2. Kapitel ⏐ Julian
„Du?", fragte ihn Lina Herrmann entgeistert, als sie den Raum betrat.
„Und du?", antwortete Julian genauso perplex. Doch er fing sich schnell wieder. Was hat die denn hier zu suchen?
Er war mit Lina zusammen zur Schule gegangen. Seit ihrer ersten Begegnung konnten sie sich nicht leiden – das war bei ihrer Einschulung gewesen. Die Antipathie hatte sich schnell in Hass verwandelt, denn die beiden standen permanent in Konkurrenz zueinander. Wer konnte schneller lesen und schreiben lernen? Wer war besser in Mathe? Wer durfte als erster einen Artikel in der Schülerzeitung veröffentlichen? Wer hatte die meisten Punkte in der Klausur? Wer die besseren Leistungen in der Prüfung? Wer wurde Klassenbester? So ging es zwölf Jahre lang, bis beide das Abi in der Tasche hatten. Doch die Hoffnung, dass sie sich nach dem Abschluss nie wieder sehen mussten, verpuffte am ersten Tag des Studiums. Denn wer kam da in den Vorlesungssaal, in dem Julian gerade saß? Lina Herrmann! Also dauerte ihr Konkurrenzkampf noch weitere drei Jahre an.
Als Julian dann seinen ersten Arbeitstag bei A&M Events hatte, rechnete er fast damit, dass Lina auch dort auftauchen würde. Aber das tat sie nicht. Und er war heilfroh darüber gewesen. Nur leider war es damit jetzt vorbei. Sie hatte ihn gefunden – wieder einmal. Das darf doch nicht wahr sein!
„Was zum Henker hast du hier verloren?", fuhr er Lina an.
„Ihr beide kennt euch?", fragte Eva erstaunt.
„Kann man wohl so sagen ...", antwortete Lina gedankenverloren. Sie wirkte noch immer völlig überfordert mit der Situation, während sie dort stand und Julian mit großen Augen anstarrte. Offensichtlich war sie sehr überrascht, ihm hier zu begegnen. Und zur Hölle, da ist sie nicht die Einzige.
Also machte er seinem Frust Luft: „Das ist doch nicht dein Ernst! Ich bin seit zwei Jahren hier, wieso zum Teufel tauchst du jetzt auf? Was hast du hier zu suchen?"
Lina straffte die Schultern. Offenbar hatte sie genug Zeit gehabt, um sich zu fangen. „Ich arbeite seit einer Woche für A&M Events. Dass du ebenfalls hier arbeitest und seit wann, ist mir völlig egal. Ich bin hier, um meinen Job zu machen. Und wenn du deinen nicht machen kannst, nur weil ich jetzt mit dir zusammenarbeiten soll ... tja, dann bist du derjenige, der hier nichts zu suchen hat. Also vielleicht verschwindest du einfach und lässt mich in Ruhe."
„Pah, das könnte dir so passen!", entgegnete Julian aufgebracht. Doch schon im nächsten Moment beruhigte er sich wieder und begann hämisch zu grinsen. „Zu schade für dich. Das ist nämlich mein Projekt. Es war meine Idee, also habe ich die Leitung. Das heißt, du arbeitest ab jetzt für mich. So, wie es schon immer hätte sein sollen." Er war zufrieden. Endlich siegt die Gerechtigkeit!
Lina sah ihn schockiert an. Na, hat es dir die Sprache verschlagen, Aschenputtel? Diesen Spitznamen hatte sich Julian noch in der Grundschule für Lina ausgedacht, weil sie immer in zerschlissenen Kleidern dort aufgetaucht war und meistens zu Hause bleiben musste, während der Rest der Klasse an Ausflügen teilnahm. Ihre Mutter hatte einfach nicht das nötige Kleingeld, um dafür zu bezahlen. Und ihm war es ehrlich gesagt mehr als recht gewesen, dass er Lina dadurch eine Zeit lang nicht sehen musste. Gemein? Vielleicht. Aber der Spitzname passte trotzdem perfekt. Na ja, mit Ausnahme des kitschigen Happy Ends. Julian war sich nämlich absolut sicher, dass Lina niemals einen Prinzen rumkriegen würde.
„Also. Entscheide dich. Entweder du tust, was ich sage, oder du gehst und ich erzähle dem Boss, dass du nicht teamfähig bist. Was ist dir lieber? Für mich wäre beides okay", machte er sich weiter über Lina lustig. Aber ein kleiner Teil von ihm war tatsächlich gespannt, wie sie sich entscheiden würde. Lina hatte ihren Stolz. Vielleicht würde sie sich wirklich zurückziehen, um nicht unter seinem Kommando arbeiten zu müssen. Auch wenn diese Möglichkeit natürlich unwahrscheinlich war. Bisher hatte sich Lina noch jeder Herausforderung gestellt. Das musste Julian widerwillig anerkennen.
„Keine Chance, Eberhardt! Wegen dir werde ich sicher nicht meinen Job verlieren. Also, was soll ich tun?", fragte sie ihn herausfordernd.
Gegen seinen Willen empfand Julian ein wenig Respekt. Keine Ahnung, ob ich mich damit abfinden könnte, für sie zu arbeiten. Aber hier hatte zum Glück er die Oberhand.
