Kapitel 5
Mein Vater wurde, als ich 6 war, von der Polizei gesucht. Dementsprechend konnte er nicht zu Hause bleiben. Meine Mutter ging mit ihm, während sie meine Geschwister und mich bei meiner Oma väterlicherseits ließ. Am Anfang war es schön. Irgendwann jedoch verlor ich die Geduld. Ich vermisste meine Mutter. Sie kam uns an einem Tag besuchen und ich flehte sie an mich mitzunehmen. Schrie und weinte, während meine Tanten, meine Oma und meine Mutter auf mich einredeten. Sie ging und ich blieb schreiend zurück. Schrie meine Oma an, dass ich sie hassen würde und dass ich nicht bleiben wollte. Ich wollte einfach nur zu meiner Mutter. Schließlich gaben sie es auf. Meine Mutter nahm uns alle drei mit sich. Doch sie ging nicht mit uns nach Hause. Meine Mutter folgte ihm, meinem Vater, zusammen mit mir, meiner Schwester und meinem kleinen Bruder.
Wir schliefen in Wohnungen, in der nur eine Matratze auf dem Boden lag. Wir schliefen bei fremden Freunden meines Vaters, deren Wohnung widerlich heruntergekommen war.
Es ist merkwürdig. Für einen Bruchteil einer Sekunde, während ich diese Worte geschrieben habe, gebe ich mir die Schuld. Wäre ich bei meiner Oma geblieben, dann hätte uns meine Mutter sicher nicht durch fremde Wohnungen geführt. Hätte uns nicht in herabgekommenen Wohnungen schlafen lassen. Warum gebe ich mir die Schuld? Ich war nur ein Kind, welches zu seiner Mutter wollte. Ein Kind, das mehr an seiner Mutter hing, als an allem anderen.
Warum mache ich mir Vorwürfe nicht brav bei meiner Oma gesessen zu haben, während ich damals doch nicht einmal verstand, warum ich dort war? Warum meine Mutter fort war. Sollte sich eine Mutter nicht in erster Linie für ihre Kinder aufopfern? Ihr Wohlergehen über alles stellen? War sie nicht in der Position mit uns nach Hause zu gehen oder mit uns bei meiner Oma zu bleiben, statt ihrem gewalttätigen, kranken Mann zu folgen? War sie nicht in der Verantwortung, dass Beständigkeit in unserem leben herrscht? Dass wir regelmäßig zur Kita und zur Schule gehen. Ein warmes, schönes zu Hause haben? Genug essen? Irgendwann schien meine Mutter endlich zur Besinnung zu kommen.
Irgendwann hatte meine Mutter endlich genug.
Irgendwann stellte sie ihre Kinder und ihr Wohlergehen endlich über das ihres Mannes. Denn endlich stritt sie sich mit meinem Vater auf offener Straße und verschwand mit uns.
Wir gingen nach Hause. Unsere Nachbarn kamen Abends zu uns und ich lag schon im Bett, während sie in der Dunkelheit redeten. Schließlich klingelte die Tür. Mein Vater wollte zu uns, aber meine Mutter weigerte sich. Sie rief die Polizei. Mein Vater ging schließlich ins Gefängnis. Ohne ihn wurde es etwas besser. Etwas geregelter. Meine Mutter fing an selbstständiger zu werden und sich in der Welt ohne ihn zurechtzufinden. Aber wir hatten erhebliche Geldprobleme, auch nachdem mein Vater weg war. Solche Geldprobleme, dass meine Mutter oft in Supermärkten stehlen musste. Sie stahl einmal auch zwei Barbiepuppen für meine Schwester und mich, um uns etwas Freude zu schenken. Ein Monat war besonders schwer. Wir warteten auf das Geld, welches nicht kam.
