1. Kapitel ⏐ Lina
Lina betrat das Gebäude und konnte immer noch nicht glauben, dass sie jetzt hier arbeitete. Sie hatte es geschafft. Die ganze Anstrengung während der Schulzeit und des Studiums war nicht umsonst gewesen. Und das, obwohl sie nach ihrem Abschluss unfreiwillig zwei Jahre aussetzen musste, um ... Nein, unfreiwillig ist das falsche Wort. Sie hatte es gerne getan. Ihre Mutter war schließlich auch immer für sie da gewesen. Und das, obwohl sie es wahrlich nicht leicht gehabt hatte – alleinerziehend, mit wenig Geld und ohne familiären Rückhalt.
Umso wichtiger war es Linas Mutter gewesen, immer ein offenes Ohr für ihre Tochter zu haben und sie an die erste Stelle zu setzen. Egal, was kam. Und als diese starke, unabhängige und liebevolle Frau auf einmal Hilfe gebraucht hatte, war Lina gerne bereit gewesen, ihr Leben zurückzustellen und alles zu tun, um ihrer Mutter beizustehen. Doch das hatte nicht gereicht. Nichts von alledem hatte gereicht. Lina seufzte. Es tat ihr in der Seele weh, wenn sie nur daran dachte, dass sie ihre Mutter abgeschoben hatte. Sicher, das ausgebildete Personal im Pflegeheim war in dieser Situation besser geeignet als sie selbst, doch das änderte nichts an Linas Gefühlen. Sie fühlte sich schuldig. Ich habe den einzigen Menschen im Stich gelassen, der immer an meiner Seite war.
„Hey! Guten Morgen, Lina!"
Lina drehte sich zu der fröhlichen Stimme hinter ihr um. Es war Eva, die gerade durch die Eingangshalle hastete, um sie einzuholen. Lina musste lächeln. Ihre quirlige Kollegin hatte ihr die erste Woche bei A&M Events wirklich versüßt. Wann immer ihre Gedanken zu ihrer Mutter schweiften und sie traurig wurde, brachte Eva sie zum Lächeln.
„Guten Morgen, Eva. Wie war dein Wochenende?", fragte Lina freundlich, als ihre Kollegin bei ihr ankam.
„Toll! Mike und ich haben am Samstag einen Ausflug gemacht. Wir waren im Schwimmbad und danach schick essen. Du glaubst gar nicht, wie lecker es beim Inder war! Und am Sonntag haben wir es uns auf der Couch gemütlich gemacht und ein paar Filme geschaut. Ich weiß gar nicht, ob er schon hier ist. Er wollte heute vor der Arbeit noch ins Fitnessstudio und ist deshalb schon zeitiger los als ich. Hast du ihn irgendwo gesehen?"
Lina schmunzelte. Wenn Eva erst einmal anfing zu reden, hörte sie so schnell nicht wieder auf. Aber sie war so sympathisch, dass das niemanden zu stören schien.
„Nein, tut mir leid. Ich bin ja auch gerade erst gekommen und habe noch niemanden außer dir gesehen."
Die beiden gingen zum Fahrstuhl und grüßten auf ihrem Weg die Empfangsdame, die ihre Mitarbeiterausweise gar nicht sehen wollte, weil Eva bereits seit zwei Jahren hier arbeitete. Und wer Eva kannte, vergaß sie so schnell nicht wieder.
„Na, macht nichts", antwortete Eva, „ich sehe ihn ja spätestens in der Mittagspause. Du leistest uns doch wieder Gesellschaft, oder?"
„Aber nur, wenn das für euch wirklich in Ordnung ist", stimmte Lina zu, „schließlich will ich euch Turteltäubchen nicht stören."
„Tust du nicht, keine Angst."
Daraufhin grinste Lina fröhlich. „Okay, dann haben wir wohl ein Date."
Eva kicherte. „So kann man es auch formulieren."
Inzwischen waren die beiden in der dritten Etage angekommen. Kaum betraten sie das Büro, wurden sie auch schon von Erik Knopp, ihrem Teamleiter angesprochen: „Da seid ihr ja endlich, Mädels! Der Boss wartet schon auf euch!"
