Semi-Toter faselt über Schmetterlinge
Gab es etwas schlimmeres, als aus Versehen in einem staubigen Raum hinein zu gelangen und nun für immer gefangen zu sein?
Ich wollte ihm helfen.
Sein leichter Körper rahmte erneut gegen das dreckige Glas. Ein quälender Todeskampf.
Mein Phantomherz zog sich zusammen, befahl mir, nicht mehr tatenlos zuzusehen.
Bitte ende nicht wie ich.
Woher er die Kraft nahm und sich erneut aufbäumte, war mir ein Rätsel. Wie schön seine Farben doch waren!
Leider nutzten sie ihm nichts mehr.
Ich war wie dieser Schmetterling. So wie er harrte ich schon hoffnunglose Wochen hier in dem Zimmer aus, unbemerkt von den atmenden Riesen und völlig alleine. Der Unterschied zwischen ihm und mir war, dass ich nicht mehr gerettet werden konnte. Mein letztes Stündlein hatte vor Jahrzehnten geschlagen. Es gab mich nicht mehr.
Und so verfolgte ich mit schmerzlicher Hilflosigkeit, wie der Schmetterling sich überzeugt erneut dem Glas widmete. Über jedem schmachtenden Flügelschlag lag der drohende Schatten des Thanatos. Bald würde er sich nicht mehr regen. Bald würden seine blutroten Flügel in sich zusammen fallen. Bald würde sein Licht für immer erlöschen. Seine Agonie würde ein wohlverdientes Ende finden.
Ein Ende. Das wünschte ich mir selber auch.
Ich musterte das zarte Geschöpf. Seine Fühler bebten noch. Ob er wusste, dass dies sein letztes Kapitel war?
Ich hörte ihn nicht sofort, doch ich bemerkte seine Anwesenheit dennoch. Der Raum wurde kaum merklich wärmer und der Schmetterling erhob sich wieder, als würde die Anwesenheit eines lebenden Apollosohnes ihm wieder Hoffnung spenden.
Will Solace. Gemächlich flanierte er, summend, von einem Fenster zum nächsten und öffnete diese. Huch, es war erst 4 Uhr 30, wie die alte Uhr an der Wand mir verriet. Warum so früh?
Der Staub der Gardinen fegte umher und Will nieste. Das brachte ihn etwas aus dem Takt, er ließ sich aber nicht beeinträchtigen und sang leise weiter.
Ich kannte das Lied nicht. Würde ich noch leben, hätte es bestimmt eine Gänsehaut ausgelöst.
Dann machte er weiter bei den Betten, bezog sie neu und warf die alte geblümte Wäsche beiseite. Er tat es so zügig und ordentlich, als würde er dafür bezahlt werden.
Wills Haare waren etwas fettig, er schien erschöpft zu sein, obwohl sich die Nacht gerade erst vom Tag verabschiedet hatte.
Helle Augen, weiche Haare, schiefes Lächeln...
Er war mir so ähnlich, meinem früheren Ich, aber doch mir nun fremd. Wenn ich mich nicht irrte, waren Will und ich Halbbrüder gewesen.
Was mir zugestoßen war, waren für mich nur noch Szenen aus einem Buch, was ich vor Jahren gelesen hatte. Will, Henry, Lina. Krankenhaus, Hogwarts, Haus der Lupins, und wieder Hogwarts. Wut, Einsamkeit, das erste Mal verliebt und dann Herzschmerz, Hass.
Manches wollte ich wieder erleben, wieder fühlen. Ich wünschte mir jemanden, der mir versichern konnte, dass die schönsten Momente wirklich so passiert waren.
Doch ich wollte von alle dem nichts wissen, wenn es im Umkehrschluss hieß, dass der Rest auch stimmte. Der große, böse Rest.
Will war Teil von beidem gewesen, aber hatte nichts zum schrecklichen Teil beigesteuert. Er war einfach da gewesen und ich hatte keine schlechten Erinnerungen an ihn.
Kurz ließ ich ihn aus den Augen, da stand Will plötzlich vor mir. Ich war anscheinend keines Blickes wert, denn er sorgte sich sofort um meinen kleinen Freund. „Oje. Warum müssen immer die Guten leiden, hm? Du musst schon lange hier drin sein."
Pfff, ich war schon viel länger hier in diesem Camp gefangen.
In einer fließenden Bewegung schwang er sich auf das Fensterbrett. Obwohl ich ahnte, dass er mich nicht sehen konnte, rutschte ich weg, um ihm Platz zu machen. Er griff nach hinten und stellte das Fenster auf Kipp, mit der anderen Hand ließ er den Schmetterling auf seine Hand krabbeln. Bildete ich es mir ein, oder war das Tier nach dem Kontakt mit der Hand des Apollosohnes direkt wieder quicklebendig?
Bald darauf flog es etwas benommen nach draußen.
Wieder frei.
Eine zweite Chance zu leben.
Ich sah dem roten Falter hinterher. Irgendwie ärgerte es mich, dass Will ihm das Leben gerettet hatte. Ich wollte auch wieder fähig zu sowas Einfachem sein. Warum hatte mich damals niemand gerettet?
