Kapitel 4 - Teil 1
Die Haupthalle lässt sich mit einem geschäftigen Bahnhof vergleichen. In nur wenigen Minuten beginnt der Unterricht und die Schüler machen sich bereits auf den Weg zu ihren Klassenräumen. Die Schule glänzt mit einem sehr altmodischen Einrichtungsstil aus gepflegten Holzelementen. Eine edle Einrichtung, die mit wenigen technischen Schnick Schnack verschmilzt. Darunter die digitalen Stundenpläne und Informationstafeln. Die dunklen Displays liegen unauffällig in einem Holzrahmen an der Wand, als seien sie ein Gemälde. Das Berufskolleg zeigt ein hohes Engagement in Zukunftsprojekten der Stadt und hat viele bekannte Kooperationspartner, welche den Schülern Einblicke in themenbezogene Arbeitsgebiete ermöglichen. Milans Ziel ist der Westflügel. Dort, wo die Computerräume stecken. Skyla kauft ihm auch diese Information nicht ab. Sicherlich hat er keinerlei Ahnung über den Aufbau der Schule – weil er kein Schüler ist. Daran hält sie fest. Nicht, weil er zu alt ist, denn es gibt genügend Menschen in seinem Alter, die sich für eine Ausbildung entscheiden. Manche Azubis sind sogar älter als das junge Lehrkräfte vor Ort. Das ist nichts Ungewöhnliches. Aber es ist seine Art, die Skyla stört. Das Gesicht eines Lügners, der improvisiert. Hinzukommt, die Vermutung, dass Skylas Skepsis ihn nervös macht. Schon eine ganze Weile meidet er ihren Blick und fokussiert sich voll und ganz auf Emilie. Als wäre Skyla eine Krankheit bleibt er auf Abstand, was seine wilde Behauptung, er sei in sie verknallt, umso lachhafter macht.
Kaum verabschiedet sich Emilie von Skylas Verfolger, beginnt die Schwärmerei. Zu Skylas Leidwesen ist ihre Klassenkameradin hin und weg von der Begegnung. Milan punktet mit seinem Charme, seiner Coolness und dem guten Aussehen. Die Muskeln blieben Emilie ebenfalls nicht verborgen. Während Emilie regelmäßige Besuche bei den Fitnesscentern dahinter vermutet, schweben ihrer Freundin andere Dinge im Kopf. Noch ist viel Freiraum für Spekulationen. Zu wenig weiß Skyla über ihren Beschatter und alles, was seinen Mund verlässt, stinkt nach Lügen und Halbwahrheiten. Ob er für die Polizei arbeitet oder sonst wen – eines ist klar, dieser Mann ist gefährlich und sie sollte ihn besser nicht unterschätzen.
Es wird Zeit, den Spieß umzudrehen und Detektiv zu spielen. Er gibt sich als Schüler aus – schön! Dann sollte es ein Leichtes sein, seine Klasse und seine Lehrkraft auszumachen. Wenn er jedoch lügt, dann wird er entweder im Schulgebäude schnüffeln oder sich zurückziehen. Eine Verspätung ist Skyla bereit, in Kauf zu nehmen, um zu sehen, ob ein Fünkchen Wahrheit hinter seine Geschichte steckt. Der Plan geht nicht auf, denn kaum kehren die beiden Freundinnen Milan den Rücken, taucht dieser in der Menge unter. Obwohl Skyla sich nur wenige Sekunden von ihm abgewendet hat, ist ihr Verfolger wie vom Erdboden verschluckt. Die Situation ist einfach nur unheimlich. Obwohl er mit seinen Haaren auffallen sollte, kann sie ihn nicht ausmachen. Es fühlt sich an wie eine Begegnung mit einem Phantom.
