Kapitel 31
Und schon wieder stehe ich hier. Oder sitze. Ich wage es nicht die Klingel zu drücken, wegen Angst vor den Konsequenzen. Ist er überhaupt daheim?
Mindestens fünf mal hebe ich meinen Finger, um die Taste zu drücken, aber es gelingt mir nicht. Ich habe solche Angst, dass es Daniel langsam zu viel wird und er mit mir Schluss macht. Jetzt, wo ich ihn am meisten brauche. Das ist die schlimmste Zeit meines Lebens. Diese Ungewissheit macht mich verrückt.
Und das nicht nur auf meine Beine bezogen, sondern auch auf Daniel. Die Angst, dass er mich verlassen könnte, lässt mich erschaudern.
Okay. Jetzt oder nie. Ich atme einmal tief ein- und aus und drücke dann ganz schnell auf die Klingel. Während ich darauf warte, dass jemand die Tür aufmacht, kralle ich mich an meiner Tasche, die auf meinem Schoß steht, fest.
Durch das Glas der Haustüre sehe ich einen Schatten, was bedeutet, dass gleich jemand aufmachen wird.
Es ist Daniels Mutter.
»Hallo Emma. Schön dich zu sehen. Wie geht es dir? Daniel hat uns von deinem schrecklichen Unfall erzählt«, sagt sie und deutet auf den Rollstuhl. »Danke, es geht. Ist Daniel zuhause?« »Äh, ja. Komm rein.« Glücklicherweise ist das Haus barrierefrei gebaut worden, so habe ich jetzt kein Problem mit irgendwelchen Türschwellen oder so. Mittlerweile werden fast alle neuen Häuser barrierefrei Gebaut. Nur unseres irgendwie noch nicht.
»Brauchst du irgendwas? Einen Tee?«
»Nein, danke.«
»Oder sollen wir dir bei irgendetwas helfen?«
Ich schließe meine Augen und atme erneut tief ein und aus. »Nein, danke«, presse ich hervor und versuche gezwungenermaßen zu lächeln. Daniels Mutter ist unglaublich nett. Jeder in meinem Umfeld ist unglaublich nett. Vor allem, seitdem ich den Unfall hatte. Seitdem behandeln mich alle wie ein rohes Ei.
Und das hasse ich.
Ich war immer eine eigenständige, junge Frau und jetzt fühle ich mich wie ein kleines Mädchen, das nichts selber gebacken kriegt. »Okay. Meld dich einfach, wenn du was brauchst«, sagt Daniels Mutter und verschwindet im Wohnzimmer.
Ich klopfe an die weiße Tür zu Daniels Zimmer und merke, wie mein Herz anfängt zu rasen. »Ja?«, schreit er durch die Tür.
Ich nehme all meinen Mut zusammen und lege mir schonmal ein paar Worte zusammen, während ich die Tür vorsichtig öffne. Daniel steht neben seinem Bett auf einer Gymnastikmatte. Er hat seine Sportsachen an und zwei Hanteln in den Händen. Hanteln, die unglaublich schwer aussehen. »Hey«, keucht er. »Hey.« Ich sehe ihn an und all meine Vorsätze was ich ihm sagen will, sind vergessen.
Ich verfolge die Bewegung seiner Brust, die sich aufgrund der Anstrengung schnell auf und ab bewegt. Er legt die Hanteln auf die Gymnastikmatte und nimmt ein kleines, weißes Handtuch von seinem Stuhl, mit dem er sich ein Gesicht abwischt. Seine Haut glänzt und die Schweißperlen laufen ihm überall runter. Daniel sieht mich erwartungsvoll an.
»Ich...ähm...«, stottere ich. »Du...ähm..«, äfft Daniel mich nach und grinst dabei höhnisch.
Ich habe ihn bis jetzt noch nie beim Krafttraining gesehen. Geschweige denn, wusste ich noch nicht mal, dass er überhaupt eins macht.
»Seit wann trainierst du denn?«, frage ich ihn und ziehe ihn mit meinen Blicken quasi aus. Ich kann nicht sagen wieso, aber irgendwie macht es mich total an, wie er mit seinem engen Sportshirt dasteht und seine Haare zerzaust sind.
