4 | ich kann ja schlecht meinen vater schlagen
"Ich kann ja schlecht meinen Vater schlagen.", stoße ich hervor, noch bevor ich mich vollständig zu Henri umdrehe. Ich weiß einfach, dass es Henri ist. Seine Stimme ist mir vertrauter als meine eigene. Ich würde sie überall wiederkennen, denn nur wenige haben die außergewöhnliche Fähigkeit allein durch den Klang ihrer Stimme Trost zu spenden. Henri gehört zu ihnen.
Betont langsam gehe ich die Stufen vor unserer Haustür herunter und blicke über den Rasen zum Nachbarhaus hinüber, wo Henri in Shorts und mit hochgekrempelten Armen in einem der ordentlich angelegten Beete seiner Mutter kniet. Mit seinem typischen Henri-Grinsen und Grübchen in beiden Wangen, lächelt er zu mir herüber und schiebt sich mit dem Handrücken das blonde Haar aus dem Gesicht. Er hat keinen Erfolg, denn trotz der Vorsicht hat er jetzt Dreck auf der Stirn.
"Ach, keine Sorge. Dein Vater ist Arzt, da könnte er seine Wunden wahrscheinlich schnell selbst versorgen." Er schmeißt die Schaufel neben sich und steht auf, nicht ohne noch einmal das Haar, das deutlich länger ist, als ich es in Erinnerung habe, aus der Stirn zu schieben. "Alles okay bei dir? Du siehst aus als könntest du wirklich gleich auf jemanden einprügeln." Er runzelt die Stirn und wirft mir einen besorgten Blick zu.
Der Anblick des Jungen, mit dem ich mehr Kindheitserinnerungen teile, als mit meinem Bruder, ist so unerwartet, dass meine Wut tatsächlich komplett verpufft ist. Ich kann mich nicht davon abhalten, den Blick über seine Gestalt wandern zu lassen. Er trägt eines dieser grauenvollen Holzfällerhemden, die eigentlich verboten gehören, blaue Gartenhandschuhe und klobige Schuhe, die verdächtig nach seinen Wanderschuhen aussehen. Er hat sie erst letztes Jahr bekommen, als seine Familie Wanderurlaub in Kanada gemacht hat und mir danach eigentlich versprochen sie in den Tiefen seines Kleiderschranks zu versenken.
Jeder andere würde in diesem Outfit völlig lächerlich aussehen, doch nicht Henri. Henri könnte genauso gut einem dieser übersexualisierten Land-Ei-Kalender entsprungen sein. Es fehlte lediglich der Traktor im Hintergrund.
Bennys Bellen und protestierendes Ziehen an der Leine reißen mich aus meiner kindischen Bewunderung. Ich schüttle den Kopf und schiebe mir das Haar hinter die Ohren.
"Ja ja, passt schon. Ich musste da nur mal kurz raus. Du weißt ja, Familiengehabe ist nicht so mein Ding." Ich wende den Blick unsicher ab und fahre stattdessen Benny mehrfach übers Fell.
"Ach, hast du Marie kennengelernt?"
Nun, das lässt mich dann doch den Kopf hochreißen. "Du weißt von Marie?"
Betreten schaut er an mir vorbei. "Naja, ihr gehört ja die Konditorei hier um die Ecke und ich habe sie ein paar Mal mit Richard gesehen. Die Konditorei, also, die ist wirklich super. Marie macht total leckeren Kuchen." Ihm sind seine Worte sichtlich unangenehm und die Erinnerungen an die Situation, aus der ich eben geflohen bin, kommen wieder in mir hoch.
"Wenn es nach mir ginge, könnte sie ruhig mehr Zeit in ihr Geschäft und weniger in meinen Vater investieren.", zische ich und in Sekundenschnelle spüre ich die Wut wieder in mir aufkommen. Das stetige Brodeln lässt mich meinen Gesprächspartner beinahe vergessen. "Diese Frau spielt sich auf, als wäre sie meine Mutter. Ich habe schon eine beschissene Mutter und keinerlei Bedarf für eine zweite. Vielen Dank auch!"
Mehr als überrumpelt von dem, für mich ungewöhnlich ehrlichen, Wutausbruch, zieht Henri die Stirn kraus. "Und warum bist du dann wütend auf deinen Vater?"
