
14 | Leuchtfeuer (D)
„Ich brauche eine Pause!" Sophia hielt sich den Bauch, als eine stechende Wehe ihren Unterleib durchzog. „Ich will das nicht!", rief sie hilflos. „Lass uns nach Hause gehen!" Doch Marek war unerbittlich. „Es ist nicht mehr weit. Amore, vertraue mir! Wir sind gleich da. Sie haben dort ein Krankenhaus." Sophia atmete pustend aus und nickte dann schwach. Ihre letzten Kraftreserven zusammennehmend zwang sie sich weiterzugehen. Immer einen Schritt vor den anderen. So, wie sie es in dem Online-Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte. Sie sollte immer nur an die nächste Wehe denken. Immer nur an den nächsten Schritt. Und den nächsten. Bis der Weg zu Ende war. Sie würde es schaffen.
Es war mitten in der Nacht, als sie auf dem versteckten Pfad weiter Richtung Bergspitze stiegen. Doch die Flutscheinwerfer von New World leuchteten unnatürlich grell in das Dunkel der Berge. Die breite Asphaltstraße, die in den letzten Monaten nur die Baufahrzeuge und Arbeiterbusse aus den tiefer gelegenen Arbeiterlagern in die Stadt gebracht hatten, war nun verstopft mit Bussen voller neuer Bewohner, die eilig informiert worden waren, dass die Kuppel nun doch früher als geplant geschlossen werden würde.
Marek wusste, dass auch die Tunnel, die bisher zur besseren Belüftung offen gehalten wurden, bald verschlossen sein würden. Wann das sein würde, wusste er nicht. Doch er kannte auch die weniger bekannten Stellen, zu denen er seine hochschwangere Frau nun führte. Der Weg führte sie weiter, weg vom Licht und dem Lärm des Haupteingangs, und sie mussten ein paar steile Felsen hinuntersteigen, bevor sich vor ihnen eine von dichtem Dickicht fast versteckte Höhle auftat. „Hier ist es!" Marek spürte Erleichterung, als er seine Frau vor dem Höhleneingang in den Armen hielt. „Komm, wir müssen hier lang!"
Marek ging ein paar Schritte in die Höhle hinein, um zu sehen, ob die Luft wirklich rein war.
„Ahh!" Sophia krümmte sich plötzlich und hielt sich den Bauch. „Sophia!", rief Marek und drehte sich um. In diesem Moment spürte er ein leichtes Beben unter seinen Füßen, das schnell durch seine Beine kroch und dann seinen Torso erschütterte. Es dauerte eine Sekunde zu lang, bis er realisierte, was passierte. „Sophia!" Sein Schrei hallte durch die Stille der Nacht, und er sah seine Frau nur wenige Meter entfernt die Augen aufreißen. Er machte einen Schritt Richtung Ausgang, als er das knirschende Geräusch von Metall auf Stein hörte. Erschrocken blickte er nach oben. Ein paar rote Lämpchen blinkten in einer Reihe an der Höhlendecke und kamen schnell auf ihn zu. Entsetzt wich er zurück und entkam nur knapp dem schweren Schleusentor, das sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf den Boden senkte. Sein Verstand setzte für einen Moment aus, bis die Stimme seiner Frau ihn in die grausame Realität zurückholte. „Marek!" Ihr Ruf durchdrang den Mann, und ein eisiger Schauer überlief ihn. Er warf sich auf den Boden und versuchte unter dem sich senkenden Tor zurückzukriechen. Doch es war zu spät. Gerade noch rechtzeitig zwang er sich zur Umkehr und entkam dem schweren Schleusentor nur knapp. Mit einem lauten Wummern schloss es auf dem steinigen Boden auf und erstarrte. Dann wurde es still.
Kein Laut drang mehr von draußen durch die massive Tür, und kein Licht war in dem dunklen Gang zu sehen. Marek zitterte, doch nicht vor Kälte. Er wusste, dass seine Frau - die Liebe seines Lebens - auf der anderen Seite gerade in den Wehen lag und nun ganz allein ihr gemeinsames Kind zur Welt bringen musste. Er musste einen Weg finden, die Kuppel wieder zu verlassen. Sofort!
