26. Kapitel
Zum Abschluss des Tages führt Mias Portal zu einem traumhaften See. Still und leise schlummert das Gewässer fern von der Zivilisation und erstreckt sich kilometerweit. Ein leerstehendes Hotel befindet sich direkt am Ufer. Versteckt in einem Wald. Nun dient das alte Fachwerkhaus den Geisterjägern als Unterschlupf. Allein die Fassade kündigt den langsamen Verfall an und zeigt, wie sich die Natur das Grundstück zurückholt. In den Blumenbeeten auf den Fenstern sprießt Unkraut und Efeu rankt über das Mauerwerk. Skyla könnte sich stundenlang auf den Steg setzen, ihr Beine über dem Wasser baumeln lassen und diesen idyllischen Anblick genießen. Das Ufer wird von weißen Seerosen geschmückt und ist von einer Vielzahl Wasservögel besucht. Die Bäume und Pflanzen sind teilweise noch grün. Der Herbst lässt sich Zeit. Dennoch ist das Klima mild. Die Berge runden das Gesamtbild harmonisch ab.
Wie gern würde Skyla dieses Bild auf Papier bringen und sich in der Malkunst beweisen. Aber ein einfaches Foto tut es auch. Es wird schon bald über ihrem Bett hängen und sie hieran erinnern. Das Getuschel hinter ihr verebbt und Schritte kündigen ihren Besucher an. Skyla schaut über die Schulter und entdeckt Agnar noch immer bei Justin, der seinen Mitbewohner grimmig beobachtet. So wie der süße Geisterjäger blickt, haben sich die beiden gestritten. Milan lächelt für gewöhnlich viel. Selbst an düsteren Tagen. Aber jetzt steht ihm die schlechte Laune ins Gesicht geschrieben. Bis zu dem Moment, als seine silberfarbenen Augen sie fixieren. Es ist, als würde der Feenbesitzer eine Maske aufsetzen. Dabei versteckt Milan nur seine wahren Gefühle hinter diesem unechten Lächeln. Dabei entgeht Skyla nicht, wie sich Justin mit Agnar entfernt. Kai nimmt neben Skyla Platz und blickt in die Ferne.
„Wenn wir Pech haben, wird Agnar uns nicht nach Hause begleiten", spricht sie den Bären an.
Ihre Worte sickern langsam in sein Bewusstsein, so blickt der Dämon sekundenspäter erschrocken auf und dreht sich suchend um.
„Er ist im Vertrag mit dir. Kein Grund zur Sorge."
Milan Einmischung lässt die Sorge tatsächlich im Keim ersticken. Schließlich befindet er sich schon länger in dem Gewerbe.
Kaum nimmt Milan erschöpft neben Skyla Platz, weicht die Anspannung aus seinen Schultern.
„Hier lebt ihr also?"
„Es ist schön an diesem Ort. Vor uns lebte ein anderer Geisterjäger hier, aber der ist weitergezogen und hat uns diese Location empfohlen. Dieses Zuhause bietet Nahrung, sauberes Trinkwasser und Ruhe vor neugierigen Leuten. Keine Nachbarn, die uns kritisch beäugen oder uns persönliche Fragen stellen, weil sie um das Wohle ihrer Straße besorgt sind."
„Und die nächste Stadt?"
„Weit entfernt. Ohne Auto oder Mias Portale bist du hier aufgeschmissen."
„Wenn ihr mich nicht hättet", meldet sich Mia arrogant und erntet sein zuckersüßes Lächeln, das selbst einer miesen Fee das Herz erwärmt.
„Ich kann nicht glücklicher sein, Mia. Du bist ein wahrer Glücksfang", lobt er seine kleine Partnerin.
„Nehmt ihr die Bewegungen im Wasser wahr?", macht Kai sie beunruhigt aufmerksam.
Kaum ausgesprochen, lugt Milan über den Steg. Seine Mundwinkel zucken und seine Augen beginnen zu leuchten. „Hier leben unzählige Fische. Ich habe bereits einige Exemplare gefangen."
„Niemals!" Skyla schüttelt ungläubig den Kopf. „Du und angeln?"
„Ich und angeln."
Er nickt stolz und betrachtet sie einen langen Moment mit angehaltenem Atem. Fast, als erhoffe er sich eine Reaktion von ihr. Skyla betrachtet ihn jedoch kopfschüttelnd.
„Hätte ich dir nicht zugetraut."
Milans Lächeln zieht sich auffällig in die Länge. „Du zweifelst? Dann ab ins Boot und wir rudern raus. Fangen wir frischen Fisch. Aber nur, wenn du ihn verarbeitest und uns etwas Leckeres kochst."
