Kapitel 5
°°••ASRA••°°
Wenn Asra gehofft hatte, dass ihre Mutter vor der Schule wartete, war es eine nicht erfüllte Hoffnung. Wie schon so vieles an diesem schrecklichen Schultag. So stand sie vollkommen allein vor dem Schulgebäude und sah zu, wie die anderen Kinder und Jugendlichen mit großem Bogen um sie herum zu den Autos oder dem Bus eilten.
Sollte sie es einfach wagen und ebenfalls zum Bus gehen? Aber sie hatte doch keine Ahnung, ob er wirklich bei ihrem abgelegenen Haus vorbeifuhr. Außerdem konnte es sein, dass ihre Mutter doch noch kam und sich Sorgen machte, wenn sie Asra nicht hier vorfand.
Also blieb sie stehen und wartete. Unbewusst hielt sie Ausschau nach Jaro. Er war so wie sie neu. Sie hatte das von einer Gruppe giggelnder Teenies mitbekommen. Wenn sie es richtig gehört hatte, war die kurvenreiche Blondine auch nicht seine Freundin, sondern seine Schwester. Das erklärte auch ihr zickiges Verhalten, denn sie war ja schon länger hier und kannte alle Regeln. Ihr Bruder offensichtlich nicht.
Leider gab es drei Punkte, die ihn von ihr meilenweit trennten. Da kam eher der Mond mit der Sonne zusammen als sie mit ihm. Er war in einem Rudel, das hatte sie ja schon in der ersten Pause von Lilith gehört, er war als Sechzehnjähriger natürlich eine Klasse über ihr und außerdem war er der Sohn eines Alphas. Wobei ihr dies am meisten Probleme bereitete. Sie hatte in der Stadt von der Mafia gehört, von Banden und Clans. Hier auf dem Land nannten sie das wohl Rudel mit einem Alpha als Anführer. Unter dem Gesichtspunkt wollte sie doch kein Rudel gründen. Mit so etwas wollte sie auf gar keinen Fall zu tun haben! Bestimmt wusste ihre Mutter nichts davon, sonst wäre sie nie hierhergezogen, oder sie hätte sie auf eine andere Schule angemeldet.
Ländliche Mafia! Sogar eine ganze Schule für solche abgrundtiefen schlechten Menschen. Kein Wunder, dass man sie wie eine Aussätzige behandelte. Bestimmt konnten die ihr ansehen, dass sie für so etwas nicht taugte. Zwar hatte sie an ihrer alten Schule den Opfern von Mobbing nicht beigestanden, aber niemals würde sie andere mobben, erpressen oder irgendwie unter Druck setzen. Ihre Mutter musste das einfach verstehen.
Obwohl sie das alles wusste, schlug ihr Herz direkt etwas schneller, als sie diesen moschusartigen Geruch wahrnahm. Den Patschuliduft ignorierte sie hastig, der kam eindeutig von Lilith. Aber dieser andere Duft, so himmlisch und betörend. Mit einem sanften Lächeln drehte sie sich und sah nicht nur Jaro, wie er aus dem Schulgebäude trat, nein, er war umringt von den attraktivsten Jungs der ganzen Schule. Alle hatten blonde Haare in unterschiedlichen Tönen, wobei Jaro mit den hellen Strähnen dennoch herausragte. Sie konnte erkennen, dass die anderen ebenso wie Lilith blaugraue Augen hatten. Geschwister also.
„Lia, siehst du das? Lia, alle zusammen, oh mein Gott, ich werde ohnmächtig."
Asra brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Ruf von einem der Mädchen kam, die grüppchenweise herumstanden und tratschten.
„Reiß dich zusammen, Pam, wir Kirkanes dürfen nichts mit den Davis' anfangen!"
Asra verdrehte die Augen. Ja klar, eindeutig Mafiastrukturen. Jede Familie, jedes Rudel musste unter sich bleiben. Was passierte denn sonst? Wurde man verstoßen, wenn man den falschen Mann liebte? Hatten die hier noch nichts von Gleichberechtigung gehört und Gleichwertigkeit?
„Aber sie sind so heiß!" Diese Pam stöhnte gequält auf. „Wenn mich auch nur einer von ihnen als Mate erkennt, zerfließe ich vor Glückseligkeit."
„Ssht! Sag das nicht so laut. Wenn das Kitkun erfährt, schmeißt er dich raus."
„Ach was, der ist doch nur angefressen, weil weder er noch seine Brüder diesen heißen Davis-Jungs das Wasser reichen können."
