaffen hat." Auch Malika war aufgestanden.
„So ein hirnverbrannter Blödsinn", echauffierte sich der schwarze Schatten. Dieses Mal saß er auf dem Mittelgang keine zwei Meter vor dem Altar entfernt. Seine Position war immer eine andere, seine Einwände stets die gleichen. „Sie sind in ihrem Denken in den letzten zweitausend Jahren keinen Schritt weiter gekommen. Nur Nachplappern, nicht nachdenken."
Malika biss die Zähne zusammen, versuchte sowohl die Stimme des Predigers als auch die Stimme ihrer Einbildung zu verdrängen. Sie ließ ihren Blick über die Köpfe in den Kirchenbänken vor sich wandern. Die meisten Besucher waren im Alter ihrer Pflegeeltern und aufwärts. Sämtliche Stufen von grau und kahl, von langweilig und alt. Auch hier kam sie sich wie ein Eindringling vor, der nicht dazu gehörte.
„Kirche ist der Gegenpol zu Fortschritt und Wissenschaft. Rückwärtsgerichtet. Engstirnig. Was bringt es dir, Dinge im Chor zu murmeln?", flüsterte ihre Einbildung in für Malika gut vernehmbarer Stimme. „Aber du murmelst ja nichts. Du bewegst ja nur deine Lippen. Tust nur so." Die Stimme war so nahe bei ihrem Ohr, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte. Der Schatten saß nun auf dem freien Sitzpolster direkt neben ihr. Malika ignorierte Schatten und Stimme und starrte geradeaus zum Altar. Dort hing das allgegenwärtige, antike Foltergerät mitsamt einer Nachbildung seines berühmtesten Opfers. Einem blondgelockten Jesus mit blutigen Malen auf blasser Haut.
„Scheinheilige Lügner", kommentierte der Schwarze.
Malika presste die Finger auf ihre Ohren. Ein Gedanke durchzuckte sie. Was, wenn es gar nicht das war, was alle glaubten? Was, wenn sie sich das nicht einbildete, sondern es der Teufel höchstpersönlich war, der Tag für Tag zu ihr sprach? Hatte man nicht bis vor wenige Jahrhunderte noch in der Kirche an so etwas geglaubt? Was, wenn sie besessen war? War das möglich?
Das Kreuz verschwamm vor ihren Augen, sodass sie es unscharf und doppelt sah. In ihren Ohren rauschte das Blut und ihr Brustkorb schnürte sich zu. Ihr wurde schummrig. Ohne hinzuschauen, streckte sie die Hände nach der Lehne der Kirchenbank vor sich aus, um nicht umzukippen. Ihre Finger zitterten. Sie musste mehrmals tasten, bis sie den ersehnten Halt fand. Wann hatte sie das letzte Mal eingeatmet? Panisch versuchte sie Luft in ihre Lungen zu pressen. Aber mehr wie ein Japsen brachte sie nicht zustande. Wie ein Fisch auf dem Land. Jetzt wurde ihr schwarz vor Augen. Die Gemeinde setzte sich, um der Predigt zu lauschen. Malika nahm es mit dem letzten Rest ihres Bewusstseins wahr und ließ sich auf die gepolsterte Kirchenbank niedersinken.
Von hier aus gab es zwei Wege, die weiterführten. Sie kannte beide aus Erfahrung. In Panik verfallen oder Ruhe bewahren. An den unsichtbaren Fäden um ihren Brustkorb ersticken oder langsam weiteratmen. Wie fremdgesteuert übernahm der rationale Part ihres Kopfes die Führung. Sie kannte ihre bevorzugte Wahl und erinnerte sich an die Worte von Doktor Baier und die Atemübungen. Einatmen. Ausatmen. Sich nichts anmerken lassen. Ruhig bleiben. Mitzählen.
Die Hände hielt sie gebetsähnlich ineinander verkrampft. Aber wenigstens kam wieder Luft in ihre Lungen und der Schatten oder der Leibhaftige höchstpersönlich schwieg zur Abwechslung einmal.
„Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen; sehet zu und erschrecket nicht! Das muss zum ersten alles geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da." Der Pfarrer am Ambo schwieg nicht, sondern befand sich in seinem Element. Die Worte des Evangeliums donnerten über die Gemeinde hinweg und trafen Malika tief in ihrer aufgewühlten Seele.
Der Rest des Sonntags verlief gewöhnlich ruhig. Mittagessen. „Hat es dir geschmeckt, Malika?" Ein Nicken.
Ein Nachmittagsspaziergang in Gedanken vertieft, bei dem sich nur die Erwachsenen unterhielten.
In Malikas Kopf ratterte es. Wie konnte sie recherchieren, ohne dass ihr Schatten seinen Kommentar dazu abgeben konnte? Nur einmal wollte sie etwas ohne Zuschauerstimme erledigen. Es erschien ihr so von Bedeutung, dass der Schwarze nichts von ihrer neuesten Theorie mitbekam. Sie musste ihn ablenken. Eine ihrer Dokumentationen schauen. Sich von ihm wegdrehen, während sie in Wahrheit über Exorzismus las. Manchmal ließ er sie auch in Ruhe, aber so viel Glück hatte sie an diesem Tag nicht.
„Ich frage mich, was in deinem Kopf vorgeht, Malika. Dich beschäftigt etwas, das sehe ich genau." Die schwarze Nebelgestalt hatte sich ihr frontal zugewandt. Malika versuchte keine Miene zu verziehen, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr aufgeklapptes Notebook hielt sie wie eine Barriere zwischen sich und ihrem Schatten auf dem Schoß.
Es gab den Fall eines jungen Mädchens aus dem Jahre 1934. Man schob es auf Epilepsie. Einen Horrorfilm aus dem Jahr 2000 und eine Buchreihe, die ihr angezeigt wurden. Dazu jede Menge Videos auf YouTube. Sie schob sich die Kopfhörer in die Ohren und drückte auf abspielen. Was sie sah, war ähnlich verstörend wie das, was sie sich sonst anschaute. Die Exorzisten waren überzeugt, dass es Geister, Dämonen und eine unsichtbare Welt gab. Aber mehr als ihren Glauben und Szenen ihrer Ekstase konnten sie nicht als Beweise vorzeigen. Malika stufte die Ergebnisse ihrer Recherche als unglaubwürdig ein.
Der schwarze Schatten versuchte indessen, sie auf ihrem Bett zu umrunden, um einen Blick auf ihr Notebook zu erhaschen. Malika drehte es zur Seite.
„Sieh an, sieh an! Du siehst mich also doch! Ich wusste es!", frohlockte das schwarze Nebelwesen und versuchte hinter Malika auf das Bett zu gelangen. Malika schloss die Seite, löschte den Suchverlauf, klappte das Notebook zu und schob es auf den Nachttisch. Mit vielen Bildern und lauten Gedanken im Kopf legte sie sich hin. Mitternacht war längst vorüber.
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