Kapitel 8
Mit gesenktem Blick ging ich zurück zu meinem Tisch und erntete fragende Blicke von meiner Familie.
"Wo ist Melinda hin?" fragte Lucy besorgt.
"Was hast du jetzt wieder angestellt, Junge?" wollte Dad stattdessen wissen.
"Wieso ist in diesem Ort nur jeder so scheiß nachtragend?" rief ich genervt.
"Ja, ich hab viele Fehler gemacht, ja, ich war zu feige, sie zuzugeben und bin einfach abgehauen. Ja, ich bin ein Idiot. Ich habe es verstanden, klar? Ich bin weder von gestern noch blöd! Ich merke dass ich nicht erwünscht bin und mich anscheinend niemand leiden kann. Aber es reicht langsam. Man muss es mir nicht alle fünf Minuten unter die Nase reiben!" Ich nahm meinen Trenchcoat, der an der Stuhllehne hing und zog ihn an.
"Mir ist der Appetit vergangen." sagte ich und verließ das Restaurant.
Ich war wütend auf meinen Dad, wütend auf Ruth - auch wenn sie im Moment gar nichts getan hat, aber ihre Anwesenheit hat mir gereicht - ich war wütend auf Mel, wütend auf die ganze Welt und besonders auf mich selbst.
Am liebsten würde ich noch heute zurück fahren nach New York. Aber es war auch nicht fair, Lucy in diesen ganzen Mist mit reinzuziehen. Sie hat es verdient, ihre Familie zu sehen und endlich einmal richtig kennen zu lernen. Ich sollte ihr das nicht vermiesen, nur weil ich in ihrem Alter mein Leben nicht in den Griff bekommen habe und nun die Konsequenzen nicht ertragen kann.
***
Zuhause - oder eher mein ehemaliges Zuhause - angekommen drehte ich meine alte Stereo Anlage voll auf und ließ eine CD nach der anderen laufen. Von Michael Jackson über Elvis Presley bis Queen.
Mit dieser Beschallung stöberte ich meine Regale durch. Meine Bücher, Videokassetten und alles was ich sonst noch finden konnte.
Es war wie eine Reise in meine Vergangenheit.
Jedes Buch, das in meine Hände gelangte, blätterte ich durch und ich dachte daran, wann ich dieses Buch zum ersten Mal gelesen hatte.
Die meisten der Bücher waren noch gut in Schuss und beim Betrachten, verspürte ich den Drang, sie nochmal zu lesen.
Bei den Videos war es ähnlich. Ständig fiel mir ein Film in die Hand, den ich ewig nicht gesehen hatte. Andererseits gab es auch Filme, die ich in New York als DVD oder BluRay stehen hatte.
Ich war so vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, dass Lucy ins Zimmer kam und mir etwas sagte.
Erst als sie die Musik leiser stellte, drehte ich mich um und nahm sie wahr.
"Was sollte das eigentlich?" fragte sie.
Ich zuckte die Schultern.
"Ich weiß es nicht. Ich bin einfach ausgerastet. Meine Familie schafft es einfach immer in den falschen Momenten die falschen Fragen zu stellen. Es tut mir leid, dass ich einfach so gegangen bin, aber ich dachte du willst noch essen und nicht wegen meinen Phasen darunter leiden."
Lucy grinste.
"Da hast du richtig gedacht. Es hat sehr gut geschmeckt, schade, dass du keinen Hunger mehr hattest."
"Heute Abend gibt es sicher sowieso so viel zu essen, dass ich platze."
"Oje. Ich bin jetzt schon voll gestopft wie eine Weihnachtsgans. Aber was ist das jetzt eigentlich mit dir und deiner Süßen?"
"Meine Süße? Schätzchen manchmal könnte man denken, du wärst 20 Jahre älter als ich und das gefällt mir gar nicht." lachte ich.
"Jetzt redest du dich schon wieder raus." stellte sie fest.
Ich seufzte auf.
"Sie ist immer noch sauer auf mich wegen damals. Und das auch zurecht, immerhin war das eine miese Tour von mir und zwar durch und durch. Aber das ist 20 Jahre her! Sie hat eine neue Familie, ich hab eine Familie, in so einer langen Zeit ist so viel passiert. Man muss es ja nicht vergessen, aber sie kann es mir doch vergeben."
"Dann sag ihr das doch." schlug Lucy vor und ich sah sie irritiert an.
"Was meinst du?"
"Entschuldige dich bei ihr. Ich wette, das hast ihr das noch nie so gesagt. Sag ihr, was du damals gefühlt hast, das was du jetzt fühlst, und das was du dir wünscht, was es dir bedeuten würde, wenn sie dir verzeiht. Ich bin mir sicher, dann wird sie die vergeben."
Ich schwieg beeindruckt.