Meine Mutter ging mit uns zur Bank, wir hatten nicht gegessen und ich hatte starke Zahnschmerzen. Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Daran, wie wir voller Hoffnung darauf gewartet hatten, endlich Geld in der Hand zu haben. Ich erinnere mich an die Freude, als meine Mutter endlich das Geld abhob und gemeinsam mit uns zum türkischen Supermarkt ging. Sie holte ein Fladenbrot und Wurst. Draußen angekommen aßen wir alles sofort auf und verschwunden waren alle Probleme für den Moment. Besonders schön wurde es, als meine Tante, die große Schwester meiner Mutter, nach Deutschland kam, zu uns. Sie blieb Monate bei uns, unterstützte meine Mutter, weil sie frisch Schwanger war. Ja. Mein Vater ging ins Gefängnis, doch wie es der Zufall wollte, wurde meine Mutter noch Schwanger von ihm. Wir besuchten meinen Vater regelmäßig im Gefängnis und meine Mutter bekam tatsächlich eine immense Menge an Liebesbriefen. Er schickte sogar Zeichnungen. Mein Vater war ein guter Künstler und wäre er gesund gewesen, dann hätte er vielleicht wirklich etwas aus seinem Leben machen können. Ich weiß nicht, ob diese Briefe wieder Hoffnung in meiner Mutter geweckt haben. Aber sie genoss es. Genoss die gewaltfreie Liebe, die er ihr schenkte und bewahrte die Briefe auf. So lebten wir unser Leben eine gewisse Weile.
Aber das Schicksal hatte uns fest in seinen Fängen. Als ich auf Klassenfahrt war, brannte unser ganzes Haus nieder. Das ist einige Tage vor meiner Rückfahrt passiert und niemand hatte mir Bescheid gegeben. Als meine Mutter mich von der Fahrt abgeholt hatte freute ich mich und fragte sie, ob ich zu Hause ein Nutellabrot bekommen kann. Sie lächelte sanft und sagte mir ich solle abwarten. Schließlich standen wir vor dem abgebrannten Gebäude, welches einst mein zu Hause war. Alles war weg. All unsere Sachen. Sie erzählte mir, dass sie die letzten im Gebäude waren und knapp entkommen sind durch die Feuerwehr. Meine Tante hatte sich an jenem Tag die Wade verbrannt und meine schwangere Mutter ist erst raus, als meine Geschwister und meine Tante gerettet wurden. Die Brandursache waren unsere Nachbarn, mit denen wir immer Zeit verbrachten. Sie hatten eine Pfanne auf dem Herd vergessen. Seit dem bin ich immer übervorsorglich und achte zu Hause immer darauf, dass die Steckdosen leer sind, wenn ich nicht zu Hause bin. Wir hatten eine Familienhelferin zugeteilt bekommen, die uns unterstützte. Wir wurden in einem Heim untergebracht und tatsächlich war es wirklich schön da. Eine Frau brachte jeden Tag Donuts für uns. Sie schenkten mir auch eine neue Lillifee Federtasche für die Schule. Meine Mutter hatte mir damals immer etwas Geld in eine Spardose gepackt. Sie nahm mich eines Tages mit und ging mit mir einkaufen. Ich sagte ihr, dass wir jetzt mein Erspartes nehmen könnten und sie stimmte mir zu. Sie kaufte mir viel. Viel mehr, als dass das Geld in dieser Spardose hätte ausgleichen können. Und doch ließ sie mich in dem Glauben, dass ich es mir leisten konnte, weil ich so fleißig gespart hatte. Meine Mutter gab sich Mühe. Versuchte uns ein schönes zu Hause zu schenken. Wir bekamen irgendwann eine vorübergehende Wohnung vom Staat und als schließlich meine kleine Schwester auf die Welt kam, fanden wir eine Wohnung und zogen da ein. Meine Mutter konnte es das erste mal schön einrichten, weil mein Vater ihr Geld nicht aus dem Fenster schmeißen konnte. Es war alles perfekt. Sie hörte sogar mit dem Rauchen auf und holte uns mit dem Geld Winx Club Sammelkarten. Natürlich gab es immer wieder Momente, in denen sie wütend auf uns wurde und doch wieder handgreiflich wurde. Es wurde aber seltener und passierte immer dann, wenn sie überfordert war.
Die meiste Zeit versuchte sie uns eine bessere Mutter zu sein. Es funktionierte alles. Als ich acht Jahre alt war, stand mein Vater wieder vor der Tür. Er zog bei uns ein und blieb. Es ging wieder alles den Bach unter.
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