Mit vor Schweiß nassen Händen tastete sich Marek an den Wänden des dunklen Tunnels entlang. Er war schon öfter hier gewesen und wusste, wenn er sich an der linken Seite des Tunnels hielt, würde er irgendwann in einen beleuchteten Gang gelangen. Von dort aus konnte er an die Oberfläche und die Kuppel wieder verlassen. Immerhin sollte er auch gar nicht hier sein. Man würde ihn gehen lassen. Ganz bestimmt. An diesem Gedanken hielt er sich fest und stolperte den steinigen Untergrund entlang, bis er Licht am Ende seines Tunnels sah. Endlich.
Gerade als Marek erleichtert aufatmen wollte, erblickte er zwei Gestalten, die langsam näher kamen, die Maschinengewehre im Anschlag. Ein plötzliches Gefühl der Panik ergriff ihn, und er wich instinktiv zurück. Dabei stolperte er über einen losen Stein, der im Gang lag. Er taumelte, sein Kopf prallte gegen die niedrige Höhlendecke, und für einen furchtbaren Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Er versuchte mit den Händen Halt zu finden, doch der Schwindel überwältigte ihn und zwang ihn zu Boden. Sein Körper schlug mit einem dumpfen Aufprall auf dem steinigen Boden auf, und ein Schatten legte sich über seine Gedanken. Regungslos blieb er in der Dunkelheit liegen, während die Zeit stillzustehen schien.
Die beiden Gestalten, die nichts von dem Drama mitbekommen hatten, setzten ihre Runde fort und verschwanden langsam in entgegengesetzter Richtung. Marek blieb allein zurück, seine Welt in Dunkelheit und Stille gehüllt.
Als er nach einigen Stunden endlich wieder zu sich kam, hatte man bereits alle Zugänge zu New World verschlossen und es gab keinen Weg mehr nach draußen. Der untere Bereich der Kuppel war von einer Mauer aus Beton umschlossen, um ungebetene Besucher draußen zu halten. Auch Mareks Tunnelzugänge wurden in diesen ersten Tagen des Untergangs streng von Security Agents, der neuen Polizei von New World, bewacht. In seiner Verzweiflung versuchte Marek an einem der Agenten vorbei in die Höhlen zu kommen und wurde festgenommen, weil man ihn für einen Unruhestifter hielt. Zwei Monate hielt man ihn daraufhin in dem hochmodernen Gefängnis fest, bis ein provisorisches Gericht ihn wieder auf freien Fuß setzte.
Als er nach der langen Zeit ohne Fenster einen Fuß auf die Straßen der Stadt setzte, wurde er hart von der neuen Realität eingeholt. Die Stadt, die er bei strahlendem Sonnenschein verlassen hatte, lag nun selbst am Tag im Halbdunkel eines grauen Schattens, der sich über der Kuppel ausgebreitet hatte. Marek fand schnell heraus, dass Menschen, die lange den Untergang verleugnet hatten, sich nun doch auf den Weg zur Kuppelstadt gemacht hatten. Doch die Tore waren verschlossen. Niemand würde mehr in die Stadt kommen. In nur vierundzwanzig Stunden hatte man die halbe Stadt mit Bewohnern gefüllt. Dieser erste Schwung würde die neue Gesellschaft aufbauen.
Marek fragte sich unweigerlich, wer die Arbeit für all die reichen Persönlichkeiten machen würde, denn die unteren Wohneinheiten waren fast alle noch unbewohnt. Und die Menschen vor den Toren hatten begonnen die Kuppel anzugreifen. Das Abwehrsystem der Stadt hatte die Vandalen schnell auf Abstand gebracht, doch die Menschen, die sich ausgeschlossen fühlten, hatten begonnen, Feuer zu legen und die dichten Rauchschwaden umgaben Mareks neues Zuhause, das nun auch bei Tag im Licht der Neonröhren zu leuchten begann.
