Kapitel 29
Die Lungen brennen und der Schweiß kommt aus allen Poren. Niemand hat gesagt, dass es bergauf geht. Störend findet Skyla es, dass sie als Einzige kurz vor einem Kreislaufzusammenbruch steht. Der Boden ist uneben. Wurzeln und Steine erschweren zu allem Übel den Aufstieg. Die Hexen sind gesegnet mit ihrer Magie. Mit ihrem monströsen Schuhwerk berühren sie nicht einmal den Untergrund. Sie erzeugen beiläufig kleine Plattformen. Kreisrund und blauleuchtend. In einem Ring steckt das Symbol von zwei prachtvollen Schwanenflügeln. Gackern wie Hühner laufen sie als Gruppe vor. Der Abstand zu den Damen ist gewaltig. Bislang hielt der Stolz Skyla davon ab, eine Pause einzulegen, aber nun streikt ihr Körper. Erschöpft lehnt sie sich an einen Baum und spürt plötzlichen Ballast auf ihrer rechten Schulter. Boro beugt sich neugierig über sie und betrachtet das Medium aus nächster Nähe. Er schnaubt und stupst sie mit seiner Schnauze kurz an. Dabei berührt er sie an der Wange. Die Hitze unter seinen Schuppen bleibt ihr bei dem kurzen Kontakt nicht verborgen.
„Er sorgt sich um dich."
Milan tritt näher heran. Bislang war der Geisterjäger schweigsam und in sich gekehrt. Seine Züge werden milde.
Kurz blicken sich die beiden in die Augen, woraufhin er leise hinzufügt: „Ich ebenfalls."
Die Nachhut rückt an und beweist erneut Stränge. „Vertrödelt keine unnötige Zeit! Wir haben noch ein gutes Stück vor uns!"
„Erkläre mir doch bitte mal, wohin wir wandern! Haben deine Hexen eine Verbindung zu Kai aufbauen können?"
Skyla japst und ringt nach Atem, während sie Justin fordernd betrachtet. Aber der Geisterjäger schüttelt grimmig den Kopf.
„Du bist ungeduldig!", folgt seine Beschwerde.
Damit gibt sie sich nicht zufrieden. Erbost bleckt sie die Zähne. „Habt ihr überhaupt einen Plan?"
Milan seufzt erschöpft, woraufhin Skyla seinem Blick folgt. Die Hexen haben angehalten und blicken zurück. Ihre Blicke triefen vor Verachtung. Naomi wirbelt bereits herum, aber bevor sie einen Fuß in ihre Richtung setzt, überwältigt Milan Skyla. Er trägt sie huckepack zu Justins Fangemeinde. Erschrocken legt Skyla ihre Arme um seinen Hals und erlaubt es sich ihren Kopf auf seine Schulter zu legen. So, wie Boro es vorher bei ihr tat. Sein Duft beruhigt ihren Geist und lädt zum Schlummern ein.
„Belasse es bitte dabei, Naomi. Ich habe Skyla in Griff."
Seine Worte zeigen Wirkung, denn das Weißhaar nickt stumm und setzt den Weg fort. Skyla hingegen boxt Milan gegen die Schulter.
„Das hört sich an, als sei ich ein Problemkind!"
„Bist du doch auch."
Skyla hört das Grinsen heraus.
Er ist unverschämt!
Mit dem Blick nach vorn gerichtet, berichtet Milan ihr: „Du hast Naomi darum gebeten, auf eine Seelenverbindung zurückzugreifen. Das ist selbst für eine mächtige Hexe kein leichtes und ungefährliches Unterfangen. Daher greift sie auf eine Naturader zurück."
„Eine was?"
„Eine Naturader ist ein Energiespeicher. Ein mächtiger Ort. Mediums können ebenfalls darauf zurückgreifen, aber vorher musst du lernen, eine gutartige Quelle zu erkennen, bevor dich die Finsternis verdirbt."
Ein wichtiger Hinweis. Ob Oma Ulrike ebenfalls davon weiß wird das nächste Gespräch mit ihr zeigen.
„Nimmst du dir Energie von einem ehemaligen Schlachtfeld, jagen dich die Gefallenen und trüben deinen Verstand. Nekromanten oder Dämonenbändiger sind für gewöhnlich stärker, aber bei ihnen suchen wir die Menschlichkeit vergebens. Solche Personen besitzen keine Empathie."
„Bist du so jemanden schon einmal begegnet?", interessiert es Skyla.
Milan schnaubt. „Ja, du findest sie in der Unterwelt wie Sand am Meer. Traue ihnen nicht. Sie sind speziell und opfern dich, ohne mit der Wimper zu zucken."