"Sag mal, wie kann es sein, dass du so viel Ahnung von Beziehungen hast, wenn du noch nie eine richtige hattest?" stellte ich ihr die Frage, die sie mit einem Schulternzucken beantwortete.
"Ich bin eben auch eine Frau. Und ich kann mich irgendwie in sie hineinversetzen, wenn ich auch glaube, dass ich nicht so nachtragend wäre."
"Aha, okay."
"Geh zu ihr! Wir fahren sowieso schon morgen, also mach es schnell dann hast du es hinter dir und falls sie dich immer noch hassen sollte, dann kriegst du es nicht mehr lange mit."
"Wie du meinst. Ich wage mich in die Höhle des Löwen. Mein Handy habe ich zur Sicherheit dabei, falls sie vorhat, mich zu verschlingen." grinste ich und Lucy verdrehte die Augen.
"Männer! Immer auf stark und unverwundbar machen aber auch nicht mal bei einer Frau entschuldigen können."
"Ist ja gut, ich gehe schon! Aber du bist schuld wenn ich danach schlecht gelaunt bin." meinte ich.
"Das bist du spätestens dann wenn du dich mit Ruth unterhältst." gab sie zurück und ich musste ihr Recht geben. Ich hatte endlich die Möglichkeit, mich mit Mel auszusprechen und sonst hätte ich nichts zu verlieren. Außerdem bezweifelte ich, dass Melinda mich jetzt noch anschreien und anfahren wird.
***
Als ich vor Mel's Haus stand - es war dasselbe in dem sie früher wohnte, offenbar haben es ihre Eltern hier auch nicht länger mehr ausgehalten und sind umgezogen - da fühlte ich mich wie damals, als ich ihr beichte wollte, dass ich es verbockt habe, aber dass ich es gerne wieder gutmachen würde, aber vor lauter Angst vor ihrer Reaktion, davongelaufen bin und die Stadt verlassen habe.
Aber dieses Mal würde ich stärker sein, dieses Mal würde ich mit ihr reden. Immerhin kannte sie die Geschichte sowieso längst.
Ich drückte auf die Klingel und wartete nervös ab, dass sie die Tür öffnete.
Und sie ließ auch nicht lange auf sich warten.
"Jamie? Was machst du hier?" fragte sie eher erstaunt als wütend, was mir Mut machte.
"Ich wollte nicht wieder einmal verschwinden ohne einen Abschied. Gleichzeitig wollte ich sagen, dass es mir leid tut. Alles. Es tut mir leid, dass ich dich betrogen habe, dass ich plötzlich verschwunden bin und auch dass ich mich nie mehr gemeldet habe. Ich weiß, es kommt sehr spät, aber ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen." Ich atmete tief durch. So schwer war das gar nicht und sie hatte mich kein einziges Mal unterbrochen, sie hat mir die ganze Zeit aufmerksam zugehört.
"Entschuldigung angenommen." sagte sie mit einem freundlichen Lächeln.
"Was?" Habe ich mich gerade verhört?
"Ich verzeihe dir. Aber nur wenn du rein kommst und einen Kaffee mit trinkst."
Es war ein Friedensangebot und ich nahm es mehr als dankbar an. Es war ein großer Schritt zur Versöhnung, vielleicht sogar ein kleiner Schritt zu einer Freundschaft.
Drinnen angekommen setzte ich mich an den Küchentisch und sah mir die Einrichtung an. Es hatte sich nicht viel verändert, es war seltsam nach all den Jahren wieder hier zu sein.
"Es ist toll, dass du noch immer in diesem Haus wohnst. Wo sind deine Eltern hin?" fing ich ein Gespräch an, während sie den bereits fertig gekochten Kaffee in zwei Tassen eingoss.
"Die sind schon vor etwa 15 Jahren gestorben. Ich war zum Glück schon 21, also konnte ich das Haus behalten."
"Deine Eltern leben nicht mehr? Das tut mir so leid, Mel." Ich hätte nie gedacht, dass sie nicht mehr leben würden.
"Wie ist es passiert?"
"Es war ein Autounfall. Sie waren auf dem Weg zum Flughafen, wollten nach Europa fliegen. Aber ein LKW hat sie nicht gesehen und hat sie getroffen. Mom war sofort tot, Dad ist im Krankenhaus gestorben." erzählte sie.
"Das tut mir leid. Das muss eine schlimme Zeit für dich gewesen sein."
"Das war es. Wie heißt es so schön: Wenn es regnet, dann richtig. Möchtest du Zucker? Milch?"
"So wie früher."
Sie lachte.
"Diese Nummer ziehst du immer noch ab? Einen Schuss Milch und 3 Stück Zucker?"
Ich nickte leise lachend.
