Kapitel 32
Das Wochenende verlief super. Daniel und ich haben Filme geschaut, gekuschelt, gekocht und haben alles gemacht, nur nicht das Haus verlassen. »Morgen muss ich leider wieder arbeiten«, sagt Daniel und seufzt. »Ich weiß. Und ich sollte mich zuhause mal wieder blicken lassen«, sage ich und grinse schief. »Ich fand das Wochenende mit dir sehr schön«, füge ich noch hinzu, woraufhin Daniel mich auf den Mund küsst.
Ich bin so unglaublich froh, dass wir uns wieder vertragen haben und dieses Wochenende mit ihm hat mir Kraft gegeben.
Natürlich haben mir meine Eltern nur erlaubt, hier zu bleiben, wenn ich die Physiotherapie auch her verlege. Deswegen habe ich Marie eine SMS geschrieben mit der Adresse und wir haben es hier gemacht.
»Soll ich dich nachhause fahren?«, fragt Daniel und legt seine Hand auf meine. Mit seinem Daumen streichelt er vorsichtig meine Hand und mein ganzer Körper zieht sich zusammen.
An diesem Wochenende habe ich erst wieder gemerkt, wie sehr ich Daniel eigentlich liebe und was ich an ihm habe. Seitdem fühle ich mich wieder wie frisch verliebt. Hoffentlich geht es ihm auch so.
»Das wäre total lieb von dir.«
»Na dann los«, sagt Daniel, als er auch schon vom Bett aufgesprungen ist. Er schiebt meinen Rollstuhl, den wir immer neben seinem Schreibtisch abgestellt haben, her.
»Vergiss nicht, die Bremsen reinzutun!«, erinnere ich ihn, doch er zieht nur die Augenbrauen hoch. »Sehe ich etwa aus, als würde ich das vergessen?«, fragt er und zieht zusätzlich noch eine Schnute. »Vielleicht«, kichere ich.
Inzwischen hat Daniel den Dreh, wie er mich in und aus dem Rollstuhl heben muss, raus. Er greif mit seinen Händen unter meine Achseln und hievt mich hoch. Eigentlich ganz leicht. Wenn man die Kraft dazu hat. Und eigentlich hat Daniel auch genug Kraft. Warum er es dann nicht geschafft hat, als er mich vom Krankenhaus abgeholt hat, ist mir immer noch unerklärlich.
»Ist schon alles in deiner Tasche drin, oder liegt noch irgendwas herum?«, fragt Daniel und sieht sich suchend im Zimmer um. »Nein, ich glaub ich hab alles«, antworte ich und zucke mit den Schultern. Ich mache es Daniel nach und analysiere nochmal jede Ecke des Zimmers, ob noch irgendwo Sachen von mir liegen. Normalerweise vergesse ich nämlich immer was. Mal ist es ein T-Shirt, mal meine Zahnbürste. Aber heute habe ich glaub ich alles eingepackt.
Wir steigen ins Auto und fahren los. Während der Fahrt legt Daniel seine Hand auf meinen Oberschenkel.
Wir haben uns so unglaublich gut verstanden dieses Wochenende. Ein paar mal habe ich sogar für einen kurzen Moment vergessen, dass ich jetzt körperlich behindert bin und im Rollstuhl sitze. Das hat so gut getan. Aber jetzt muss ich wieder nachhause und werde gefühlt minütlich mit dem Thema konfrontiert. Die ganzen Veränderungen in unserem Haus und meine Eltern, die mich mit Samthandschuhen anfassen. Das alles macht mir die Situation nicht gerade leichter. Es ist schon schwer genug, nicht jede Sekunde daran zu denken, aber wenn sich alles in der Umgebung nur noch um den Unfall und meine Querschnittslähmung dreht, ist es nahezu unmöglich.
»Wir sind da«, sagt Daniel und hält vor dem Haus meiner Eltern. »Ich würde am liebsten wieder umdrehen, um das Wochenende nochmal zu wiederholen. Es war wunderschön«, sage ich bevor ich merke, dass ich schon wieder übertrieben kitschig unterwegs bin. Daniel lächelt mich an und küsst mich auf die Stirn.
*****
Der Unfall ist jetzt genau drei Wochen her. Eine davon habe ich im Krankenhaus verbracht und die anderen zwei Zuhause. Aber langsam fällt mir die Decke auf den Kopf. Daniel muss die meiste Zeit arbeiten, also zumindest bis abends und Hannah lernt schon die ganze Zeit fleißig auf ihre Abiprüfungen. Sollte ich vielleicht doch wieder in die Schule gehen? Ich überlege schon seit mehreren Tagen, denn ich habe keine Lust die 12. Klasse wiederholen zu müssen. Ich müsste jetzt zwar auch schon unglaublich viel Stoff nachholen, aber ich glaub, das könnte ich noch schaffen. Ich habe nur Angst davor, wieder in die Schule zu gehen. Was werden meine Klassenkameraden sagen? Wissen überhaupt alle, was passiert ist und dass ich jetzt im Rollstuhl sitze?
Es klingelt an der Tür. »Emma! Kommst du? Marie ist da!«, schreit meine Mutter 10 mal so laut, als sie eigentlich müsste, dass ich sie höre. »Ich komme!«, antworte ich schnell und mache den Fernseher in meinem Zimmer aus. Die schwarze Fernbedienung pfeffere ich noch auf Bett und dann mache ich mich auch schon auf den Weg ins Wohnzimmer.
»Hey Emma«, grins mich Marie an. Sie ist in der letzten Zeit wirklich eine gute Freundin für mich geworden. Sie ist ein paar Jahre älter als ich, ja, aber wir teilen dasselbe Schicksal und sie macht mir Mut, dass ich irgendwann wieder laufen kann. Genauso wie sie.