Ein verlockender Gedanke. Ein Blick auf das kleine Boot, dessen Lack bereits abblättert, lässt sie zögern.
„Das hält uns auch wirklich aus?"
„Na klar", antwortet Milan mit einer felsenfesten Überzeugung.
Kai hebt jedoch die Bärenpfote. „Ich habe meine Einwände."
Mit einem amüsierten Ausdruck erhebt sich Skyla. Bereit, in das Boot zu steigen. „Du kleiner Angsthase. Kannst du etwa nicht schwimmen?"
„Ich kann!", brummt der Bär, „und doch halte ich das für keine gute Idee."
Wie immer stößt der Dämon auf taube Ohren, denn Skyla lässt sich bereits von Milan ins Boot helfen. Kai prallt auffällig viel und übertrieben, dabei überspielt er gern seine Feigheit. Sicherlich auch wie in diesem Moment. Skyla vermutet eher, dass ihre Dämonen auf das Wasser reagieren. Als sei dies eine ihrer größten Schwächen, etwas, das es herauszufinden lohnt. Für den Fall der Fälle, sollten sich ihre Schutzgeister gegen sie wenden. Im Boot macht es sich Skyla gemütlich und entdeckt sogar die Angelausrüstung. Ein Blick hinauf zeigt, dass Kai zögert.
„Also entweder bleibst du hier und wartest auf unsere Rückkehr oder du steigst jetzt ein", spricht sie ihren Schutzgeist erwartungsvoll an.
Ein wenig Auszeit von dem Bären kann Skyla nur gutheißen. Sonst hat sie diesen Ekel rund um die Uhr um sich. Sein Zögern ist ein gutes Zeichen. Und doch wird Skyla enttäuscht, als Kai sich überwindet und mit Anlauf in das Boot springt, um neben ihr Platz zu nehmen. Milan schnaubt. Seine Mundwinkel fallen hinab und er starrt in die Leere, als wurde gerade seine Hoffnung niedergetrampelt, dass der Ekel-Dämon zurückbleibt.
Bewegungen im See wecken Skylas Neugier. Für einen winzigen Moment glaubt das Medium, Augen unter der Oberfläche gesehen zu haben. Strahlend und voller Neugier. Die Versuchung ist groß, mit ihrer Hand durch das Wasser zu streichen.
„Du sagtest Fische beheimaten diesen See. Sonst noch irgendetwas?"
Der Geisterjäger steigt als Letzter in den Kahn und belächelt ihre Frage. „Macht dich dein Dämon nun irre? Es ist friedlich hier."
Mia hingegen runzelt die Stirn. „Wieso fragst du, Skyla?"
„Ich dachte..." Skyla fixiert die Stelle, die sie noch eben für verdächtig gehalten hat. „Ach nichts. Ich dachte nur, ich hätte etwas gesehen."
Neugier beugt sich Mia nach vorne und versucht, etwas auszumachen. „Kannst du es beschreiben?"
Doch Milan winkt ab und findet: „Genug davon. Wir haben diesen Ort gründlich untersucht und nichts Ungewöhnliches gefunden. Oder, Mia?"
Seine Fee antwortet mit einem unsicheren Nicken.
Der Geisterjäger schnappt sich das Ruder und bringt das Boot voran. Der Wind ist kühl, aber wohltuend. Die Sonne spendet genug Wärme. Das Klima ist mild. Skyla fühlt sich klein und unbedeutend in Anbetracht der Größe des Sees. Als Milan von seinen Wanderungen berichtet, wird sie hellhörig. Er ist bereits vielen Tieren begegnet, darunter auch Bären. Tiere, die nicht in Deutschland leben, sodass die Frage aufkommt, wo sie sich genau befinden. Die Antwort lautet im Nirgendwo von Kanada. Ein Ort, den die Menschen meiden aufgrund von seltsamen Begegnungen zum Paranormalen. Die Wälder sind alt und mächtig. Selbst tagsüber hatte Milan Beschatter im Wald. Harmlos laut ihn. Nicht ein Ruheloser hat versucht, Kontakt aufzunehmen. Aus sicherer Ferne hielten sich die Wesen versteckt. Dennoch verlässt er nie unvorbereitet den Schutzring um das Haus.
Trotz der beheimateten Gefahren bekommt Milan den Kopf unterwegs frei. Fern von Justin und allein mit seinen Gedanken kam es zu diesem Entschluss und dem ersehnten Treffen. Laut ihm erhoffen sich die beiden Geisterjäger, hier länger verweilen zu können, ohne sich zu fürchten, entdeckt zu werden. Nach stressigen Arbeitstagen finde sie hier Erholung.
