Kapitel 30
Ich hasse Mathe. Über alles. Und in ein paar Monaten muss ich in diesem Fach auch noch eine Abiturprüfung schreiben. Ich hab keinen Plan, wie ich das schaffen soll.
Den Stoff bis zur 10. Klasse hab ich ja noch einigermaßen verstanden, aber seitdem ich in der Oberstufe bin, check ich gar nichts mehr. Ich könnte die Aufgabe noch so lange anstarren und es würde nichts bringen. Ich lerne und übe jetzt schon mindestens zwei Stunden, aber von einem Fortschritt merke ich noch nichts. Na toll.
Genervt und enttäuscht zugleich werfe ich meinen Stift aufs Heft und verschränke meine Arme vor der Brust. Ich seufze.
Plötzlich fällt mir wieder ein, dass ich mich ja bei Daniel melden wollte! Ich habe vorhin Hannah angerufen, um sie zu fragen, ob sie mich zu Daniel fahren kann, damit nicht schon wieder meine Eltern herhalten müssen. Aber da sie ja gesagt hat, dass sie gerade keine Zeit hat, habe ich das so hingenommen und verdrängt, dass es wirklich wichtig ist, dass ich mich so schnell wie nur möglich bei Daniel entschuldige.
»Mamaaaaa!«, schreie ich so laut ich kann und höre als Antwort nur ein Klirren von Geschirr aus der Küche. Meine Mutter stürmt zur Tür herein.
»Emma, was ist los???? Du hast so laut geschrien?«, fragt sie besorgt mir weit aufgerissenen Augen. Ihre blonden Haare stehen in alle Richtungen ab und an ihrer Hand klebt Blut.
»Mama, du blutest!«
Sie sieht an sich herab und bemerkt ihre Wunde erst jetzt. »Ja, ähm mir ist gerade ein Teller runtergefallen, da muss ich mich wohl geschnitten haben. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Ja, mir geht es gut. Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du mich zu Daniel fahren kannst«, gebe ich kleinlaut zu. Meine Mutter seufzt.
»Ja natürlich. Aber jag mir keinen solchen Schrecken mehr ein, hast du verstanden?«, tadelt sie mich und ich nicke brav. Sie sieht erneut auf ihre Wunde an der Hand und sagt: »Zum Glück ist es nur ein kleiner Schnitt. Da tut's ein Pflaster.«
»Soll ich dir helfen, die Wunde zu versorgen?«, frage ich schuldbewusst. Immerhin ist ihr der Teller nur heruntergefallen, weil ich ihr so einen Schrecken eingejagt habe. Ich bin es noch nicht gewohnt, dass mein neues Zimmer direkt neben der Küche ist und ich gar nicht so laut schreien müsste, wenn etwas ist.
»Nein, das krieg ich allein hin. Ich spüle noch schnell das Geschirr fertig und dann fahre ich dich zu Daniel, in Ordnung?«
»Perfekt! Danke, Mama«, sage ich mit einem unschuldigen Augenaufschlag, weswegen meine Mutter lachen muss.
Nach einer guten Viertelstunde ist meine Mutter auch schon fertig mit dem Abwasch und klopft an meine Zimmertür, um mir mitzuteilen, dass wir jetzt fahren können.
Lukas hilft ihr noch, mich ins Auto zu heben und erklärt ihr, wie sie mich am besten auch wieder herausbringt.
Ich bin solch eine Last für meine Familie. Ich weiß nicht, wie meine Mutter mich in den Rollstuhl heben will, wenn sogar Daniel mit meinem Gewicht zu kämpfen hatte, als er mich aus dem Krankenhaus abgeholt hat.
»Habt ihr Streit?«, fragt meine Mutter.
»Ich weiß es nicht.«
»Wie du weißt es nicht?« Sie sieht kurz zu mir herüber.
