In freiem Fall
Still und von einem merkwürdigem Licht umgeben stand die Leier in der Mitte des Camps. Clarisse LaRue und Malcolm Pace aus der Athenehütte bewachten sie mit gezückten Waffen, während sie sich leise über mögliche Abwehrmethoden stritten. Beide sahen völlig erschöpft aus, was kein Wunder war, da sie seit Stunden andere Halbgötter und Halbgöttinnen davon abhielten, wie Wahnsinnige ins Feuer zu laufen, wie es Will passiert war. Die meisten dieser Halbgötter und Halbgöttinnen waren Kinder des Apollo.
Auch Natalie hatte versucht, sich einzubringen, doch nachdem sie das Wasser herbeigerufen hatte, waren alle Kräfte von ihr gewichen und so saß sie jetzt mit Nico am Steg.
Nico zitterte am ganzen Leib. Seit Will in den Flammen verschwunden war, hatte er kein Wort mehr gesagt. Noch immer waren seine Augen feucht, doch er gab sich alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.
Natalie hätte gerne einen Arm um ihn gelegt oder wenigstens eine Hand auf seine Schulter, aber sie wusste, dass er Körperkontakt hasste, wenigstens von Leuten, die nicht Will Solace hießen.
Doch sie konnte ihn nicht weiter so sehen. Also streckte sie die Hand aus und legte sie auf Nicos Schulter. Er zuckte zusammen, als hätte er vergessen, dass sie noch da war.
Zitternd holte er Luft. "Tut mir leid", brachte er heraus. "Es ist nur so... Er wäre nicht der Erste in meinem Leben, der gestorben ist..."
"Jetzt hör aber auf", unterbrach Natalie ihn. "Du weißt, dass er nicht tot ist. Das würdest du spüren."
Nico schüttelte den Kopf. "Ich spüre nichts. Gar nichts. Ich habe keine Ahnung, ob er noch lebt. Es ist noch schlimmer als bei Leo. Ich habe gespürt, dass er tot ist, aber es war irgendwie, ich weiß auch nicht... anders. Aber jetzt spüre ich gar nichts. Er könnte genauso gut..." Er beendete den Satz nicht. Sein Ende hing in der Luft und erfüllte Nico mit ganz offensichtlicher Verzweiflung.
Natalie hatte zwar keine Ahnung, wer Leo war, aber er war anscheinend ein Freund gewesen, der auf eine Art und Weise gestorben war, die über die logischen Systeme des Todes hinaus ging.
Plötzlich nahm sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr.
Ein Junge kam aus der Demeterhütte gestolpert- Jack, der mit Natalie im Team Eroberung der Flagge gespielt hatte. Seine Augen waren geschlossen, die Arme nach vorne ausgestreckt.
Natalie sprang auf. Jack schlitterte über das feuchte Gras auf die Leier zu. Diese wickelte lautlos eine Saite von einem ihrer Haken und schlang sich um ihn.
"Clarisse!", brüllte Natalie.
Clarisse und Malcolm wirbelten herum und stürzten los, doch es war bereits zu spät: Jack verschwand im Feuer, ein leeres Lächeln auf dem Gesicht.
Clarisse fluchte. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt und sie und Malcolm hatten beide zahlreiche Brandblasen an den Händen.
Chiron kam aus der Krankenstube. Er ging zu Clarisse und Malcolm und sprach leise mit ihnen. Clarisse schüttelte energisch den Kopf, doch Malcolm nickte und lehnte sich erschöpft gegen seine Helferin, die ihn von sich stieß.
Schließlich verschwanden beide in der Krankenstube und Chiron lenkte seine Schritte in Richtung Athenehütte.
Natalie fand es fürchterlich, nichts zu tun. Ihre Beine kribbelten. Sie sah kurz Nico an, der sich abgewandt hatte, die Augen feucht und mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck.
"Ich bin gleich wieder da", sagte Natalie. "Ich will nur kurz was gucken."
Er nickte stumm. Besorgt lief Natalie los, doch ihr war ein Gedanke gekommen, den sie schon seit einigen Stunden gehabt hatte.
Die Leier war wieder ruhig, als ob sie nicht schon vier Halbgötter und Halbgöttinnen verschlungen hätte.
Vorsichtig trat Natalie näher, bis sie genau vor dem Feuerring stand, der die Leier wie einen Rettungsreifen umgab. Chiron bemerkte sie nicht, er sprach mit einem Mädchen aus der Athenehütte.
Langsam streckte Natalie die Hand aus und hielt sie in das Feuer.
Ihre Hand wurde von kleinen Flammen umspielt, die sie aber nicht verbrannten, sondern nur umtanzten, als ob sie gegen das Feuer immun wäre.
Sie drehte sich um. Niemand beachtete sie. Also holte sie tief Luft und trat ins Feuer.
Sofort war ihr heiß. So unerträglich heiß wie in einem überfüllten Bus im Hochsommer ohne Klimaanlage (und mit Maske xD), nur tausend mal schlimmer.