Erholung – das verspricht bislang auch die Bootsfahrt. Bis ungefähr mittig des Sees starrt sie Milan ununterbrochen in die Augen. Dadurch vergisst er immer wieder, was er sagen will. Hinzu kommt die Röte in seinem Gesicht. Unter Milans Anweisungen befestigt Skyla den Köder und wirft die Angelrute los. Nun ist Geduld angesagt. Zuerst folgen klägliche Versuche, ein Gespräch zu eröffnen. Da ihre Augen ständig auf ihn ruhen, wird ihr Lover ganz nervös und wendet sogar den Blick ab. So handelt Skyla und kuschelt sich an seine Seite wie ein verschmustes Kätzchen. Damit gerät das Boot auffällig ins Schwanken und Milan bekommt Panik in den Augen. Sicherlich befürchtet er, dass sie jeden Moment schwimmen gehen. Sein Herz schlägt verdächtig schnell, als sie sich an ihm schmiegt. Die Beschwerden des Dämons und der Fee stoßen bei ihr auf taube Ohren. Anders als die Fahrgäste kichert sie vergnügt. Auch wenn der Kahn umgekippt wäre, hätte sie nichts gegen eine kleine Abkühlung. Selbst weit vom Festland erreicht das Orchester der Vögel ihre Ohren. Darunter bildet sich Skyla ein Gesang ein. Leise, aber entspannende Töne. Für einen Moment hält sie Mia für die Geräuschquelle, denn die Laute klingen weiblich. Noch denkt sich Skyla nichts dabei und konzentriert sich auf die schönen Dinge des Ausflugs.
Tatsächlich kehren sie nicht mit leeren Händen zurück. Eine Regenbogenforelle und zwei Hechte sind allein Milan zu verdanken. Das Boot befindet sich unterwegs zurück, als die Bewegungen im Wasser stärker werden und das Gesumme lauter. Selbst Milan stellt das Rudern ein und blickt sich misstrauisch um.
„Etwas Großes schwimmt unter uns", folgt Kais beunruhigende Neuigkeit.
„Definiere groß", fordert Milan ihn auf.
„Etwas größer als zwei Meter und ich höre vier Herzschläge."
Besorgt blickt Skyla über den Bootsrand und bekommt die dunklen Schatten unter ihnen zu Gesicht. Die Wellen bringen das Boot verdächtig zum Schwanken.
„Wir sollten schnell Land gewinnen", richtet sie ihre Worte an Milan, der daraufhin weiterrudert.
Damit schüttelt er ihre Verfolger jedoch nicht ab. Als wäre die Situation nicht ernst genug, verheddert sich das Paddel an irgendwelchen Wasserpflanzen.
Leise fluchend startet Milan den Versuch, das Misere zu lösen. Währenddessen taucht nahe Skyla ein zierliches Gesicht auf. Frei von Unreinheiten und Falten. Die Sonnenstrahlen bringen die gelbeingewachsenen Kristallsteine unter dem Auge und vom Ohr aufwärts zum Leuchten. Auf der Stirn formen diese ein Diadem. Die Steine verlaufen in geschwungenen Linien und erinnern an Blumenranken. Leuchtendgelbe Augen so hell wie die Sterne bei Nacht starren das Medium voller Interesse an. Ungewöhnlich groß und auffällig glänzend. In dem langen, schwarzen Haar sind Seerosen samt ihrer Rhizome im Haar eingeflochten. Dazu findet Skyla eine beachtliche Sammlung smaragdfarbender Fischschuppen und gelber Kristalle im Zopf. Entlang des Kinns macht Skyla sogar Kiemen aus, die ebenfalls mit den hübschen Edelsteinen geschmückt sind.
Das fremde Wesen wirkt freundlich und noch immer rätselt Skyla in ihren Gedanken, womit sie es zu tun haben. Die zierliche Gestalt öffnet den Mund und beginnt, zu singen. Es sind die lieblichen Klänge, die Skyla die ganze Zeit wahrgenommen hat. Töne, die sie verzaubern und die eine wollige Wärme in ihr hervorrufen. Die bleiche Frau schwimmt näher an sie heran und streckt den Arm nach ihr aus. Ihre Finger streichen über Skylas Wange und umfassen das Kinn. Damit gehört Skylas ungeteilte Aufmerksamkeit nur ihr. So versinkt das Medium in den Augen und bekommt die Welt um sie herum nicht mehr mit.
Der Schrecken sitzt aufgrund dessen tief, als Milan nach Skyla schnappt und sie fern von dem majestätischen Geschöpf zieht.
Der Geisterjäger bleckt die Zähne. „Scher dich weg! Du bekommst sie nicht!"
Die Fremde zieht eine beleidigte Schnute. Statt zu verschwinden, ergreift sie die Reling. Bereit, sich hochzuziehen, worauf Milan die Luft zischend ausstößt.
