10. Kapitel ⏐ Julian
Eva sah sprachlos zwischen ihren Freunden hin und her, nachdem sie alles erfahren hatte – na ja, fast alles. Den Beinahe-Kuss hatten sie sicherheitshalber verschwiegen. Das ging Eva erstens nichts an und zweitens war ihre Reaktion auch so schon stark genug. Julian musste sich ein Lachen verkneifen. Evas schockierter Gesichtsausdruck war einfach zu komisch!
So hatte er sie noch nie erlebt. Sonst stand Evas Mund nur still, wenn sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren musste. Denn Eva hatte zu allem eine Meinung und war fast schmerzhaft direkt, wenn sie ihre schlagfertigen Antworten gab.
Und tatsächlich hielt ihre Sprachlosigkeit nicht lange an. „Sie hat WAS getan?!", rief Eva aufgebracht und ihr Blick blieb an Julian hängen. „Ich hätte dieser Giftspritze ja viel zugetraut, aber dass sie nach eurem Gespräch direkt zu Bergmann rennt und ihm erzählt, du würdest sie emotional foltern ... Mir fehlen die Worte! Das ist so was von abgebrüht und unmoralisch und ..."
Eva schnappte nach Luft und Lina nutzte diese Atempause, um ihre Freundin zu besänftigen: „Es ist okay, Eva. Bergmann hat uns geglaubt und wird Julian das Projekt nicht entziehen. Wir drei dürfen weiter daran arbeiten, nur Erik ist als Aufsichtsperson mit dabei und soll regelmäßig Berichte erhalten. Das heißt natürlich, dass wir uns jetzt zusammenreißen und 150 Prozent geben müssen. Und das wiederum bedeutet, dass Überstunden unvermeidlich sind. Bist du dabei?" Sie sah Eva fragend an.
„Natürlich bin ich dabei! Wir müssen dieser ... dieser ... dieser Rufmordbarbiezicke doch beweisen, dass wir es auch ohne sie schaffen!", rief Eva mit Nachdruck.
Das ist die Eva, die ich kenne, dachte Julian mit einem Schmunzeln und schüttelte den Kopf über Sarahs neuesten Spitznamen. Rufmordbarbiezicke. Passt perfekt! Im nächsten Moment meldete sich allerdings sein schlechtes Gewissen. Schließlich war Julian nicht ganz unschuldig an der Situation. Wenn er früher mit Sarah geredet und ihr reinen Wein eingeschenkt hätte, wäre es vermutlich gar nicht so weit gekommen. Sicher tat es Sarah schon wieder leid, dass sie sich auf dieses Niveau herabgelassen hatte. Vielleicht sollte ich sie nachher mal anrufen und fragen, wie es ihr geht?, überlegte Julian, entschied sich dann jedoch dagegen. Vermutlich sendet das nur wieder ein falsches Signal ... Und ich will ihr ja nicht noch mehr wehtun.
In den folgenden Stunden kamen sie gut voran und konnten einige weitere Punkte auf der To-Do-Liste abhaken. Doch gegen 17 Uhr änderte sich Linas Verhalten plötzlich. Sie wirkte zunehmend unkonzentriert und abgelenkt, machte nicht mehr richtig mit und murmelte nur noch abwesende Antworten. Um 17:45 Uhr schaute sie zum gefühlt hundertsten Mal auf ihre Uhr und wurde noch unruhiger.
Julian wusste das alles so genau, weil er Lina den ganzen Tag über immer wieder verstohlen gemustert hatte. Insgeheim war er von ihrem Arbeitseifer und ihren Ideen ein klein wenig beeindruckt gewesen. Doch jetzt ... Julian runzelte die Stirn. Hat unser Aschenputtel etwa noch ein heißes Date oder was? Würde zumindest ihre steigende Unruhe erklären, dachte er sarkastisch, schließlich wird die Zeit bis Mitternacht langsam knapp. Irgendwie störte ihn dieser Gedanke. Deshalb fragte Julian laut: „Langweilen wir dich, Herrmann?"
Lina hob abrupt den Kopf und sah ertappt in seine Richtung. „Ähh ... Ich ... Nein, das nicht ...", stammelte sie, riss sich dann aber zusammen. „Ich fürchte nur, ich muss euch jetzt alleine lassen."
„Das ist nicht dein Ernst, oder?", fragte Julian ungläubig. „Wir haben noch eine Menge zu tun und wenn ich mich recht erinnere, warst du es doch, die auf Überstunden bestanden hat."
Er sah Lina das schlechte Gewissen an, als sie antwortete: „Ich weiß. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir die Planung nur zu dritt schaffen, wenn wir jede Menge Überstunden machen. Aber heute kann ich leider nicht länger bleiben. Ich muss bis spätestens 18:30 Uhr beim ..." Lina brach ab und riss erschrocken die Augen auf. Julian fragte sich unwillkürlich, was sie da wohl verschwieg. Wo musst du um 18:30 Uhr sein, Aschenputtel?
Doch noch bevor er der Sache auf den Grund gehen konnte, kam Eva ihr zu Hilfe: „Ich denke auch, dass es für heute reicht. Wir beginnen einfach morgen mit den Überstunden. Auf diesen einen Abend mehr oder weniger wird es schon nicht ankommen." Sie tauschte einen verschwörerischen Blick mit Lina, die daraufhin dankbar nickte.
Julian schaute die beiden Frauen skeptisch an. Irgendwas entgeht mir hier. Was läuft denn da zwischen Lina und Eva, von dem ich keine Ahnung habe? Er hätte es zu gerne gewusst, wollte aber nicht nachfragen. Lina sollte nicht denken, dass er sich über ihr Privatleben den Kopf zerbrach.
Stattdessen überlegte Julian, ob sie nicht tatsächlich fürs Erste Schluss machen sollten. Wenn er ehrlich war, hatte er nämlich auch genug. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen, der ihm einiges abverlangt hatte. Also warum nicht? Machen wir eben morgen weiter. Dann konnte er sich doch noch mit Mike auf einen Feierabend-Drink treffen. Den habe ich mir heute auch verdient.
„Okay", stimmte er also zu. „Ab morgen planen wir aber Überstunden ein. Nehmt euch abends nichts vor!", fügte er mit einem strengen Blick auf Lina hinzu, die daraufhin zustimmend nickte. Sie wirkte erleichtert und schnappte sich blitzschnell ihre Sachen.
„Super, dann bis morgen!", rief sie auf dem Weg zur Tür. Und schon war Lina verschwunden. Julian schüttelte nur den Kopf. Muss ja etwas sehr Wichtiges sein ...
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