Ein eiskalter Schauder breitete sich auf einmal in meinem Körper aus.
Als ich meinen Blick wieder zurück schweifen ließ, merkte ich erst, dass Will zitternd die Wand hinter mir berührte, sich dort abstützte. Wills Arm durchdrang mein totes Herz. Ich fröstelte und wartete ab.
Er sah mir endlich direkt ins Gesicht, zog langsam die braun gebrannte Hand zurück. „Tut mir leid."
Das ekelhafte Gefühl verschwand. Ich wollte es nie wieder empfinden.
Ich glitt vom Fenster weg. Er konnte mich sehen? Warum zeigte er es erst jetzt?
Warum wollte er mich berühren?
Will öffnete den Mund.
„Will? Will!"
Mein lebloser Instinkt drängte mich dazu, mich zurück hinter dem Vorhang zu verbergen. Wills Augen verfolgten mich kommentarlos. Nickte er etwa?
Ich hörte die Schritte näher kommen und stehen bleiben.
„Ich bin hier, Nico ", meldete Will sich leise.
Wie ein Dementor stand er nun in der Tür, ging langsam auf uns zu. Hätte ich noch eins, wäre mir mein Herz in die Hose gerutscht.
„Es riecht nach... Tod." Nicos blasses Gesicht entspannte sich kaum merklich, als er den Apollosohn ansah. „Ich habe mir Sorgen gemacht."
„Es wundert mich nicht, dass du Tod riechst. Du siehst wortwörtlich wie Hades gerade aus ", bemerkte Will.
Schmeichelhaft, durchaus. Nico hob nur eine Augenbraue hoch, ohne die Vorhänge aus den Augen zu lassen.
Will hielt Nico leicht zurück, als dieser in Richtung Fenster gehen wollte. „Ich mache mir übrigens auch Sorgen. Du solltest ruhen, soll ich dir vormachen, wie es geht?"
„Kein Bedarf."
„Könntest du bitte-"
„Solace! Ich schwöre, da ist etwas."
„Ab ins Bett mit dir."
Nico schien nicht glücklich zu sein, gab sich dann aber doch geschlagen. „Solace, wen oder was auch immer du versteckst... tut es dir irgendwas an, zögere nicht, mich zu holen. Du magst mich momentan für schwach halten, aber dein süßes Helfersyndrom macht dich angreifbar."
„Alles... alles klar. Danke." Will errötete hinter Nicos Rücken. Wie... niedlich.
Er schloss die Tür und wandte sich mir zu.
Nun gab es keine Zweifel mehr, er konnte mich sehen.
Gespannt wartete ich ab, was passieren würde.
Wills Blick, der nun mich streifte, war so warm, dass ich Nicos Worte noch mehr Glauben schenkte. Dieser Junge hatte ein Herz aus Gold. Möglicherweise wollte er eben meines wieder heilen mit seinen Heilkräften.
„Ich will dich nicht verscheuchen oder deine Ruhe stören. Aber bitte such dir einen anderen Ort, um deinen Tod... auszuleben ", sagte er leise.
„Schlechte Formulierung ", krächzte meine Geisterstimme und ich schluckte. Wie hässlich sie klang, so bitter und alt.
Auch Will zuckte zusammen. „Ich- ich dachte, du könntest nicht mehr sprechen." Unverwandt wich er leicht zurück. „Seit Monaten hockst du da am Fenster. Ich glaube, nur ich habe dich bemerkt. Du sahst traurig aus und ich bin keine Petze. Ich bin nicht zu Chiron gegangen. Anfangs ließ ich noch Patienten hinein, doch nun haben wir kaum noch Fälle und brauchen nicht so viele Stationen."
„Aber?" Bei allen Göttern, ich hasste meine Stimme. Ich wollte meine alte zurück, die geliebt und gepriesen wurde.
Seufzend lehnte er sich nach vorne und sah an mir vorbei. „Aber ich fürchte, das geht nicht für immer so. Warum du als Geist leben musst und nicht im Elysium glücklich sein kannst, das frage ich mich sowieso. Suchst du möglicherweise Rache hier?"
„Ich kenne dich, Will ", lispelte ich. Ich wusste, dies war der letzte Satz den man von einem Toten hören wollte.
Wills Augen weiteten sich. „Wie heißt du? Warst du ein Patient von mir?" Schmerz loderte in seinen Worten, so frisch wie eine blutende Wunde. „Nein, nein. Ich würde dich dann doch kennen."
„Das sage ich dir nicht. Aber nein, ich war kein Patient von dir."
Will atmete aus. „Okay."
„Aber ich kenne dich trotzdem. Vermutlich suche ich dann dich?"
„Dann hast du mich gefunden, Kollege."
„Dann hättest du wohl netter zu mir sein sollen als ich gelebt hatte, sonst hätte ich mir ja wohl jemand anderes dafür ausgesucht."