„Der Boss?", fragte Lina leise flüsternd an Eva gewandt.
Ihre Kollegin antwortete genauso leise: „Er meint Mark Bergmann. Er ist für alle Planungsteams zuständig und müsste auch dein Bewerbungsgespräch geführt haben. Ich habe noch nie gehört, dass Erik seinen Namen benutzt. Er sagt immer nur ‚der Boss'."
Wie aufs Stichwort wedelte Erik mit der Hand. „Also hopp, hopp! Worauf wartet ihr noch? Der Boss hat nicht den ganzen Tag Zeit."
Also machten sie sich wieder auf den Weg zum Fahrstuhl und fuhren in die fünfte Etage. Dort befanden sich die Büros der Führungskräfte und Mark Bergmanns war gleich das erste. Was er wohl von uns will?, dachte Lina nervös und klopfte zaghaft an die Tür.
„Herein!"
„Guten Morgen, Herr Bergmann. Erik Knopp sagte, Sie wollen uns sprechen", meldete sich Eva zu Wort, als sie das Büro betraten. Lina machte derweil die Tür hinter ihnen zu.
„So ist es, meine Damen. Es gibt da ein Projekt, für das ich noch einige Mitarbeiter benötige. Da es sich nur um ein internes Firmen-Event handelt, dachte ich, das wäre genau das Richtige für unseren jüngsten Neuzugang. Sie könnten Erfahrungen sammeln und sich ausprobieren, Frau Herrmann", sprach er Lina an. „Und da Sie anscheinend sehr gut mit Frau Meyer zusammenarbeiten, habe ich Sie ebenfalls für dieses Projekt vorgesehen", wandte er sich nun an Eva.
„Ein Firmen-Event?", fragte diese neugierig nach und Lina lauschte gespannt.
„Ja, einer unserer Mitarbeiter hatte die Idee, in diesem Jahr ein Sommerfest für die Belegschaft zu veranstalten. Die Firmenleitung war einverstanden. Nun muss ich nur noch ein Team zusammenstellen, das sich um die Organisation kümmert. Ich denke, vier Eventplaner sollten reichen. Wenn Sie allerdings noch Unterstützung benötigen, sagen Sie einfach Bescheid. Dann teile ich dem Projekt eine weitere Person zu. Das heißt, sofern Sie sich der Herausforderung stellen wollen, Frau Herrmann", er sah Lina fragend an.
Natürlich will ich!, dachte sie und beeilte sich zu antworten: „Ja, ich würde sehr gerne ein Sommerfest planen! Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Herr Bergmann."
„Nun, es wird sich zeigen, ob mein Vertrauen gerechtfertigt ist", antwortete Mark Bergmann nachdenklich und Lina schluckte schwer.
„Wir werden Sie nicht enttäuschen, Herr Bergmann. Vielen Dank, dass Sie an uns gedacht haben", reagierte Eva. Lina hätte auch beim besten Willen nicht gewusst, was sie darauf antworten sollte. Zum Glück war Eva ja nicht auf den Mund gefallen. Zusammen werden wir ihm beweisen, dass er die richtige Wahl getroffen hat! Auch wenn er mir scheinbar nicht allzu viel zutraut ...
„Gut, dann war es das. Die anderen beiden Eventplaner warten bereits in Besprechungsraum 3 auf Sie. Bitte schließen Sie die Tür hinter sich."
Mit diesen Worten waren Eva und Lina wohl entlassen. Sie verließen das Büro ihres Chefs und machten sich auf den Weg in die dritte Etage. Der Besprechungsraum befand sich direkt neben dem Großraumbüro, in dem ihr Team arbeitete.
Wer wohl noch an der Planung beteiligt ist?, fragte sich Lina, während sie mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren. Bisher kannte sie nur die Eventplaner aus ihrem eigenen Team und Mike. Zum Glück musste Lina nicht mehr lange auf die Antwort warten, denn die beiden Frauen standen inzwischen vor dem Besprechungsraum und tauschten ein Lächeln.
„Bereit?", fragte Eva.
„Immer!", antwortete Lina strahlend.
Doch als sie den Raum betrat, war sie sich da nicht mehr so sicher. Denn vor ihr stand Julian Eberhardt.
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