Emilie schiebt dem Stress und der harten Branche das merkwürdige Verhalten ihrer Freundin in die Schuhe. Laut ihr bräuchte Skyla dringend eine Auszeit. All die vernichtenden Blicke werden von der schwarzhaarigen Schönheit gekonnt ignoriert oder sogar ausgeblendet – wer weiß das schon. All die Warnungen, das Thema Milan zu untergraben, prallen an einer Mauer ab, die Emilie die Sicht auf die bittere Realität nimmt.
Als ging in Skylas Kopf nicht genug vor sich, darf sie sich am frühen Morgen mit der Preiskalkulation auseinandersetzen. Der Schwierigkeitsgrad ist zwar nicht hoch und doch ist Konzentration gefordert. Damit kann sie nach all den Ereignissen und dem Schlafmangel nicht dienen. Der Körper rächt sich und droht ein Powernapping einzufordern. Ihr gesundheitlicher Zustand bleibt den Jungs nicht verborgen, sodass sie gemeinsam mit Emilie zwischendurch eingreifen und Skyla wachhalten. Mit Nebel im Kopf bewegt sie die Finger über dem Taschenrechner. Ungeachtet von der Möglichkeit, dass die Werte mit der Aufgabenstellung nicht übereinstimmen. Nur wenige Ziffern fehlen, bevor das kleine Werkzeug ihr ein Ergebnis liefert, als plötzlich die Hand ihrer Sitznachbarin Emilie auf dem Ellbogen fällt und Skyla aufschrecken lassen. Mit angehaltenem Atem beobachtet Skyla, wie das rechteckige Gehäuse aus ihrer Hand fliegt und einen meisterhaften Salto zurücklegt. Die Rechenhilfe landet auf irgendeinem Knopf, der all die mühselige Eingabe zunichtemacht, sodass Skyla nicht anders kann, als ihre Zähne zu blecken. Als sie den Kopf zu Emilie schwenkt, schlägt der Lockenkopf die Augen schuldbewusst nieder und zwingt sich zum Lächeln.
„Sorry."
Die Reue ist schwer zu überhören. Skyla ist zu müde, um sich erneut der Herausforderung zu stellen und lugt hinüber zu den Notizen ihrer Freundin. Die Enttäuschung ist groß, denn Emilie ist keine Musterschülerin, sondern mehr ein Rettungsschwimmer, die sich an Skylas Fleiß klammert und hofft, mit Biegen und Brechen die Schulzeit zu überstehen.
Nach einem tiefen Atemzug und einem vernichtenden Blick auf das Schulbuch vor ihr, ist Skyla bereit für einen weiteren Versuch. Doch Emilie kümmert sich nicht mehr um die Aufgaben, stattdessen weckt etwas vor dem Fenster ihre Aufmerksamkeit. Die schwarze Schönheit bewegt ihren Kopf in Richtung Fenster, also folgt Skyla widerwillig ihrem Blick und als sie Milan hinter der Glasfront entdeckt, springt die Schülerin schockiert auf. Jemand, der von jetzt auf gleich in der Menge spurlos untertauchen kann, stellt sich plötzlich unbeholfen bei seiner Tarnung an. Ungläubig starrt Skyla ihren Verfolger an, der zwischen den Büschen vor den Fenstern steckt und mit seiner auffälligen Haarfarbe wie eine Weihnachtskugel heraussticht. Wie ein Jäger fixiert er mit den Augen die Beute, was Skyla wachrüttelt. Die Unterhaltung mit ihm und der Übergang zur Schule ließen sie kurz vergessen, wie bedrohlich Milan vorher auf sie wirkte. Seine Verbissenheit verschlägt ihr die Sprache und ruft Panik in ihr hervor. Ihr Fluchtinstinkt ist geweckt und droht die Kontrolle zu übernehmen. Wäre da nicht Emilie, denn ihre Freundin spricht sie beunruhigt an. Der Klang ihrer Stimme ist sanft und schenkt Skyla ein Stückchen Sicherheit, sodass der Gedanke ans Weglaufen in die Ferne rückt.