Asra gäbe sonst was, um dieses endlose Geplapper abschalten zu können. Vielleicht reichte es, wenn sie ein paar Schritte nach hinten machte? Dann mussten die Mädchen ausweichen und suchten sich hoffentlich einen Flirtplatz weit weg von ihr. Sie fackelte nicht lang und probierte es aus.
Während sie nach hinten ging, blickte sie selbst diesen Traumjungs hinterher. Nur der Anblick der sexy Lilith vermieste ihr den Genuss ein wenig. Zumindest war das Mädchen nicht Jaros Freundin. Doch wenn alle pubertären Teenager auf Jaro standen, hatte sie selbst überhaupt keine Chancen bei ihm. Was für ein bescheuerter Gedanke! Sie wollte doch gar nichts von ihm, dem Sohn des größten Mafiosos der ganzen Gegend!
In genau dem Moment, wo sie das dachte, stieß sie gegen eines der Mädchen aus der Gruppe. Die waren also nicht ausgewichen. Wahrscheinlich hatten die nur Augen für Jaro und seine Brüder gehabt.
Ein spitzer Schrei ertönte, dann bekam Asra einen kräftigen Stoß, der sie nach vorn taumeln ließ. Dass es ausgerechnet in der Sekunde passierte, als die Davis-Truppe vorbeikam, war nicht ihre Schuld. Wirklich nicht. Sie versuchte noch krampfhaft, ihr Gleichgewicht wieder zu finden, vielleicht nicht ganz so krampfhaft wie möglich, aber immerhin tat sie so als ob. Denn tief in ihr schlummerte etwas und wollte, dass sie gegen einen der Davis-Jungs stieß. Sie sehnte sich geradezu danach, von ihnen bemerkt zu werden. Von irgendeinem und ganz speziell von Jaro.
Sie schrie nun ebenfalls auf, mehr spielerisch als ernstgemeint, aber das ahnte hoffentlich niemand. Schon prallte sie mit dem Kopf gegen eine breite Brust, roch Zwiebel und eine leicht salzige Note und dachte, dass sie Hunger hatte.
„Verflucht! Drecks-Ni-Wa! Kannst du nicht aufpassen?"
Der nächste, diesmal viel kräftigere Stoß beförderte sie quer über den Rasen und sie landete rücklings zwischen eine kreischende Schar von Mädchen. Ehe diese auswichen, kassierte Asra einige deftige Fußtritte. Na super, sie hätte doch besser ihr Gleichgewicht halten sollen. Schmerz fuhr durch ihren Körper und am liebsten hätte sie diesen schmierigen Typen die Gesichter zerkratzt. Sie war wütend und maßlos enttäuscht, auch über sich selbst und ihre eigene Dummheit.
„Hast du dir wehgetan?"
Fauchend fuhr sie mit der Hand nach vorn und ihre Fingernägel erwischten die Wange von ... Oh nein! Ausgerechnet Jaro kniete da neben ihr und blickte sie fassungslos an. Sehr langsam hob er seine Hand und griff an seine Wange, auf der drei kräftige Spuren zu sehen waren, aus denen ein klein wenig Blut hervorquoll.
„Es tut mir leid", hauchte sie bestürzt. Und das meinte sie wirklich so.
„Ich hab dir doch gesagt, sie ist eine rudellose Ni-Wa", erklang es abfällig dicht neben ihm. „Mit solch einer geben wir uns nicht ab."
„Komm", befahl ein anderer der Davis-Truppe, „lass uns gehen. Ich gebe Dad Bescheid, dass eine Unwürdige übergriffig geworden ist. Dann ist sie fort."
„Außerdem muss deine Wunde dringend gereinigt werden", legte Lilith noch nach, „wer weiß, was für Krankheiten diese Unperson mit sich schleppt."
Jaro richtete sich auf. Asra sah in seinen Augen keine Ablehnung, keinen Hass und auch keine Verachtung. Hatte er verstanden, dass sie ihn nicht absichtlich gekratzt hatte, sondern aus einem Reflex heraus, um den scheinbar nächsten Angriff abzuwehren? In seinen dunkelbraunen Augen lag so viel Gefühl, dass es ihr schier das Herz zerbrechen wollte. Dabei hatte sie am Morgen vor Schulbeginn geglaubt, ihr Herz wäre in Tausende Splitter zersprengt und könnte nie mehr heilen. Doch wie es schien, brachte Jaro Davis das Wunder fertig, ihr soeben zusammengesetztes Herz erneut zu zersplittern.
Sie wünschte, sie wäre seine Mate, was auch immer das sein sollte.
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..••°°JARO°°••..