„Oh nein! Das lässt du schön bleiben!"
Mit einem amüsierten Ausdruck provoziert das Wesen ihn und zieht sich hoch, sodass Skyla ein smaragdfarbenes Schuppenkleid zu Gesicht bekommt. Es beginnt vom Busen und vermischt sich am Bauchnabel mit einem Sonnengelb. Und doch bleibt Milan gefasst und scheut den Kontakt zu der Seebewohnerin nicht. Er löst sie vom Boot und spricht auf sie ein. In diesem Moment legen sich von hinten zwei weitere Arme um Skyla. Sie spürt Atemzüge an ihrem Nacken und mit der Berührung saugt sich Wasser in ihre Kleidung. Dieses Mal ist es Kai, der zur Hilfe eilt und Skylas Entführerin mit Kampfgebrüll wegtritt. Kaum ist sie frei, dreht sich das Medium erschrocken um. Sie blickt auf die Wellen, wo die zweite Gestalt abgetaucht sein müsste.
„Sirenen!", schimpft der Dämonenbär.
„Sirenen?", wiederholt Skyla ihn leise.
„Ja! Seid vorsichtig, meine Schönheit. Sie wollen euch ins Wasser ziehen."
Das Boot wackelt, als eine der Sirene hineinspringt und es sich lässig an der Kühlbox gemütlich macht. Zuerst mustert sie mit ihren violetten Augen den Inhalt der Box, dann aber blickt sie hinüber zu Skyla. Ihre zierlichen Finger streichen über die fliederfarbenen und goldenen Schuppen. Das Medium kann kaum glauben, was sie da sieht. Tatsächlich findet sie statt Beine eine Schwanzflosse wieder–wie aus Märchen.
„Da bist du ja, kleine Sonne. Komm mit uns. Lass uns schwimmen gehen", spricht die Sirene mit den lila Kristallen zu ihr.
„Sonne?", wiederholt Skyla überrascht.
Es folgt ein Nicken und der Blick der Sirene ändert sich, als sie Kai anvisiert.
Mit Verachten betrachtet sie den Dämon, während eine Warnung folgt: „Vertraut dieser Kreatur nicht, kleine Sonne. Das Wesen ist so finster wie die dunkelste Nacht."
„Hey!" Milan erhebt sich und verzweifelt allmählich. „Würdest du bitte von dem Boot verschwinden!"
Es ist Mia, die sich in der Luft kugelt vor Lachen. Etwas, das Skyla Entwarnung gibt. Anscheinend gibt es keinen Grund, sich zu fürchten. Die Sirene lächelt frech und greift in die Kühlbox. Sie stibitzt einen Hecht, den sie sich ins Maul steckt und mit einem Sprung zurück ins Wasser verschwindet. Milan flucht laut über das Geschöpf und beschließt, schnell ans Land zu kehren. Er schnappt sich das Ruder und bringt brummig das Boot in Bewegung.
„Ich wusste doch, etwas stimmt nicht!", schimpft Kai.
„Ehrlich, in der ganzen Zeit, seit wir hier leben, ist uns nie eine Sirene begegnet! Ich war so oft fischen. Ich hätte sie doch bemerken müssen!", äußert sich Milan genervt dazu.
„Ne." Mia rollt mit den Augen. „Du hattest ja keinen Problemmagnet bei dir."
Er sieht sie fragend an. „Was?"
Milan folgt dem Blick der kleinen Fee, die Skyla kritisch betrachtet. Vielleicht sollte Skyla entrüstet wirken oder beleidigt, stattdessen winkt sie den beiden frech zu.
„Tja, was soll ich sagen? Ich bringe nur Ärger."
„Nein!", will Milan dies nicht wahrhaben.
Seine Partnerin hingegen antwortet zeitgleich mit einem „Ja!". Daraufhin sehen sich Fee und Geisterjäger in die Augen und es folgt ein Blickduell.
„Sie nannten mich kleine Sonne", unterbricht Skyla ihre Albernheiten.
„Wegen deiner Seele", ist sich Kai sicher, „denn die leuchtet."
Jeder andere würde sich geschmeichelt fühlen, aber Skyla hingegen wünscht sich etwas, das ihre Seele verdeckt oder was sie unsichtbar macht. Sie vermisst Agnar und macht sich kurz auf die Suche nach ihrem Spinnenfreund, bis Milan sie freundlich daran erinnert, dass er bei Justin verweilt. Ihre Verfolger halten sich versteckt im Wasser und doch huschen ihre Schatten immer wieder an ihnen vorbei. Bis die Sirenen gegen Ende völlig verschwunden sind – so wird es geglaubt.
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