Klingt nach Begegnungen, auf die sie vorerst verzichten mag. Die Schlinge sitzt bereits eng genug, da möchte Skyla ihr Glück besser nicht herausfordern.
Seitdem die Gruppe das Grundstück verlassen hat, befinden sie sich in Beobachtung. Ihre Beschatter verstecken sich nicht einmal. Skyla staunt über die Artenvielfalt der Waldbewohner. So viele Tiere hat sie bislang nur im Zoo zu Gesicht bekommen und auch nicht alle. Von Raubtieren, Wildschweinen bis hin Nagern ist alles vertreten. Die kahlen Baumkronen werden von ganzen Vogelschwärmen gefüllt. Die ausgewachsenen Bären und Wolfsrudel sind ihr dabei nicht geheuer. Aber zum Glück wären die Tiere einen Abstand und verhalten sich ruhig. Fast, als seien sie nichts weiter als Statuen. Laut Justin stehen sie alle unter der Kontrolle des Dämons. Auch wenn sich die Geisterjäger gelassen verhalten, entgeht Skyla nicht, wie sie die Gesamtsituation kritisch beäugen. Skylas Freunde sind nervös, das zeigt Justin am besten daran, dass er die Waffe auf Brusthöhe hält. Bereit, jederzeit loszuschießen. Die Hexen hingegen nehmen die mögliche Bedrohung nicht ernst.
Das Geschnatter an der Spitze endet, als ein kleiner Anhang erreicht wird. Naomi breitet die Arme aus und tritt in die Mitte einer kreisrunden Fläche. In ihren Händen entstehen violette Funken und kurz darauf beginnt die Erde an zu beben. Milans Ausdauer ist beneidenswert. Er bewegt sich ohne irgendwelche Anzeichen einer Anstrengung und tritt an Naomi, ohne ihr Handeln in Frage zu stellen. Keiner der Anwesenden wirkt über die Erschütterung beunruhigt. Alle außer Skyla. Die Augen werden groß, als sich vier Felsenbrocken aus dem Erdreich erkämpfen und wie eine Pflanze hoch in den Himmel wachsen. In jeder Himmelsrichtung erhebt sich eine steinige Wand und mittig vor Naomi entsteht ein Konstrukt aus heranfliegenden Steinen, die wie Bauklötze aneinanderreihen. Milan muss sich ducken, als eine flache Steinplatte wie aus dem Nichts angeflogen kommt und den Abschluss bildet. In Windeseile bildet sich ein riesiger Tisch. Die Hexe nickt zufrieden und schaut zu ihren Freundinnen hinüber. Lucy hat sich an einen der Felswände hingesetzt und beginnt zu meditieren. Caja hingegen stellt sich beschützen vor ihre Freundin. Ihr warnender Blick gleitet um ihre Beschatter.
„Was zur Hölle?", platzt es aus Naomis Munde, als sie Skyla genauer betrachtet.
Das Medium bleckt unbewusst die Zähne.
„Stimmt etwas nicht?", meldet sich Justin aus dem Hintergrund.
Naomi hebt eine Kette auf Augenhöhe. Der Moment, wo Skylas Wut verfliegt, denn der einzige Beweis zu Dalikas Versprechen leuchtet ungewöhnlich hell.
„Unmöglich!" Ungläubig blinzelt sie. „Das hat sie vorher nicht gemacht! Kündigt sich Dalika endlich an?"
„Irrtum. Der Besitzer dieses Schmuckstücks befindet sich nicht mal in Deutschland. Die Quelle liegt mehr im Raum Asien und das hier wird als Verstärker eingesetzt. Der Geist wirkt einen Zauber auf den Träger."
Nun wird Milan hellhörig. „Einen Zauber? Was bewirkt er?"
Naomis Augen verengen sich, als sie Skyla betrachtet.
„Jetzt wird es seltsam, Justin. Statt ihr zu schaden verbessert der Zauber den gesundheitlichen Zustand. Der Geist nimmt die Müdigkeit an sich und füttert sie mit Energie."
„Damit geht der Nang Tani ein hohes Risiko ein", grübelt Justin.
„Nang Tani", wiederholt Lucy ihn ungläubig, „war Milan wieder in Thailand?"
Obwohl ihre Augen geschlossen sind, scheint sie großes Interesse an dem Gespräch zu haben.
„In der Tat. Du weißt, die Festlichkeiten lässt er sich nicht entgehen. Es kam zum Kampf und Skyla hat die Lage anders gelöst. Sie kam ins Gespräch und weckte die Neugier, damit hat sie einen guten Verbündeten gefunden."
„Ich bin zufällig anwesend! Behandelt mich nicht einfach wie Luft!", rät Milan bissig.
Naomis Finger gleiten von der Kette.