Marek versuchte noch viele weitere Male, an den Wachen vorbei in die Höhlen zu kommen, doch er scheiterte. Immer wieder. Nach einem halben Jahr gab er schließlich auf. Er ahnte, dass er Sophia und sein Kind so bald nicht wiedersehen würde. Doch er gab die Hoffnung nicht auf, dass sich bald eine Gelegenheit ergeben würde, nach draußen zu gelangen und sie wiederzufinden.
Es dauerte noch weitere zwei Monate, bis die Nachricht sich in New World verbreitete, dass ein zweiter Schwung Nachzügler in der Stadt eintreffen würde. Mareks Geist war sofort hellwach. Er hatte sich in der Wohnung einquartiert, in der er bei seinem letzten Job das Telefonat belauscht hatte und dessen Schlüssel er nie abgegeben hatte. Und er hatte einen Plan. Er würde da sein, wenn die Tore geöffnet werden würden. Er würde sich rausschleichen und zu seinem Haus am Fuß des Berges laufen. Er würde Sophia finden und das Baby und sie mitnehmen. Er hatte ja den Schlüssel, um zu beweisen, dass er in die Stadt gehörte. Alles würde gut werden, da war er sich sicher.
Als die Busse ankamen und das Tor geöffnet wurde, gelang ihm der Ausbruch in dem aufkommenden Gewimmel reibungslos und er schaffte es unbeschadet in das winzige Dorf, an dessen Rand ihr kleines Zuhause stand. Außer Atem erreichte er die Haustür und drückte die Klinge hinunter. Die Tür schwang auf und er stand in dem Flur, den er schon so oft betreten hatte. Doch dieses Mal fühlte es sich seltsam fremd an, in diesem Raum zu stehen. Der Blick in die Küche verriet im, dass keine Sophia am Herd stand und „Funiculì, Funiculà" summte. Der Raum war kalt und unbewohnt, die geblümten Vorhänge waren von Motten angefressen und ein Stuhl war umgefallen. Marek trat in den Raum und bückte sich zu dem Möbelstück, um es aufzuheben. Das Sitzkissen, dass seine Mutter ihnen zur Hochzeit genäht hatte, lag auf dem staubigen Fußboden. Sie war für den Stoff extra in die Stadt gefahren, da sie wusste, dass Sophia eine schwäche für Blumen hatte. Der weiße Oleander, der das Kissen und die Vorhänge schmückte, erinnerte Marek an Sophias Schönheit und Anmut, doch auch an die Gefahr, in der er sie zurückgelassen hatte. Er hatte sie gedrängt mit ihm unter die Kuppel zu kommen. Er hätte auch mit ihr hierbleiben können und die letzten gemeinsamen Jahre mit ihr und seinem Kind verbringen können.
Wenn er nur weniger egoistisch gewesen wäre, hätte er auf ihren Wunsch achten können und sie nicht in Gefahr bringen müssen. Wenn er auf sie gehört hätte, wären sie zu ihrer Familie nach Italien zurückgegangen und hätten noch ein paar schöne Jahre gehabt. Vielleicht war es ja gar nicht so schlimm gekommen mit den Überschwemmungen. Vielleicht stand das Dorf, aus dem er seine Frau vor knapp fünf Jahren hierher entführt hatte, noch. Sie war gerne mitgegangen. „Io sono felice dove sei tu." Ich bin glücklich, wo du bist, hatte sie ihm gesagt und tief in die Augen gesehen. Und das sagte sie ihm auch, als er sie bat, mit ihm nach New World zu kommen. Sie hatte ihre Wünsche seinen untergeordnet. Und er hatte es zugelassen. Und nun war sie nicht mehr da. Sie war fort.
Marek legte das Stuhlkissen wieder an seinen Platz und sah sich in der Küche um. Sein Blick fiel auf den Kühlschrank. Dort, wo immer die wichtigsten Notizen an bunten Magneten aus ihren Urlauben gehangen hatten, hing nur noch ein einziger Zettel, sorgsam flankiert von allen Magneten, wie um sicherzustellen, dass die Botschaft an Ort und Stelle blieb.