„Wenn du sie von der Schule werfen lässt, dann muss ich auch dort weg." Jaro bebte vor Zorn. Er spürte etwas Dunkles in sich emporsteigen. „So viel habe ich heute schon gelernt, dass Männer, die Frauen außerhalb des Rudels schwängern, dafür mit Verbannung bestraft werden. Und die Kinder gelten als rudellos. Wir beide wissen, dass meine Mutter nicht aus diesem Rudel stammt. Vater."
Er sprach das Wort mit so viel Verachtung aus, wie ihm möglich war. Diese Zweiklassengesellschaft missfiel ihm. Und er hatte nicht vor, seine Meinung zu ändern. Schließlich lebten sie in modernen Zeiten und nicht im tiefsten Mittelalter oder einer Dschungelgegend, in der man nie etwas von der Zivilisation gehört hatte.
„Du weißt ebenso gut wie ich, dass ich dich herholen musste", kam die scharfe Erwiderung des Alphas. „Deine Mutter hat mich als deinen Vater in deine Geburtsurkunde eintragen lassen. Der Bluttest hat bewiesen, dass du von mir abstammst. Solange du nicht erwachsen bist, muss ich mich um dich kümmern."
„Du hättest das Sorgerecht ablehnen können und mich in ein Heim stecken!"
„Ich bin ein Davis, Alpha des mächtigsten Rudels in dieser Gegend! Ich kann meinen eigenen Sohn nicht in ein Heim geben, ohne meinen Ruf und meine Stellung zu verlieren."
„Sag das all jenen Wandlern, die ihre Kinder außerhalb des Rudels als eigene anerkannt haben und genau deshalb ihren Ruf und ihre Stellung verloren haben", knurrte Jaro zornbebend. Mit angespannten Muskeln stand er vor seinem Vater. Jetzt würde er sich so gern wandeln und auf den scheinheiligen Kerl stürzen. Aber er konnte es nicht. Was auch immer nicht mit ihm stimmte, er konnte sich nicht wandeln!
Omega, ging es ihm durch den Kopf, er wäre bald ein Omega. Er musste schleunigst herausfinden, was das bedeutete. Sicher nichts Gutes. Zumindest nicht für ihn.
„Ich bin der Alpha", herrschte ihn sein Vater an. „Ich kann mit jedem Weibchen Nachwuchs zeugen. Aber wenn der Nachwuchs nichts taugt, darf ich ihn ... bestrafen."
Jaro hatte das kurze Zögern bemerkt. Er ahnte, was das zu bedeuten hatte. Hier ging es nicht um eine neue Stellung, nicht um dieses Omega-Dasein. Eigentlich hatte sein Vater sagen wollen, dass er unfähigen Nachwuchs töten durfte. Bestimmt machte er das nicht als Mensch. Denn da galt noch immer solch eine Tat als Mord oder zumindest Totschlag. Nicht einmal ein Alpha war vor der Rechtsprechung sicher. Niemand stand über dem Gesetz.
Doch wenn beide verwandelt waren, ein Wolf den anderen zu Tode biss, wer würde es ahnden? Alle würden wegsehen und es als natürliche Auslese betrachten. Vielleicht war es sein Glück, dass er sich nicht wandeln konnte. Hätte ihn Kuro Davis, Alpha des Davis-Rudels, sonst bereits getötet? Um sich diesen lästigen, unfähigen Sohn vom Hals zu schaffen?
Der Sechzehnjährige ahnte, dass sein Vater keineswegs der liebevolle, fürsorgliche Mann war, den er vor der Jugendbehörde gespielt hatte. Ganz sicher war seine Mutter auch nicht die einzige Frau, die er neben seiner Luna Amaya geschwängert hatte. War Amaya eigentlich nur die Luna oder auch die Mate vom Alpha? Allmählich war sich Jaro da gar nicht mehr sicher. Vielleicht nahm sie deshalb seine Anwesenheit mit so viel Gleichmut hin. Vielleicht kannte sie noch mehr Stiefkinder und hatte deren Ende miterlebt. Wartete sie darauf, dass Kuro auch diesen neuen Sohn, der nur ein Mischling war, endlich für immer beseitigte?
In Jaro brannten der Zorn und der Schmerz darüber, hier nicht wirklich erwünscht zu sein.
„Und wie willst du mich nun bestrafen für meine Untauglichkeit? Soll der Besuch der Schule etwa meine Strafe sein? Wow, was für eine privilegierte Strafe", spottete Jaro. „Du weißt sehr wohl, dass ich kein echter Wandler bin. Vielleicht kann ich nicht zu den Nichtwandlern gezählt werden, doch zu den Wandlern auch nicht. Wenn also diese Nichtwandlerin von der Schule geschmissen wird, weil sie sich verteidigt hat, dann muss ich ebenfalls von der Schule geschmissen werden, weil ich der rudellosen Ni-Wa helfen wollte."