Caja hingegen schüttelt mürrisch den Kopf und teilt ihre Bedenken mit: „Ich kenne keinen Nang Tani, der sich im Dienste eines Schutzgeistes verpflichtet hat. Für gewöhnlich kommt es auch nicht zum Kampf. Sie sind friedvolle Seelen, sofern sie nicht Zeugen einer Straftat werden oder ihr Zuhause unerlaubt betreten wird. Ihre Bäume sind farblich gekennzeichnet, sag mir nicht, dass Milan so dumm war und die Kleine an einen dieser Bäume vernaschen wollte."
Skyla verflucht den Scharfsinn der Hexe und schämt sich zu Grund und Boden. In Milans Nähe wird sie schwach und tut solche dummen Sachen. Aber viel schlimmer ist, wie sie über die Sache sprechen, als sei Milan nicht anwesend. Etwas, was den Feenbesitzer verärgert schnalzen lässt.
„Es spielt keine Rolle, wie ich den Nang Tani gebunden habe!"
„Falsch!", widerspricht Naomi. „Es liegen eine Reihe beunruhigender Fakten vor, die von Justin und Co nicht ernst genommen werden. Ich sage, du wirst zu einer Bedrohung! Nicht umsonst hat dich ein Dämon als sein Nachfolger auserwählt! Würde es nach mir gehen, gehörst du weggesperrt oder eliminiert!"
Abwehrend hebt Skyla ihre Hände. Das Katz-Maus-Spiel mit ihrer Cousine Tessa hat sich ausgezahlt. Sie weiß, wann es Zeit ist, den Mund zu halten. Selbst dann, wenn die giftige Pampe aus Wut und Frust brodelt und kaum mit einem Topfdeckel im Zaun gehalten werden kann. Anders als Milan, dessen Körper sich augenblicklich anspannt. Daher blickt Skyla auf und sieht den Zorn in seinen Augen flammen. Wie ein gereizter Hund bleckt er die Zähne. Bereit, zum Gegenschlag auszuholen. Aber bevor sie es mit den Hexen verspaßen, hält sie frech seinen Mund zu und schüttelt den Kopf. Es war schließlich Justin, der betont hat, wie wichtig die Damen sind. Milan blickt ihr ruckartig in die Augen und sie sieht den unausgesprochenen Protest in seinem Seelenspiegel.
„Habt ihr ein Problem mit Skyla, dann auch mit mir. Vergesst nicht, sie ist in meiner Obhut."
Justin tritt schützend vor. Ein befremdlicher Moment. Für jeden Anwesenden. Ein historischer Augenblick, der selbst Lucys Mediation unterbricht. Die hochgewachsene Frau öffnet ihre Augen, als müsse sie sich vergewissern, dass es wirklich Justin war, der sprach. Mit dem Machtwort kehrt Stille ein. Es berührt Skyla, dass Justin ihren Ratschlag zu Herzen nimmt und sich Mühe gibt, etwas an sich zu ändern.
„Leg sie auf die Platte, dann bringen wir es hinter uns. Je schneller wir heimkehren, umso besser!"
Naomis befehlender Ton bringt Milan dazu, die Augen zu rollen. Ganz langsam nimmt Skyla ihre Hände von seinem Mund. In der Hoffnung, er belässt es dabei. Tatsächlich legt er sie stumm ab und macht Anstalten, zu gehen. Aber im letzten Augenblick entscheidet er sich um und beugt sich zu ihr hinab. Er drückt ihr einen Kuss auf die Lippen und dann zucken auch schon seine Mundwinkel in die Höhe.
„Du bist frech geworden, Süße."
Um sich an ihm ein Beispiel zu nehmen, ist es Skyla zur Abwechslung, die mit einem Zwinkern darauf antwortet. Etwas, das ihm gute Laune verschafft. Zwar macht er den Weg für Naomi frei und doch stellt er sich auf die andere Seite, um unaufgefordert nach ihrer Hand zu greifen. Etwas, wofür Skyla pure Dankbarkeit empfindet.
„Entspann dich. Es ist schnell vorbei."
Justins Trostversuche sind mehr schlecht als recht. Naomi ist grob und nimmt keine Rücksicht auf das Wohlbefinden ihres Kunden. Daher blinzelt sie gegen die Schneeflocken an und versinkt lieber in Milans Seelenspiegel aus flüssigem Silber. Schnell ist alles um Skyla herum vergessen und der Kopf frei. Begrüßen tut sie ein Ort, den sie niemals vergessen konnte. Nebelschwaden kommen von überall hervorgekrochen und fluten den Boden. Das Sonnenlicht hat keine Chance, jenen Ort zu wärmen. Einen dunklen Raum erhellt durch beschädigte Neonröhren. Einige davon brummen verdächtig, als geben sie schon bald den Geist auf. Umgeben von unzähligen Türen ist es eine, die durch das Absperrband besonders gut hervorsticht. Von dieser dringen laute Kratzgeräusche an Skylas Ohr. Verlockend süß wie weiße Edelschokolade mit Erdbeerstücken säuselt die Gefahr ihr zu. Das gelbe Band ist zum Greifen nah.