Marie redet mir auf eine Weise zu, die mir Hoffnung macht. Das versucht meine Familie auch, aber bei ihnen fruchtet es nicht. Sie haben keine Beweise, dass es funktionieren kann und sie waren selbst noch nie in der Situation, in der ich mich gerade befinde. Marie aber schon.
»Wie geht es dir heute?«, fragt sie, nachdem ich sie auch begrüßt habe.
»Es geht schon. Ich bin am überlegen, ob ich wieder in die Schule gehen sollte«, sage ich und sehe sie stirnrunzelnd an, gespannt auf ihre Reaktion. »Cool! Das klingt doch super, oder nicht?«
»Da bin ich mir eben nicht ganz sicher...«
»Ich finde es eine gute Idee, Alltag tut deiner Seele gut. Das wirst du ganz schnell bemerken. Wenn du den ganzen Tag nur vor der Glotze verbringst, dann kannst du dich später gar nicht mehr aufrappeln. Du wirst sehen: Eine Woche Schule und du hast dich wieder daran gewöhnt und hast wieder mehr Energie.«
Ihre Worte stimmen mich nachdenklich und ich starre auf die Backsteinmauer hinter unserem Kamin. Meine Eltern haben heute Morgen eingeheizt, weil es in der Nacht so kalt geworden ist, dass wir alle samt Decke gefroren haben.
»Wahrscheinlich hast du recht«, sage ich nach einer kurzen Pause, in der mich Marie gefühlt von oben bis unten analysiert hat. Sie lächelt schwach.
»So, jetzt lass uns aber anfangen!«, sagt sie und schiebt meinen Rollstuhl ins Wohnzimmer.
Die letzten zwei Wochen hat sie jeden Tag eine halbe Stunde lang meine Füße geknetet. Den Sinn dahinter, habe ich aber leider immer noch nicht herausgefunden. Ich mache es mir wieder gemütlich in meinem Rollstuhl und lasse meine Augen zufallen und warte gespannt, bis sie anfängt mit dem Kneten. Doch es passiert nichts. Plötzlich spüre ich einen Pieken in meinem großen Zeh am linken Fuß und aus Reflex bewege ich die Zehen und reiße die Augen auf. »Was soll das?!«, fahre ich Marie an, doch sie grinst übers ganze Gesicht. »Und warum grinst du so?« Beleidigt, dass sie mich ärgern wollte, verschränke ich die Arme vor der Brust und ziehe ein grimmiges Gesicht.
»Ich bin stolz auf dich«, sagt sie langsam. Hä? »Wieso denn das?«, frage ich schnippisch.
»Du konntest gerade zum ersten Mal deine Zehen wieder von alleine bewegen.« Es braucht einen Moment, bis ihre Worte zu mir durchdringen. Du konntest gerade zum ersten Mal deine Zehen wieder von alleine bewegen... Ich habe... Ich habe was?! Blitzschnell sehe ich auf meine Zehen herunter und bemerke, dass ich es mit viel Anstrengung und Konzentration schaffe, meine Zehen ein kleines bisschen zu bewegen. Ich kann es nicht glauben. Ich kann sie wirklich bewegen! Und ich habe volles Gefühl in meinen Zehen. Auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus – nein, ein riesiges Grinsen.
Etwas besseres hätte mir heute nicht passieren können. Also natürlich wäre das Beste, wenn ich wieder laufen könnte, aber das kann ich nun wirklich nicht von einem Moment auf den anderen erwarten. Und, dass ich meine Zehen von alleine wieder bewegen kann, ist ja schonmal ein Riesen Fortschritt!
»Oh mein Gott, passiert das gerade wirklich?«, frage ich erstaunt, um noch ein letztes mal sicher zu gehen, dass das auch wirklich echt ist und ich nicht träume. »Ja, das passiert gerade wirklich, Emma«, sagt Marie und sieht stolz zu mir auf. Sie kniet noch am Boden vor mir, sowie immer, wenn sie mit meinen Füßen arbeitet. Doch jetzt richtet sie sich auf.
»Jetzt verstehe ich auch erstmal, für was die ganzen Fuß- und Zehenmassagen gut waren. Das ist doch der Grund, dass ich meine Zehen wieder von alleine bewegen kann, oder nicht?«, frage ich sie und jetzt bin ich diejenige, die zu ihr hoch sehen muss. Sie wischt sich ein paar einzelne Strähnen von ihren langen, braunen Haaren aus dem Gesicht und fixiert sie hinterm Ohr. »Ja«, antwortet sie kurz und knapp.
Ich bin immer noch zu erstaunt, um ein weiteres Gespräch zu führen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, deswegen wird es ein einfaches »Dankeschön.«
Ich sehe Marie an, wie sie sich auch für mich freut. Es tut gut, zu wissen, dass man mit der Situation nicht alleine ist und jemanden hat, der dasselbe schonmal erlebt hat. Ich kann Marie immer alles fragen. »Was bedeutet das jetzt?«
»Naja, das bedeutet, dass es bergauf geht«, sagt sie und nickt zufrieden mit dem Kopf. Ich sehe erneut auf meine Füße hinunter und bewege meine Zehen mit viel Mühe noch ein paar mal. Ich muss mich zwar noch voll konzentrieren, damit es klappt, aber die Hauptsache ist ja, dass es überhaupt funktioniert. Das ist mein erster Erfolg seit dem Unfall. Und, dass es heute soweit sein würde, dass ich einen Teil meiner Beine wieder bewegen kann, hätte ich, als ich heute aufgestanden bin, niemals gedacht.
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Und was sagt ihr zu Emmas Erfolg? Wird sie es schaffen wieder zu laufen?💕
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