All die Entschlossenheit weicht von Milan, als die Tatsache zu ihm durchsickert, dass er aufgeflogen ist. Unzählige Augenpaare starren ihn an und das Getuschel nimmt seinen Lauf. Die Lehrkraft Herr Den hebt vom Pult aus den Kopf und legt den Stift nieder. Noch vor wenigen Augenblicken hat er sich mit dem Klassenbuch auseinandergesetzt. Mit angehobener Augenbraue folgt er den Blicken seiner Schüler und erhebt sich schlecht gelaunt, als sein Blick auf Milan ruht. Nun lernt Skyla ein neues Gesicht von Milan kennen, denn der Fremde ist zu einer Salzsäure erstarrt und traut sich kaum zu atmen. Sicherlich verflucht er sein Dasein. Herr Den ist von großer Statur und bewegt sich mit einem strengen Ausdruck durch die Welt. Nur, wenn er von seiner Familie spricht, hellt sich seine Miene auf. Auch wenn seine Art einschüchternd wirkt, reichen wenige Gespräche, um zu zeigen, wie verständnisvoll und hilfsbereit er sein kann. Wie viele Schüler zuvor zollt Milan der Lehrkraft Respekt. Herr Dens Brille reflektiert das Licht und wirkt dadurch umso bedrohlicher. Sein Schatten erfasst Milan und droht ihn zu verschlingen, als er vor dem Fenster steht. Als der Fenstergriff umfasst wird, erkunden sich Milans Augen nach einer Fluchtroute. Skyla rechnet damit, dass ihr Verfolger die Beine in die Hände nimmt, aber zu ihrer Überraschung bewegt sich Milan kein Stück.
Kurz zucken die Mundwinkel, als sei sich Herr Den seiner Übermacht bewusst. Er richtet seine Brille, bevor er Milan anspricht.
„Kann ich Ihnen weiterhelfen?"
Eine simple Frage, die Milan aus der Fassung bringt. Skylas Verfolger blinzelt perplex.
„Bitte was?"
Kaum spricht er zu Ende, bricht das Gelächter aus. Herr Den atmet genervt aus und wiederholt sich ungeduldig: „Kann ich Ihnen weiterhelfen?"
Kurz tastet Milan sich ab und wählt offensichtlich die erstbeste Ausrede, die ihm einfällt. „Ich suche mein Handy. Ich glaube, ich habe es hier verloren."
Das Glück wendet sich gegen Milan, denn sein Mobilphone ertönt aus nächster Nähe. Skylas Stalker legt sich die Hände auf den Kopf und schaut, als verfluche er den Anrufer.
„In der Tasche", meldet sich Herr Den knochentrocken zu Wort.
„Was?"
„Ihr Handy. Ich glaube, es ist in der Tasche."
Milan sieht an sich hinab und öffnet seine schwarze Tasche nur einen Schlitz, bevor er seufzend den Blick davon abwendet. Er fährt sich kurz mit den Fingern durch die Haare und legt seine Hände auf die Stelle seines Herzens. Schließlich beginnt sein Schauspiel erneut.
„Hören Sie, das tut mir schrecklich leid. Sie halten es sicherlich für einen dummen Scherz. Aber ich habe wirklich geglaubt, mein Handy hier vergessen zu haben."
„Hier im Busch?"
Herr Den klingt, als glaube er ihm kein Wort. Aber Milan tut so, als meine er es verdammt ernst.
„Hier im Busch, Sir."
„Wann glauben Sie, haben Sie es denn verloren?"
Milan legt nachdenklich den Kopf schief. „Ähm...heute Morgen."
„Heute Morgen", wiederholt die Lehrkraft für das Fach Rechnungswesen mit einem freundlichen Lächeln. „Dann erklären Sie mir doch bitte, was Sie heute Morgen in den Büschen gesucht haben."