Eine Frauenstimme flüstert ihr zu: „Gutes Kind, ich bin gefangen. Öffne mir bitte die Tür."
Es fühlt sich richtig an, zu helfen. Mit einem Ruck ist das Band von der Tür gerissen und der Blick gleitet auf die vielen Schlösser. Ihre Macht wird sicherlich Abhilfe verschaffen.
Der Arm hebt sich, da schiebt sich Milan ins Bild. Er stellt sich schützend vor die Tür und schüttelt eisern mit dem Kopf.
„Nicht!"
Er kommt wie aus dem Nichts, dass Skylas Herz protestartig gegen den Brustkorb schlägt und sie wie eine Katze zurückspringt. Sein Name geht ihr flüsternd über die Lippen. Reuevoll schlägt sie die Augen nieder und fährt sich durch die Haare.
„Erneut bist du unerlaubt in meinen Kopf eingedrungen", schimpft er mit ihr.
Zu sanft für ihren Geschmack, denn sie trampelt unbefugt auf seiner Privatsphäre herum. Das hier gleicht einem Vertrauensbruch.
„Ich weiß. Entschuldige."
Es ist nur ein Nuscheln, wozu sie im Stande ist – lahm und enttäuschend. Aber ein Blick hinauf zeigt, dass er lächelt. Frech wuschelt er ihr durchs Haar.
„Es sei dir verziehen, aber nur weil du noch nicht begreifst, wozu du in der Lage bist."
Ein Blick zu der verschlossenen Tür und Sorgenfalten machen sich in seinem Gesicht breit.
„Von allen Erinnerungen darfst du diese niemals öffnen. Niemals, Skyla! Das ist wichtig!"
Sie nickt und ruft das Gespräch mit Justin auf. Sicherlich geht es hier um die Besessenheit seiner Mutter. Milan runzelt die Stirn und betrachtet sie prüfend.
„Keinerlei Fragen? Habe ich dir solch einen Schrecken eingejagt?"
Ihre Unterhaltung wird von einem lauten Dröhnen unterbrochen. Es klingt metallisch und gefährlich. Milan handelt und legt ihr augenblicklich die Hände auf die Ohren. Aus seiner Nase tropft Blut und doch hält er mit ihr Blickkontakt, als wolle er beschwichtigen, dass alles gut sei. Die Wände beginnen sich zu drehen wie bei einer Karussellfahrt. Skyla kann kaum hinsehen. Die Bilder verzerren sich so stark, dass es in den Augen schmerzt und der Schwindel sich ankündigt. Daher konzentriert sie sich auf Milan. Der Lärm endet erst, als die Wände zum Stillstand kommen. Die Räumlichkeit wird in rotes Licht getaucht und die Temperatur sinkt. Einfach alles hat sich verändert. Die Wände sind morsch und der Putz blättert teilweise ab. Einige Türen sind so stark zerkratzt, als habe jemand diese mit einem spitzen Gegenstand bearbeitet. Nur eine der Durchgänge ist liebevoll gestaltet. Gestrichen in einem dunklen Blau, worauf ein Sternenhimmel gemalt wurde. Der Mond und die Wolken lächeln, als sei dies ein Weg in ein Kinderzimmer.
„Diese miese Hexe", flötet Milan, als er von Skyla Abstand nimmt.
„Etwa Naomi?"
„Jede Wette! Dieses Miststück!"
„Ich kann dich hören, Milan!"
Tatsächlich schallt Naomis Stimme durch den Raum. Sie klingt belustigt.
Milan blickt hoch und fordert sein Glück heraus: „Hast also schon ohne uns angefangen, alte Hexe?"
„Was erwartest du? Dein Liebesdrama mache ich mir zum Vorteil! Hinter einer der Türen befindet sich die Gegenwart ihres fehlenden Schutzgeistes. Ihr werdet durch seine Augen sehen und die Gefahr auskundschaften. Das ist wichtig! Dennoch steckt ihr im Kopf eines Dämons. Vergesst das nicht!"
Skyla schüttelt sich bei dem Gedanken in Kais Kopf zu stecken. Dieser Dämonenbär ist einer der Kandidaten, wo sie auf Details gut verzichten kann. Milan atmet verdächtig laut aus, als sei er ebenfalls nicht erfreut.
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