Will schnaubte. „Hätte, hätte, Fahrradkette. Daran kann man jetzt nichts mehr ändern. Ich habe echt keine Ahnung, wer du bist. Vermutlich denkst du dir das jetzt aus." Er sah aus dem Fenster. „Wie auch immer, du solltest- ich meine, dieser Ort wird dich nicht glücklich machen, you know?"
„Aber hier sterben auch Menschen. Ich will Gesellschaft, you know?"
Wills Mundwinkel zuckten. „Verschwinde. Eine Krankenstation hat einfach einen anderen Vibe, okay?"
Kurz überlegte ich, zu bleiben. Will konnte mir nichts anhaben und es erschien mir mehr als ungerecht, dass er mich nach den ganzen Jahrzehnten, die ich hier verbracht hatte, verscheuchen wollte. Zwar hatte ich diese Jahrzehnte im Wald verbracht, aber trotzdem.
Was wusste er über mich? Rein gar nichts. Er konnte froh sein, dass ich tatsächlich nicht auf Rache aus war und niemanden störte.
In mir schlich sich dann etwas altes, vergnügtes ein. Ich mochte nur noch erbärmliche Bruchteile von schönen Gefühlen wie Neugierde spüren, doch sobald sie die schrecklichen kurz ablösten, musste ich es ausnutzen. Der dauerhafte Schmerz und die Sehnsucht quälten gerade nur noch einen kleinen Teil von mir.
Ich wollte den Rest des Camps sehen. Einfach um herauszufinden, weshalb ich noch hier unter den Lebenden verweilen musste. Es gab einen Grund dazu und der hatte sicher mit meiner Vergangenheit zu tun.
Fragend hob Will seine Augenbrauen. „Bitte?"
Ich nickte folgsam und schwebte auf den direkten Wege durch die Mauer ins Freie.
Ich hörte noch den überraschten Aufschrei von Will und das Rauschen des Windes.
Wohin sollte ich nun gehen? Gerade schlief anscheinend niemand in der Hadeshütte. Perfekte zwischenzeitliche Unterkunft für mich.
Zeus erbrach sich gerade im Himmel, zumindest so sah es aus. Goldorange Kotze flutete das angenehme, düstere Blau hinfort.
Leider waren hier draußen noch keine Campbewohner. Ich hätte Will zu gerne paar neue Patienten beschafft, die behaupten würden, sie hätten Halluzinationen.
Ich sah mich um, schlenderte/schwebte an der Speisepavillon, dem Haupthaus und der Waffenkammer vorbei. Ich fragte mich, ob die Halbgötter sich hier wohl fühlten, ob es ein Zuhause für sie war, wie Hogwarts eines für Henry gewesen war. Ich vermisste Hogwarts nicht, ich vermisste aber auch gar nichts. Außer vielleicht Henry und Lina.
Ich wusste nicht wieso, doch innen ging es mir deutlich besser. Der Wind schien die ganze Zeit meine inneren, nicht mehr funktionierenden Organe weg zu wirbeln und die aufgehende Sonne brannte unheimlich. Nachdenklich machte ich mich zurück auf den Weg zu Nicos Schlafplatz.
„Du-"
Ich drehte mich um.
Will trat schweratmend hinter mich, diesmal hatte er seinen Hadesfreund dabei. „Das ist er. Ich... ich weiß wieder, wer du bist. Wir kennen uns wirklich von früher. Ich erinnere mich." Beide funkelten mich böse an. Der Wind und die Sonne waren auf einmal doch ganz nett.
„Ähm- das ist korrekt." Ich täuschte ein desinteressiertes Gähnen vor, um gelassen zu wirken. In Wirklichkeit jagte mir der Hadessohn ganz schön viel Angst ein.
Nico betrachtete mich eingehend. Dann erklärte er mich grummelnd für „ungefährlich" und machte kehrt.
Mit offenen Mund blieben Will und ich stehen. Will, weil Nico mich nicht zu Staub verarbeitet hatte, obwohl er ihm bestimmt schreckliche Dinge über mich erzählt hatte und ich, weil mich dieses freche „ungefährlich" ganz schön beleidigt hatte. Geht's noch?
„Wir sehen uns noch ", verabschiedete Will sich nach einem langem gegenseitigen Anstarren von mir. „Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Gutgemeinter Ratschlag, verstecke dich in der Hütte von Nico, da ist momentan niemand. Ciao." Er lief Nico hinterher.
„Ciao." Gereizt sah ich ihnen nach. Na wartet, das werdet ihr noch bereuen.
Hätte ich gewusst, dass die beiden kurz vor einem abenteuerlichen Trip durch die Reiche der Götter, vorbei an Zeus' bestimmt nur gutgemeinten Fallen und obendrauf mit irritierend fadenscheinigen Prophezeihungen im Gepäck, standen, hätte ich wohl meine guten ‚Advice-Skills' als ,Semi-'Toter rausgehauen.
Wie hat Will nochmal gesagt?
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Außerdem glaube ich nicht, dass meine Ratschläge irgendjemanden geholfen hätten. Oder je haben. Oder je werden. Deprimierend.
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