Es scheint, als könnte er meine Gedanken lesen, denn er zieht sich das T-Shirt über den Kopf aus und steht dann halbnackt vor mir. Seine Bauchmuskeln sind viel trainierter geworden. Er sprüht sich mit Deo ein und zieht dann ein frisches Shirt aus dem Kleiderschrank. »Schon eine Weile. Und jetzt besonders. Sowas wie vor dem Krankenhaus darf mir nicht noch einmal passieren«, sagt er während er das neue Shirt anzieht. Es ist dunkelblau und hat einen V-Ausschnitt. Es steht ihm wirklich gut.
»Oh.« Mehr bringe ich nicht hervor. Heißt das etwa, dass er nur wegen mir mit dem Training angefangen hat? Und heißt das wiederum, dass er mich nicht verlassen will? Vielleicht steht es gar nicht so schlimm um uns wie ich befürchtet habe. »Genug geglotzt?«, reißt er mich aus den Gedanken und grinst spöttisch. Schnell wende ich meinen Blick ab.
Ich fühle mich gerade, als hätte ich diesen heißen Typen gerade erst kennengelernt und mich frisch verknallt. Wie konnte ich über die zwei Jahre vergessen, was ich an ihm habe? Daniel ist einer der heißesten Jungs, die ich überhaupt kenne, aber irgendwie ist das in der Zeit in der wir zusammen waren, komplett untergegangen und zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Zwar war er noch nie wirklich muskulös, aber einen guten Körper hatte er trotzdem schon immer. Und mit seinen frisch antrainierten Bauchmuskeln sieht er einfach zum Anbeißen aus.
Er kommt zu mir rüber und drückt mir einen Kuss auf den Mund. »Was machst du eigentlich hier? Waren wir verabredet?«, fragt er und sieht mich an. Seine blauen Augen strahlen wie zwei Diamanten und ich bin in seinem Blick gefangen. »Ich...ich wollte mich für gestern Abend entschuldigen«, stammle ich immer noch beeindruckt von seinem Körper. Wie konnte ich das bis jetzt nur übersehen?
»Ist schon in Ordnung. War ja auch ein langer und nervenaufreibender Tag für dich gestern.«
»Ja.«
Daniel dreht sich um und lässt sich auf sein Bett plumpsen. »Hast du dir eigentlich schonmal Gedanken gemacht, wie es jetzt weitergehen soll?«, fragt er und stützt sich mit seinen Armen am Bett hinter sich ab. »Wie meinst du das?«
»Na, ob du jetzt dann wieder in die Schule gehen willst zum Beispiel.« Über die Schule habe ich ehrlich gesagt noch gar nicht nachgedacht. Und meine Eltern haben auch noch nichts davon erwähnt, dass ich wieder zur Schule gehen soll. »Immerhin machst du in ein paar Monaten Abi«, erinnert er mich und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Ich weiß, dass es das Beste wäre, wenn ich wieder zur Schule gehe, aber ich habe Angst davor.
Was werden die Anderen sagen?
Werden sie mich auslachen, weil ich im Rollstuhl sitze? Einige aus meiner Klasse können nämlich schon ganz schön gemein sein. Oder werden sie mich auch wie einen frischgeborenen Welpen behandeln, so wie meine Familie und Daniel? Und außerdem weiß ich nicht, ob ich überhaupt die nötige Kraft dazu habe. Ich muss immer noch hochdosierte Schmerzmittel nehmen und bin unglaublich schlapp.
»Ich denke, erst einmal noch nicht«, sage ich und beiße mir auf die Unterlippe. »Okay«, sagt Daniel und ich bin beeindruckt, dass er mich nicht überreden will. Aber ich bin auch froh drum. Auf eine Diskussion habe ich jetzt gar keine Lust.
»Also bist du nicht mehr böse auf mich?«, wechsle ich nochmal das Thema und zerkaue meine Unterlippe schon fast. Er lächelt. »Nein, das bin ich nicht. Ich hab doch Verständnis für deine Situation.«
Daniel steht auf und kommt näher, um mich in den Arm zu nehmen. Ich fühle mich bei ihm so unglaublich geborgen und wohl. Seine Haut ist warm. Zwar riecht er noch ein bisschen verschwitzt, aber das ist mir egal. Ich will jetzt einfach nur bei ihm sein. »Kann ich heute hier schlafen?«, frage ich an seinen Hals gedrückt und ich spüre wie er nickt.
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Wie findet ihr die Geschichte bisher? Bzw. gibt es Verbesserungsvorschläge ?💕
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