"Ich konnte es mir leider nicht abgewöhnen. Meine Sekretärin schüttelt jeden Tag den Kopf, wenn sie mir meinen morgendlichen Kaffee bringt."
"Das kann ich mir vorstellen. Mich wundert es, dass du noch kein Diabetes hast."
"Das sagen alle. Aber irgendwann wird es mich einholen, da bin ich mir sicher."
Ich trank einen Schluck vom Kaffee.
"Der ist sehr gut. Genau die richtige Stärke."
"Wie geht es dir eigentlich? Ich habe ja schon einiges von deinen Eltern gehört, aber bestimmt nicht alles. Also erzähl mal."
"Naja, eigentlich gibt es nicht wirklich viel zu erzählen, das meiste weißt du sowieso schon."
"Wieso lässt du dich von deiner Frau scheiden? Ihr habt es ja lange genug ausgehalten."
"Ja, genau darum. Wir haben uns die letzten Jahre wohl gegenseitig gelangweilt, wir waren uns gegenseitig fremd. Aber der eigentliche Auslöser war der Moment, in dem ich herausfand, dass sie mit ihrem Frauenarzt eine Affäre hat."
"Oje, jetzt hat es dich eingeholt." Es stahl sich ein leicht schadenfrohes Grinsen auf ihr Gesicht, doch sie versuchte es zu verstecken.
"Ja offenbar hat es das."
"Hast du die beiden erwischt?"
"Nein. Es war der Klassiker. Er hat ihr versaute SMS geschrieben und ich habe sie gelesen. Hätte ich die beiden erwischt, hätte ich ihn mit Sicherheit erwürgt. Am Anfang habe ich mich so verletzt gefühlt, aber bald habe ich gemerkt, dass es das beste für uns alle ist."
"Und Lucy sieht das genauso?"
"Ja. Seit fast zehn Jahren sieht sie Trish entweder nur am Wochenende oder eine halbe Stunde in der Nacht, wenn sie lange aufbleibt. Offiziell wohnt Lucy bei ihr, aber praktisch gesehen, hole ich sie jeden Tag von der Schule ab, verbringe den Tag mit ihr - oder die letzten Jahre wohnt sie bei mir und geht mit Freunden aus - und gegen neun Uhr abends bringe ich sie nach Hause oder sie fährt selbst. Ich habe es ein paarmal ausprobiert, ob Trish es merken würde, wenn Lucy nicht abends nach Hause kommen würde, und das hat sie komischerweise. Allerdings hat sie es noch nicht gemerkt dass Lucy's Zimmer in ihrer Wohnung nur aus einem Bett und einem halb leeren Kleiderschrank besteht und ihr Zimmer in meiner Wohnung voller Poster, Bilder, Schmuck und alles was ein Mädchen in ihrem Alter braucht. Es ist, als hätte sie schon lange nur ein Elternteil. Lucy hat sich schon daran gewöhnt und meine größte Angst ist, dass ich nicht das alleinige Sorgerecht bekomme. Oder sogar dass sie das alleinige Sorgerecht bekommt. Es ist zwar unwahrscheinlich aber vor Gericht ist alles möglich."
"Das wird schon werden, mach dir keinen Stress. Sie werden sicher Lucy fragen bei wem sie bleiben möchte und wenn es so ist wie du sagst, dann wird sie dich nennen."
"Ja ich hoffe es."
In dem Moment klingelte mein Handy und ich nahm es aus meiner Hosentasche. Auf dem Display stand Lucy's Name.
"Entschuldige bitte kurz, ja?" sagte ich zu Mel und ging ans Handy.
"Lucy, ich habe doch gesagt ich rufe an, wenn sie mich umbringen will, nicht umgekehrt." meinte ich grinsend und Mel lachte kopfschüttelnd.
"Du musst sofort kommen! Grandpa ist im Krankenhaus." rief sie aufgeregt und ich grinste. Schauspielen konnte sie gut.
"Süße, das ist wirklich kein mieses Date, also du brauchst dich nicht so anzustrengen." erwiderte ich.
"Ich schöre dir, das war nicht geplant!" sagte ich zu Mel mit einem unschuldigen Lächeln.
"Dad! Jetzt hör mir zu! Das ist kein Witz! Grandpa hatte einen Herzinfarkt und wurde gerade ins Krankenhaus eingeliefert! Melinda wird es genauso betreffen wie dich. Also kommt jetzt her, Onkel Marlon hat mich und Ruth schon hingefahren."
Ich starrte Mel geschockt an, während ich zuhörte und wurde ganz blass.
"Okay, ich bin gleich da." sagte ich und legte auf.
"Mel, mein Vater hatte einen Herzinfarkt. Er ist im Krankenhaus. Kommst du mit oder fährst du selbst?"
"Wir nehmen meinen Wagen. Aber du fährst."
"Na gut, also los!"
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