„Okay, dann setzt euch erstmal. Wir haben gerade über die Location und das Datum gesprochen." Er nickte Sarah zu, die in seinem Team arbeitete und ebenfalls für das Sommerfest eingeteilt worden war. Diese hatte den Wortwechsel zwischen Julian und Lina mit hochgezogener Augenbraue verfolgt – genau wie Eva.
Er war ziemlich froh, dass außer Lina noch Eva dabei sein würde, denn er verstand sich sehr gut mit ihr. Die kleine Powerfrau mit den braunen Locken und grünen Augen – die leider oft mehr sahen, als sie sollten – war mit seinem Kollegen Mike zusammen. Die drei hatten am selben Tag bei A&M Events angefangen und waren seitdem so etwas wie Freunde geworden. Zwischen Eva und Mike hatte es aber sofort gefunkt und aus ihrer Freundschaft entwickelte sich schnell mehr. Dummerweise fühlte sich Julian dadurch immer öfter wie das fünfte Rad am Wagen, wenn sie etwas zu dritt unternahmen.
Doch dieses Mal war Mike nicht dabei. Stattdessen hatte ihm Bergmann Sarah aufgehalst ... Das passte Julian gar nicht. Denn Sarah hatte zwar schon vor ihnen hier angefangen, arbeitete aber nicht annähernd so effizient wie Julian, Mike und Eva. Dafür war sie viel zu sehr damit beschäftigt, ihn anzuhimmeln. Nicht, dass Julian generell etwas dagegen hätte. Sarah war heiß. Aber sie trieb es eindeutig zu weit!
In seinem ersten Jahr waren sie zusammen im Bett gelandet – bei Sarahs Aussehen kein Wunder. Sie war der feuchte Traum eines jeden Mannes mit ihren platinblonden Haaren, die bis zur Taille reichten, den babyblauen Augen und den endlos langen Beinen, die immer in knallroten High Heels steckten. Blöderweise lief sie ihm seitdem nach wie ein dummer kleiner Welpe, der nicht checkte, dass sein Herrchen ihn nicht mehr haben wollte. Für Julian war es ein One-Night-Stand gewesen. Das kapierte Sarah nur nicht.
Nun nickte Eva ihr zu: „Hey Sarah. Du bist also auch dabei." Sie schaute zu Lina und stellte die beiden dann vor, obwohl das eigentlich Julians Job gewesen wäre. Das wurde ihm aber erst bewusst, als Eva schon ihre persönliche Informationsflut mit allen Anwesenden teilte. „Lina, das ist Sarah Schönberg. Sie ist 24 Jahre alt und arbeitet schon seit drei Jahren hier. Sie ist in Mikes Team – genau wie Julian. Ihn muss ich dir wohl nicht vorstellen. Woher kennt ihr euch denn?"
„Schule", antwortete sie.
„Studium", ergänzte er.
„Oh", machte Eva, „ihr klingt ja sehr begeistert." Sie grinste und wandte sich wieder Sarah zu: „Sarah, das ist Lina Herrmann. Sie ist 23 Jahre alt und hat vor einer Woche in meinem Team angefangen. Bergmann sagt, dieses Projekt wäre perfekt für sie, um sich zu beweisen. Scheinbar wusste er nicht ..."
„Eva!" Lina sah ihre Kollegin entsetzt an und griff dann hektisch nach deren Arm, um sie vom Weiterreden abzuhalten. „Das muss doch nun wirklich nicht jeder wissen!"
Aber Eva zuckte nur mit Unschuldsmiene die Schultern und erklärte selbstbewusst: „Was denn? Diese Infos tauscht ihr doch sowieso irgendwann aus. Wenn ich jetzt gleich alles auf den Tisch packe, gibt es keine ewig langen Spekulationen und wir können ohne Ablenkung an die Arbeit gehen. Das spart uns Zeit!"
Linas Gesichtsfarbe veränderte sich bei jedem Wort, das Evas Mund verließ – von kalkweiß zu rosa und dann ... Julian beobachtete interessiert, wie sie mit knallroten Wangen und weit aufgerissenen Augen den Blick ihrer Kollegin suchte und dabei immer wieder eindringlich den Kopf schüttelte. Vermutlich macht sie sich Sorgen, was Eva noch so alles ausplaudern könnte, dachte Julian belustigt. Er selbst hatte sich inzwischen an Evas Plapperei gewöhnt. Das gehörte in Julians Augen sogar zu ihren sympathischsten Eigenschaften – bei Eva wusste er immer, woran er war. Aber diese Offenheit hatte natürlich auch Nachteile. Denn Eva konnte kaum eine Information für sich behalten, wie sie gerade wieder einmal eindrucksvoll bewies.
„Also ...", fuhr sie mit ihrer eigentlichen Rede fort. „Scheinbar wusste Bergmann nichts von den Spannungen zwischen dir und Julian, sonst hätte er euch sicher nicht zusammen an ein Event gesetzt. Aber ich schätze, wir machen einfach das Beste draus, oder?"
„Uns bleibt wohl nichts anderes übrig", murmelte Lina resigniert und Julian musste grinsen. Das wird sicher lustig.
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