Sie stand auf einem Vorsprung aus purem Feuer, der sich in einem Kreis um ein großes Loch in der Mitte wand. Das Feuer war seltsam fest, als ob es gefroren wäre, nur war es eben nicht kalt, sondern heiß.
Das Loch hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern und war so tief, dass man den Boden nicht sehen konnte, es war mit gleißendem Licht gefüllt. Hinter ihr war eine Wand aus winzigen, tosenden Flammen, die, wenn man genauer hinsah, kleine Rillen bildete, die die Saiten der Leier waren. Man konnte nicht durch sie hindurch sehen.
Am schlimmsten war die Musik. Die schauderhafte Melodie lebte in diesem Raum, so schien es. Sie hallte in jeder einzelnen Zelle aus Natalies Körper wider.
Und doch fühlte sich Natalie wie hinter einer Schutzmauer von den Eindrücken der Leier getrennt. Durch Blut sie ist gewappnet gegen den Schrei der Sonne...
Natalie drehte sich abrupt um und stolperte aus der Leier auf den Rasen.
"Natalie!" Nico und Chiron standen vor ihr, beide gleichermaßen entsetzt. "Was zum Tatarus sollte das denn?"
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"Du glaubst also, dass das dein Einsatz ist?" Chiron fuhr sich durch die Haare. Er, Rachel, Nico und Natalie hatten sich im Raum mit dem Leopardenkopf versammelt.
Nico saß wie versteinert auf einem der Sofas, sein Gesicht so weiß wie ein Bettlaken. Neben ihm saß Rachel, die Beine zum Schneidersitz gekreuzt und mit ihren zerzausten Haaren herumspielend.
"Ich war in diesem Feuer", sagte Natalie, die nicht stillsitzen konnte und im Raum auf und ab ging. "In der Mitte von diesem Feuerring war ein Loch. Durch die Flammen geht die Tochter des Meeres in freiem Fall... Das ist der Eingang zu den Sachen danach, der Schlangenkammer und so weiter. Und diese Musik hat mir nichts anhaben können, als ich dort drin war. Durch ihr Blut sie ist gewappnet gegen den Schrei der Sonne... Um zu finden sie, die der Versuchung nicht widerstehen konnten... Ich versuche die Leute zu finden, die von der Leier angezogen wurden."
Chiron nickte langsam. "Ja. Ja, du hast Recht. Am besten, du-"
Die Tür wurde aufgerissen und ein großes Mädchen trat ein. Es hatte eine Dreadlockfrisur gehabt, die sich aber aufgelöst hatte, sodass ihm die versengten schwarzen Haare auf die Brust fielen. "Die Leier", keuchte das Mädchen. "Sie hat wieder mit der Musik angefangen. Sherman und Kayla sind beide im Feuer...Wir wollten die Saiten durchtrennen, aber Connor hat sich dabei den ganzen Arm verbrannt."
Chiron erhob sich. Er sah von Natalie zum Mädchen und wieder zurück. "Natalie", sagte er. "Am besten, du brichst sofort auf. Hol deine Tasche."
Fünf Minuten später standen Natalie, Nico, Rachel und Chiron vor der Leier. In Natalies Tasche befanden sich neben Nektar und Ambrosia auch noch zwei Flaschen Wasser, saubere Klamotten, ein magischer Teller aus der Campküche und die Schachtel, die Poseidon ihr gegeben hatte. Wills Köcher und Bogen hatte sie sich über den Rücken geschnallt, den Dolch hatte sie an ihren Gürtel gesteckt.
Chiron legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Viel Glück, Natalie!", sagte er.
Rachel umarmte sie. "Du schaffst das", flüsterte sie. "Du bist stark."
Natalie versuchte ein Lächeln, das sich fürchterlich verkrampft anfühlte.
Nico starrte in die Flammen und sah sie dann an. "Wenn er nicht wiederkommt...", sagte er und seine Stimme versagte. Natalie hielt das für einen sehr unmotivierenden Satz, doch sie sagte: "Er wird zurückkommen. Mit wem sprichst du denn?" Nico verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
Natalie drehte sich um und trat durch den Feuerring. Unter ihr tosten die Flammen im Loch, als sie sich darüber beugte und die Hitze ihr im Gesicht wehtat.
Sie hatte Angst. Mehr, als sie sich in ihrem Zimmer in der Schlacht versteckt hatte, nachdem ihre Mutter gefallen war, gehabt hatte. Doch sie musste das hier machen. Sie wusste nicht, warum die Leier aufgetaucht war, wieso Apollo wollte, dass sie sich rächte und auch nicht, wie sie es schaffen sollte, Will, Sherman, Jack, Kayla und die anderen aus dem zu befreien, was auch immer sich dort unten befand. Aber sie war die Einzige, die es konnte.
Die Tasche an ihre Brust gepresst holte Natalie tief Luft und sprang.
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