Mareks Herz begann wild zu klopfen, als er auf den Kühlschrank zueilte und die Zeilen überflog, die seine Frau ihm in fein säuberlicher Schrift hinterlassen hatte. Er las die Botschaft, legte seine Finger auf die Worte, die sie zuvor mit ihren eigenen Händen geschrieben hatte, und studierte sie erneut. Diesmal langsamer. Jedes Wort betrachtete er eingehend; nahm den Schwung des großen "A" in „Amore" wahr und die akkurat gesetzten Worte „Tochter" und „Beatrice".
Mit Tränen in den Augen erfuhr er, dass Sophia nach Italien gereist war, um sich dort um das gesund geborene Kind zu kümmern. Sie schrieb ihm, dass sie ihn liebte und nicht über das, was passiert war, verärgert sei. „Ich wollte nie in einem Fischglas leben", fügte sie hinzu, und Marek bemerkte den Fleck, wo eine Träne seiner Frau die Tinte verwischt haben musste. „Ich werde dich für immer lieben, Amore", beendete sie die Zeilen, die einen dicken Kloß in Mareks Hals hinterlassen hatten.
Vorsichtig entfernte Marek die Magnete von dem Brief und faltete den Zettel behutsam zusammen, bevor er ihn in seiner Jackentasche verstaut. Dann begab er sich ins Schlafzimmer, um das Hochzeitsfoto zu holen, das er vor ein paar Monaten bei seiner Flucht dort vergessen hatte. Als er den Rahmen hob, entdeckte er jedoch nicht das erwartete Foto. Stattdessen fand er eine Zeichnung, die seine Frau angefertigt hatte. Ein lautes Schluchzen entrang sich Mareks Brust, als er zum ersten Mal in die liebevoll gezeichneten Augen seiner Tochter blickte. In Beatrices Augen. Unter dem Porträt war „Bea Alighieri" in verschnörkelter Schrift zu lesen. Marek nahm auch diesen Schatz an sich und drückte ihn behutsam an sein Herz. In einer einzigen Nacht hatte er alles verloren, was ihm wichtig war. Doch an diesem Tag gewann er zumindest einen Teil dessen zurück, was er in den vergangenen Monaten verloren hatte: Hoffnung.
Hoffnung darauf, dass es seiner Familie, wo immer sie sich nun befanden, gut ging. Hoffnung darauf, dass sie rechtzeitig vor den Ausschreitungen unter der Kuppel entkommen waren.
Ein kurzer Moment der Versuchung überkam Marek, ihnen zu folgen. Doch Sophia hatte das Auto genommen, und zu Fuß würde er es nicht nach Italien schaffen. Er würde hierbleiben, unter der Kuppel, und auf bessere Zeiten warten. Er versprach sich selbst, dass er nicht aufgeben würde, bis er sie gefunden hatte. Mit dieser Entschlossenheit kehrte Marek zurück in die Kuppelstadt.
Während die Welt um ihn herum in den nächsten Jahren immer mehr zerbrach und in Dunkelheit zu versinken drohte, entflammte in ihm eine unerschütterliche Gewissheit: Die unzerstörbare Liebe zu seiner Familie brannte für immer in seinem Herzen, wie ein Leuchtfeuer in der ewigen Nacht.
Heute
Dante bemerkte, wie eine heiße Träne seine Wange hinunterlief. Beschämt wischte er sie beiseite. Sofia und Beatrice - die Tochter, die er nie hatte kennenlernen dürfen - sie beide waren mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von der Zerstörung, die außerhalb herrschte, betroffen. Die Dinge, die Worte, die auf der Hand lagen, wagte er kaum zu denken. Doch sie nicht auszusprechen machten sie nicht weniger greifbar. Ihm war nach heute Morgen klar, dass seine Hoffnung auf ein Wiedersehen gestorben war. Sie war, wie Sophia und Beatrice und alle anderen Menschen auf der anderen Seite, nur eines, nämlich tot.
Das einzige, was jetzt noch von ihnen übrig geblieben war, war der Nachname der beiden, den Marek angenommen und um den berühmten Vornamen des Autors erweitert hatte, dem er sich die letzten Jahre so nah gefühlt hatte. Der wie er versuchte, der Hölle zu entkommen und dabei all das Elend sehen musste, um ihr zu entfliehen: Dante Aligherie.
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