Weil er in der Zeit, in der ich wortwörtlich durch die Hölle ging, glücklicher denn je geworden ist.
Weil er nicht merkt, oder nicht merken will, dass es mir nicht besser geht.
Weil er von mir erwartet einfach weiter zu machen, als wäre ich nicht nur Schatten meiner selbst.
"Bin ich ja gar nicht. Vergiss es, ist nicht so wichtig.", tue ich die Sache mit einem übertrieben lässigen Achselzucken ab.
Henri ist lieb. Wirklich und wahrhaftig lieb, aber er hat keine Ahnung von dem Schmerz, der mein ständiger Begleiter geworden ist. Sein Leben ist ein wahres Bilderbuch: Seine Eltern sind so verliebt, wie am ersten Tag und vergöttern ihn geradezu. Seine Noten sind super, er spielt Fußball und ist mit ausnahmslos jedem Mitglied des Vereins befreundet - eigentlich fällt mir sowieso niemand ein, der Henri nicht mag.
Aber er hat sich noch nie überflüssig fühlen müssen, hatte noch nie das Gefühl irgendwo nicht hineinzupassen und mit Sicherheit fühlte er sich noch nie so, als sei sein ganzes Leben eine Farce. So sehr ich mich ihm auch anvertrauen will, kann ich ihm den Wirbelsturm in meinem Inneren, die dunkle Flut meiner Gedanken, nicht zumuten.
Er würde binnen weniger Sekunden ertrinken und ich würde in meinem wackeligen einsamen Boot sitzen und zusehen - unfähig ihn zu retten.
"Sicher?", hakt Henri nach, offensichtlich nicht überzeugt von meiner, zugegebenermaßen, mittelmäßigen Lüge.
"Ja, klar." Das Lächeln schmeckt wie Gift auf meinen Lippen.
Benny bellt erneut und bricht damit die unangenehme Stille zwischen Henri und mir. "Ich sollte jetzt wohl mal los, sonst dreht der Arme noch durch."
Ich drehe mich schon um und mache mich in die entgegengesetzte Richtung auf, als Henri mir plötzlich hinterherruft und den kurzen Weg zu mir aufschließt. "Hast du Freitagabend Zeit?"
"Kommt drauf an wofür.", wende ich ein. Natürlich habe ich Zeit. Es sind Sommerferien und ich habe nicht viele Freunde, mit denen ich meine freie Zeit verbringen könnte, doch eigentlich habe ich gar keine Lust sie mit irgendwem zu verbringen.
"Also, Lara hat Geburtstag und sie will bei sich Zuhause eine große Party schmeißen. Der halbe Jahrgang kommt und es gibt kostenlosen Alk. Was sagst du?" Henri lächelt verschmitzt.
"Ich weiß nicht. Lara ist nicht unbedingt meine beste Freundin und so richtig in Partylaune bin ich auch nicht." Die größtmögliche Untertreibung. Allein der Gedanke daran, mit all den Heuchlern aus meiner Schule in einem Haus eingesperrt zu sein, erweckt in mir den Wunsch mich von der nächstbesten Brücke zu stürzen.
Kontraproduktiv.
"Überleg es dir, ja? Ich helfe Lara heute Nachmittag beim Einkaufen und die Party wird wirklich riesig." Mit einem nervösen Lächeln schiebt er die Hände in die Hosentaschen. "Die Anderen freuen sich bestimmt auch dich zu sehen."
"Sind Lara und du...?" Die Frage rutscht mir heraus, ohne, dass ich mich davon abhalten kann.
"Ja.", Henri schaut mich betreten an, "Seit ein paar Monaten schon. Kurz nachdem du", versucht hast dich umzubringen, "weggegangen bist."
Die Wahrheit sollte mir nicht so sehr wehtun, wie sie es in diesem Moment tut. Genau genommen sollte sie mich nicht einmal überraschen. Zwischen Lara und Henri lief schon etwas bevor ich wegging. Doch wieder einmal hatte ich diesen Umstand bestmöglich verdrängt und nun erwischt er mich kalt. Für einen Moment ist meine Kehle zugeschnürt und ich habe das Gefühl als würde mein einsames kleines Boot kentern. Nun bin ich diejenige, die ertrinkt.
Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.
"Ich überlege es mir.", presse ich schließlich hervor und zum wiederholten Mal weiche ich seinem Blick aus. "Aber rechne nicht mit mir."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro