15 | frau sieberts worte
Frau Sieberts Worte liegen mir noch immer in den Ohren, als ich die Tür der Praxis hinter mir ins Schloss fallen lasse und auf die belebte Straße trete. Dann machen wir nächste Woche da weiter. In meinen Ohren klingen diese Worte nach eher einer Drohung, als einer Verabschiedung.
Ich atme tief durch, ein verzweifelter Versuch zur Ruhe zu kommen, und schultere meine Tasche. Mit noch immer rasendem Herzschlag, biege ich rechts ab und laufe blind die Straße hinauf.
Ich kann noch immer nicht glauben, dass diese Frau mich dazu gebracht hat, mich so zu verplappern! Dabei wollte ich doch nur die willige Patientin mimen, die ihrer Therapeutin ihr Herz ausschüttet, um so schnell wie möglich wieder in Ruhe gelassen zu werden. Nach meinem heutigen Auftritt kann ich mir das wohl abschminken. Verdammt! Vor einer Woche dachte ich noch, dass es ein Leichtes sein würde, Frau Siebert auf Abstand zu halten, doch heute wurde ich eines besseren belehrt. Wie konnte das passieren?
Ich weiß es nicht genau, aber vielleicht lag es daran, dass sie so ruhig und gelassen war. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, sie würde mich mit ihren Fragen in die Enge treiben oder irgendeine Art umgekehrter Psychologie anwenden, um mich aus der Reserve zu locken. All das war nicht nötig, um mich dazu zu bringen, ihr mein Herz auszuschütten.
Frustriert schnaubend schaue ich auf und stelle fest, dass ich völlig vergessen habe Leo anzurufen, damit er mich abholen kann. Es dauert nur einen Augenblick, bis ich entscheide es dabei zu belassen. Ich bin noch immer so aufgewühlt, dass ich nur wenig Lust empfinde vor meinem Bruder ein Lächeln zu mimen. Er würde es mir sowieso nicht abnehmen. Mit etwas Glück, denke ich, schläft er noch immer und wird erst wach, wenn ich schon Zuhause bin.
Zufrieden mit meinem Entschluss, laufe ich eher planlos durch die Stadt. Ein Ziel habe ich nicht, doch ich hege die stille Hoffnung, dass ein ausgiebiger Spaziergang mir hilft meine Gedanken zu sortieren und meinen Herzschlag zu beruhigen. Die Straßen sind zu dieser Zeit noch nicht besonders voll, aber da das Wetter gut ist, sind doch einige Leute unterwegs. Ich erkenne einige Nachbarn, doch niemand scheint mich wirklich wahrzunehmen. Sie alle sind zu beschäftigt, zu gedankenversunken und zu gestresst, um ihre Umwelt wahrzunehmen.
In für mich untypisch langsamer Geschwindigkeit, schlendere ich durch die Innenstadt und betrachte die Gebäude um mich herum. Ich lebe seit sechzehn Jahren hier und doch fühlt es sich an, als würde ich diese Straßen zum ersten mal wirklich sehen. Ich betrachte die bunt lackierten Haustüren, die Pflastersteine unter meinen Füßen und lese die Werbetafel verschiedener Geschäfte. Vor Schaufenstern bleibe ich stehen, um hinein zu blicken und als ich an einer Bäckerei vorbeikomme, folge ich dem himmlischen Geruch und gehe hinein. Ich ignoriere die anderen unter Strom stehenden Kunden und lasse mir bei der Wahl meines Snacks Zeit. Mit einem freundlichen Gruß verabschiede ich mich von der Verkäuferin, trete hinaus und beiße mit geschlossenen Augen in meine Streuselschnecke. Sie schmeckt köstlich.
Mit einem Blick auf die Digitalanzeige meines Handys, beschließe ich, mich langsam auf den Weg nach Hause zu machen.
Ich hatte meinem Vater gegenüber ziemlich selbstbewusst behauptet, der Weg sei gar nicht so weit, doch ich komme schnell zu der Schlussfolgerung, dass das eine flapsige Lüge war. Es dauert fast eine ganze Stunde, bis ich wieder in unserer Ausfahrt stehe und zögerlich die Haustür aufschließe. Fast erwarte ich einen brüllenden Leo auf mich zukommen zu sehen, doch mich empfängt nichts als Stille. Möglichst leise ziehe ich mir die Sneakers aus und lege meinen Schlüssel in die Schale auf der Kommode. Auf Socken tapse ich durch den Flur ins Wohnzimmer, doch auch da sehe ich Leo nirgends.
Erleichtert und etwas verwirrt, gehe ich nach oben und werfe meinen Jutebeutel auf den bereits überladenen Schreibtisch. Die Versuchung mich direkt ins Bett zu kuscheln ist groß, aber ich reiße mich zusammen und suche zunächst das Haus nach meinem Bruder ab. Ich stoße die Türen aller Zimmer auf und finde Leo schließlich im Gästezimmer, wo er friedlich schlummernd im Bett liegt. Für einen Moment erwäge ich es, ihn einfach schlafen zu lassen, aber ich bin nun mal seine kleine Schwester, weshalb ich mir diese Chance nicht entgehen lassen kann.
Ich flitze also in die Küche, fülle ein großes Glas mit eiskaltem Wasser und entleere es kurz darauf mit Schwung auf Leos Gesicht. Er schreit so laut auf, dass ich mir die Ohren zuhalte und tritt die Decke hastig weg. Sein rasender Blick wandert im Zimmer umher, bevor er mich fokussiert. Der blanke Schock in seinen Augen gibt mir den Rest und ich breche in schallendes Gelächter aus.
"Hast du sie noch alle?!", kreischt er mit unnatürlich hoher Stimme.
Noch immer belustigt prustend verschränke ich die Arme vor der Brust. "Das hast du davon, dass du mich gestern so erschreckt hast!"
"Und du fandest, dass es angebracht ist, mir im Gegenzug einen verdammten Liter Eiswasser über zukippen?" Leos Augen sind noch immer riesig, während er sich durch das feuchte Haar fährt.
"Ja", sage ich schlicht. "Jetzt steh schon auf Schlafmütze! Es ist halb zwei und ich hab Hunger." Ich zerre an seiner Decke bis Leo abwinkt und die Beine über die Bettkante schwingt. Er murmelt noch etwas in Richtung "Ich hasse dich", doch ich entscheide seine liebevollen Worte zu ignorieren.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, gehe ich zurück in die Küche und lasse mich auf einen der Esszimmerstühle sacken. Der Anblick meines kreischenden Bruders hat mir wirklich den Tag versüßt!
Dass Leo noch immer so schreckhaft und mit leichtem Schlaf verflucht ist, freut mich ungemein. Sofort fallen mir ein Dutzend verschiedener Arten ein, auf die ich ihn in den nächsten Tagen wecken könnte. Vielleicht, denke ich, schläft er jetzt jedoch aus Prinzip mit offenen Augen. Dieser Gedanke bringt mich zum Kichern.
"Macht es dir Spaß mich zu foltern, du Hexe?" Mit einem bösen Blick schließt Leo die Tür des Gästezimmers hinter sich und kommt, mit einem Handtuch in der Hand, in die Küche.
"Absolut", erwidere ich ehrlich. "Das war mit Abstand das Highlight meines Tages."
Resigniert schüttelt Leo den Kopf und rubbelt sich das kurze Haar mit dem Handtuch trocken. "Was machst du überhaupt hier? Hast du heute nicht Therapie, oder so?"
"Die hatte ich."
Es dauert einen Moment bis mein Bruder versteht, was meine Worte zu bedeuten haben. "Ah, fuck. Ich sollte dich doch abholen!"
"Jup", antworte ich und lasse das 'P' ploppen. "Aber passt schon. Ich bin gelaufen."
"Den ganzen Weg?" Zweifelnd schaut er mich an, während er das Handtuch über einen der Stühle legt. Ich nicke nur und Leo brummt anerkennend, bevor er sich neben mich setzen will.
"Denk gar nicht dran, du fauler Sack!", rufe ich und schlage mit dem Handtuch nach ihm. "Mach dich lieber nützlich und koch mir was zu essen! Meine Wanderung, für die du verantwortlich bist, hat mich hungrig gemacht."
Leo keucht dramatisch. "Entschuldigung?"
"Hast mich schon gehört", antworte ich und gebe mir keine Mühe mein Grinsen zu verbergen.
Einen Moment lang zögert Leo, dann verbeugt er sich übertrieben tief und verlautet: "Wie ihr wünscht, Euer Majestät!"
Kichernd schaue ich zu, wie mein Bruder die Kühlschranktür öffnet und Tomatenmark, Sahne und Lauchzwiebeln herausholt und auf einem Arm zur Küchentheke transportiert. Während er wortlos weitere Zutaten aus den Schränken hervorholt, beobachte ich ihn nur und erinnere mich an die vielen Male, da er für mich und unseren Vater gekocht hat.
Papa und ich sind, was das Kochen angeht, absolute Nieten. Das hat nicht nur mit unserem fehlenden Fachwissen zu tun, sondern auch mit allgemeinem Mangel an Motivation. Warum auch für ein aufwendiges Gericht stundenlang am Herd stehen, wenn der Lieferdienst so viel einfacher ist?
Leo ist da mehr wie unsere Mutter. Selbst wenn er allein ist, kocht er die exotischsten Gerichte und lässt mir mit den Bildern, die er mir schickt, regelmäßig das Wasser im Mund zusammenlaufen. Früher, als unsere Eltern noch verheiratet waren, hat meine Mutter versucht auch mich für die Küche zu begeistern, aber da hätte sie genauso gut versuchen können, einem Fisch das Fliegen beizubringen. Ich bin in der Küche einfach zu nichts zu gebrauchen.
"Wie kannst du es dir eigentlich leisten, so ewig zu schlafen, Herr Medizinstudent?", frage ich unschuldig.
"Mann, du gönnst mir aber auch gar nichts, oder?" Leo wirft mir einen gespielt bösen Blick zu und erklärt dann grinsend: "Mein Praxisjahr fängt erst nächsten Monat an. Ich bleibe dir also als Küchensklave noch eine Weile erhalten."
Seltsamerweise beruhigt mich das. Schließlich komme ich mir dann doch ein bisschen fies vor, einfach nur herum zu stehen und mich bekochen zu lassen, also schnappe ich mir ein Brettchen und beginne die Tomaten für die Soße in kleine Stücke zu schneiden. Wir sprechen nicht, sondern arbeiten einfach nur in stillem Einklang nebeneinander. Es ist ruhig und friedlich und als wir schließlich zusammen am Esstisch unsere Nudeln vertilgen, ist der aufwühlende Morgen fast vergessen.
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