„Naja." Milan lächelt verlegen. „Ich bin jung und auf der Suche nach Abenteuern..."
Herr Den hebt mahnend den Finger und unterbricht das dumme Gerede. „Ich glaube Ihnen kein einziges Wort."
„Das müssen Sie auch nicht."
Damit legt er es drauf an, denn nun wird Verdacht geschöpft.
„Sind Sie ein Schüler von dieser Schule?"
Milan nickt zögerlich, womit sich sein Gegenüber nicht zufriedengibt.
„Dann mal raus mit der Sprache! Ich hätte gerne Ihren Namen und die Klasse, die Sie zurzeit besuchen, damit ich mich bei ihrem Klassenlehrer beschweren kann."
Das Lachen, das folgt, ist künstlich und völlig verzweifelt.
„Ich habe diesen Spinner hier noch nie gesehen, Herr Den!", tönt es von der einen Seite.
Damit beginnt eine laute Diskussion in der Klasse und es folgen wilde Spekulationen. Erschöpft nimmt Skyla Platz und schnappt sich Emilies Federmäppchen. Ihre Freundin hortet in jeder Ecke ihrer Tasche Süßigkeiten und bei ihrem Stoffwechsel bleibt kein Gramm an ihr hängen. Schnell ist ein Schokoriegel gefunden.
„Hey!", meldet sich der Lockenkopf erschrocken.
Doch der erste Bissen ist getätigt und so erlaubt es sich Skyla, keck zu grinsen. „Schuldig. Nur etwas Nervennahrung, Emilie."
„Es sei dir verziehen."
Ihre Freundin ist nicht gut darin, eingeschnappt zu spielen und prustet kurz darauf los. Sie steckt Skyla mit ihren Sonnenschein an. Ein Lichtstrahl aus ihrer heilen Welt vertreibt all die düsteren Gedanken, die Skyla bislang plagten. Nach so vielen Stunden Angst und Schrecken kann Skyla aufatmen und den Moment genießen, denn zur Abwechslung blamiert sich mal ein anderer.
„Ruhe! Es herrscht immer noch Unterricht und hier wird auch nicht gegessen! Dafür habt ihr eure Pausen!"
Herr Dens strenger Blick ruht auf Skyla, die den angebissenen Schokoriegel ganz langsam in Emilies Tasche schiebt. Etwas, das ihre Freundin angeekelt verfolgt.
„Wirklich?", spricht sie Skyla an, „das ist widerlich. Behalte ihn, ich habe genug für uns beide dabei."
Ohne auf Skylas Antwort zu warten, holt sie die klebrige Bedrohung aus ihrer Tasche und platziert diese so auf dem Tisch, dass Skyla mit der Versuchung kämpft, einen weiteren Bissen zu naschen.
„Zurück zu Ihnen", hört sie Herr Den sagen, „hey! Wo wollen Sie hin?"
Skyla blickt überrascht auf, denn Milan ist gerade dabei, zu verduften und doch hält er kurz an.
„Ich gehe dann mal besser. Denn ich sehe, Sie sind beschäftigt."
„Laufen Sie ihm nach, Herr Den!", fordern die Jungs und feuern ihren Lehrer freudig an.
Ein mahnender Blick reicht aus, um die Meute in den Griff zu bekommen, bevor er sich an Milan wendet.
„Besser Sie verschwinden!"
Das lässt sich Milan nicht zweimal sagen. Während er sich von dem Klassenzimmer entfernt, nimmt er sein Handy aus der Hand. Vielleicht ist Herr Den die Lösung für ihre Probleme. Er ist misstrauisch und hat dem Schauspiel keine Chance gegeben. Anders als Emilie es tat. Aber kann sie offen und ehrlich sein? Herr Den ist klug und Skyla fürchtet sich vor Fragen, die sie ihm nicht beantworten kann. Ein Grund, um die Idee aufzugeben und zu hoffen, dass sie diesen Kerl nie wieder sieht.
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