Vater und Sohn blickten einander unnachgiebig an. Kuro wurde immer unruhiger und ein tiefes Knurren entrang sich seiner Kehle. Widerwillig musste er die Stärke in seinem Sohn anerkennen. Solch einen Kampfgeist würde er gern bei Tynan erleben.
„Ich werde über dein Ansinnen nachdenken. Zum Abendessen verkünde ich meine Entscheidung. Und ich erwarte, dass du dich ihr beugst."
Jaro wusste, nun konnte er nichts mehr tun. Der Alpha musste vor dem Rudel sein Gesicht wahren. Wenn sein Mischlingssohn gegen ihn offen aufbegehrte, gab es Probleme. Sie mussten beide zu einem Waffenstillstand finden. Hier bot ihm sein Vater einen an. Deshalb drehte er sich um und verließ den Raum.
Seine Brüder würden jetzt nach draußen stürzen, sich wandeln und beim schnellen Lauf ihren Zorn abschütteln. Jaro konnte das nicht. Er ging in sein Zimmer, verschloss die Tür und versuchte, seinen Zorn wegzuatmen. Als er zum Fenster hinausblickte, sah er einen großen grauen Wolf über das Feld jagen und im nahegelegenen Wald verschwinden. Ein wunderschönes Tier mit starken Flanken, einem schimmernden Fell. Ob als Mensch oder als Wolf, Kuro Davis war eine eindrucksvolle Erscheinung und jedes seiner Kinder auch.
Jaro lehnte seine Stirn ans Fenster und seufzte. Er hatte die braunen Augen seiner Mutter, die langen femininen Wimpern von ihr. Und er hatte anscheinend die Hälfte ihrer Gene, wenn es um das Wandeln ging. Nur die offensichtliche Attraktivität hatte er von seinem Vater. Seine Mutter war eher eine durchschnittlich aussehende Frau gewesen. Nicht, dass er schlecht von ihr dachte. Nein, sie war seine Mutter gewesen. Für ihn war sie die schönste Frau der Welt! Aber objektiv betrachtet, hätte sie nie als Laufstegmodel Karriere machen können. Sie war eine einfache, liebevolle Mutter und Frau gewesen, mit dem Herz auf dem rechten Fleck, irgendwie immer ein wenig einsiedlerisch, dennoch zuverlässig.
Die Ärzte hatten nicht herausfinden können, woran sie gestorben war. Scheinbar an einem gebrochenen Herzen. Es hatte einfach aufgehört zu schlagen, dabei war sie so jung gewesen, viel zu jung für einen Herzinfarkt. Doch was wusste er schon. Er war von der Schule nach Hause gekommen wie jeden Tag, sie hatte ihn lächelnd begrüßt. Sie hatten gemeinsam zu Abend gegessen und sich über das Erlebte unterhalten, sich anschließend gemeinsam um den Abwasch gekümmert. Dann war er in seinem Zimmer verschwunden und hatte Videospiele an seinem alten Game Boy gezockt, während sie sich mit einem Buch zurückgezogen hatte. Am nächsten Morgen hatte er den Kaffeegeruch vermisst, das Klappen der Wandschränke, das leise Klirren des Porzellans. Er hatte an ihrer Schlafzimmertür angeklopft. Und dann hatte er sie entdeckt. In ihrem Bett. Noch vollständig bekleidet. Das Buch auf ihrer Brust, die Augen friedlich geschlossen.
Eine Woche später war sein Vater aufgetaucht und hatte ihn mitgenommen. Ein fremder Mann, der über die nötigen Papiere verfügte. Und da hatte er zum ersten Mal von Wandlern gehört. Dass diese Fantasiewesen Wirklichkeit waren. Und er einer von ihnen.
Die Erinnerung schmerzte. Er wollte sie nicht mehr ertragen müssen. Aber er konnte sie nicht abschütteln. Noch nicht. Es war alles noch immer viel zu frisch. Und das Wissen, seinen nächsten Geburtstag ohne sie zu feiern, tat unglaublich weh.
„Mom", flüsterte er und spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Einige versickerten im Pflaster, das sie ihm auf die Verletzung geklebt hatten. „Mom, warum hast du mich allein gelassen?"
·̩̩̥͙**•̩̩͙✩•̩̩͙*˚˚*•̩̩͙✩•̩̩͙*˚*·̩̩̥͙·̩̩̥͙**•̩̩͙✩•̩̩͙*˚˚*•̩̩͙✩•̩̩͙*˚*·̩̩̥͙
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