»Ich weiß es eben nicht.« Genervt verdrehe ich die Augen. Das geht meine Mutter nichts an. Zwar meint sie es nur gut, aber Eltern müssen nicht immer alles wissen, was im Leben ihrer Kinder vor sich geht. Immerhin bin ich auch schon erwachsen. Und meine Mutter ist zu neugierig.
»Okay«, sagt sie kleinlaut und damit ist das Thema auch abgehakt. Die restliche Fahrt verbringen wir schweigend. Um die peinliche Stimmung zu übertönen, schalte ich das Radio ein und drehe die Lautstärke so weit auf, sodass meine Mutter das Gesicht verzieht. Aber sie sagt nichts dagegen, deswegen lasse ich es so laut.
»Muss ich dich auch wieder abholen, oder schläfst du hier?«, schreit meine Mutter, um die laute Musik zu übertönen. Wir biegen gerade in die Einfahrt zu seinem Haus. »Keine Ahnung, ich ruf dich dann an«, sage ich und mache den Radio wieder aus.
»Okay«, sagt sie und stellt den Motor ab.
Erwartungsvoll sehe ich sie an. »Alles okay?«, fragt sie nach ca. Einer halben Minute. Das ist jetzt nicht ihr Ernst, oder?
»Du musst mir beim Aussteigen helfen, Mama!«, fahre ich sie an und ihr Gesicht verfärbt sich augenblicklich rot. »Oh nein. Mist. Das habe ich gerade irgendwie total vergessen, Schätzchen«, gibt sie zu. Ich verziehe mein Gesicht wütend über ihr Verhalten. Wie konnte sie nur vergessen, dass ihr Tochter querschnittsgelähmt ist? Sie hat sich gerade noch erklären lassen, wie sie mich am besten in den Rollstuhl hebt und 20 Minuten später hat sie das alles vergessen? Einfach so?
»Super, Mama!«, lobe ich sie sarkastisch.
Sie wirbelt herum und schnallt sich so schnell es nur geht, ab und steigt aus. Ich beobachte im Rückspiegel, wie sie meinen Rollstuhl aus dem Kofferraum hebt und neben die Beifahrertür schiebt. Ihr ist die Situation wohl durchaus peinlich. Und das ist auch gut so.
»Na dann zeig mal, was du von Lukas gelernt hast«, sage ich und grinse schief. Noch ein bisschen peinlich berührt, lächelt sie und legt sich meinen Arm um den Nacken, um mich hochzuheben.
Erstaunlicherweise gelingt es ihr besser, als ich erwartet habe. Zwar ist der ganze Akt ein bisschen ruckelig, aber sie schafft es, ohne dass ich hinfalle. Ich plumpse in den Rollstuhl und hebe mir selber meine Beine auf die Fußablagen.
Meine Mutter stößt einen tiefen Seufzer aus. »Puh. Geschafft«, sagt sie erleichtert.
»Okay, das hat ja wirklich gut geklappt«, lobe ich sie und dieses Mal auch ohne sarkastischen Hintergedanken.
Stolz stemmt sie sich die Arme in die Hüften und versucht, ihre Atmung wieder in den Griff zu kriegen. »Ja, aber das ist ziemlich anstrengend.«
»Kannst du mir bitte noch meine Tasche geben?«
»Oh, ja klar.« Sie holt meine Sporttasche aus dem Kofferraum und stellt sie auf meinem Schoß ab. Ich habe meine Übernachtungssachen mitgenommen, falls ich mich mit Daniel versöhne. Ich würde mich wirklich über einen Abend zu zweit freuen. Ablenkung tut immer gut. Sonst fressen mich meine Gedanken an die Zukunft noch auf. Diese Ungewissheit, ob ich meine Beine jemals wieder selbstständig benutzen kann, macht mich fertig.
»Danke fürs Fahren, ich melde mich bei dir«, verabschiede ich mich und rolle auch schon zu Haustüre.
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Meinungen? Verbesserungsvorschläge?💕
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