Frösche stinken (nicht)
Die Leiche lag gleich neben der Eingangstür. Aus ihrer Brust ragte ein hellbrauner Pfeil, ihre Rüstung hatte an dem Punkt, wo der Pfeil das Fleisch durchbohrt hatte, einen dunklen Fleck. Josephine Brights Gesicht war aschgrau und von Kratzern und Schnitten übersäht. Ihren Kampfhelm hatte sie verloren, die dunkelblonden Locken waren zerzaust.
Natalie starrte in das Gesicht ihrer toten Mutter. Es war zu schrecklich, um es in Worte zu fassen. Ihre Mutter hatte ihr versprochen, wiederzukommen. Sie hatte gesagt, Kronos würde siegen. Doch in dem Moment, da Natalie die geschlossenen Augen ihrer Mutter sah, wusste sie, dass Kronos nicht gesiegt hatte.
Nur mühsam konnte sie den Blick heben und sich umsehen. Auf die ganze Straße verteilt liefen Menschen auf und ab. In der Nähe von Natalie standen zwei Mädchen und ein Junge. Das größere der beiden Mädchen wandte den Kopf und erblickte Natalie. Sein Blick huschte zwischen ihr und der Leiche am Boden hin und her. "Nicht im Ernst!", sagte das Mädchen und zog ihr Schwert.
"Clarisse-", setzte das andere Mädchen an.
"Lass mich, Chase! Du hast keine Ahnung, was diese Frau alles gemacht hat." Clarisse deutete mit einem Kopfnicken zu der Leiche am Boden. "Sie hat Lara, Jordan und Louis erschossen und mitgeholfen, den Drakon freizulassen, der Silena getötet hat." Clarisse' Stimme wackelte ein wenig. "Ich wusste nicht, dass sie ein Kind hat. Aber offensichtlich-"
"Clarisse, lass sie." Der Junge packte Clarisse' Arm. "Es ist doch nicht ihre-"
"Sie hat sich versteckt und ihre Mutter nicht aufgehalten. Wenn sie etwas getan hätte-"
"Clarisse, siehst du nicht, wie klein sie ist?", rief das andere Mädchen und hielt den anderen Arm von Clarisse fest.
"Wenn ihre Mutter für Kronos gearbeitet hat, dann wurde sie ganz sicher von ihm beschützt. Stimmt das?", blaffte Clarisse Natalie an, die verängstigt nickte.
"Siehst du", triumphierte Clarisse. "Sie hat den Schutz von Kronos genossen. Und hast du nicht gesehen, was da hängt?"
Clarisse deutete auf den ersten Stock des Hauses, aus dem Natalie gerade herausgekommen war. Ein kleines Blasrohr lugte aus dem Fenster hervor. "Wen hast du damit erschossen, Missgeburt?"
"Niemanden", flüsterte Natalie. "Ich habe nur einmal einen Pfeil abgeschossen, weil sie es mir gesagt hat und er hat einen Satyrn am Bein getroffen, aber-"
"Grover", sagte der Junge und sah mit einem Mal wütend aus. "Das warst du?"
"Percy, lass es", sagte das Mädchen entschieden. "Sie ist-"
Doch weiter kam es nicht, denn Clarisse hob ihr Schwert. "Geh lieber, bevor es zu spät ist, Missgeburt", sagte sie und ihre Stimme klang bedrohlich. "Und pass darauf auf, mich nicht wiederzutreffen, denn das wird ein böses Ende haben." Sie ließ das Schwert nach unten schnellen und traf Natalie dabei am Schienbein. Natalie stolperte, trat auf die Hand ihrer Mutter und rutschte aus. Tränen pochten in ihren Augen und liefen ihr das Gesicht hinab.
"Geh", sagte Clarisse mit hasserfüllter Stimme. Das Wort hallte nach und wurde immer lauter. Der Klang ließ Natalies Ohren klinglen. Etwas explodierte und tauchte die Straße in ein blaues Licht.
Die Welt drehte sich und Natalie kippte zur Seite. Mit pochendem Kopf kam Natalie zu sich. Ihr war schrecklich übel. Sie presste sich die Hände an den Kopf und stand schwankend auf. Der Ball in der Kugel hüpfte auf und ab, als ob es ihm Spaß machen würde, dass Natalie so einfach zu bewältigen war. Langsam machte Natalie noch einen Schritt nach vorne.
Uiiiiiiiii! Der Ball drehte sich rasend schnell um sich selbst und zwang Natalie auf die Knie. Vor ihren Augen verschwomm alles und die Kulisse wechselte zwischen einer verlassenen Straße Harlem, New York, in der sie mit neun Jahren überfallen worden war, und der Lichtung im Wald.
Ein großer Junge zog ein Messer aus seiner Tasche...
Der Ball wirbelte und hüpfte in der Kugel herum...
Er hielt ihr das Messer an die Kehle...
Sie keuchte und würgte und die Lichtung tauchte vor ihren Augen wieder auf. Ihr war, als ob ihr jemand ins Ohr schrie. "Denk an etwas Gutes", hatte ihre Mutter in ihrem Traum gesagt. Aber was war gut? Sie hatte in ihrem Leben nichts Gutes erlebt, so kam es ihr jetzt jedenfalls vor. Ihre Mutter hatte sie im Stich gelassen. Für ihre Großmutter war sie eine Lästigkeit gewesen. Poseidon zog ihren Bruder vor und sie selbst hatte keine richtigen Freunde.
Und gerade, als sie wieder in ihre Erinnerung abzurutschen drohte, machte es klick. Sie, Natalie, erlebte vielleicht nicht die Liebe, die sie sich wünschte, aber die Liebe war um sie herum, sie war so stark, dass sie unglaubliche Dinge passieren lassen konnte.
Natalie zwang sich, aufzustehen, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und schloss die Augen.
Sie dachte an Percy und Annabeth, die so unzertrennlich waren, an Piper McLeans glückliches Gesicht, als sie ihnen mitteilte, dass sie mit ihrem Freund Jason Grace das Camp verlassen wollte. Sie dachte an Nicos Gesicht, als Will ihn auf die Wange geküsst hatte und Sally Jacksons funkelnde Augen, wenn sie von ihrem Sohn sprach. Und sie dachte an sich selbst, dass sie hier war und die anderen Halbgötter und Halbgöttinnen aus den Fängen von was auch immer befreien wollte.
Sie konzentrierte sich mit aller Macht auf das, was diese Menschen alle miteinander verband.
Die Musik wurde leiser, langsamer und Natalie öffnete ihre Augen. Der Ball rotierte ebenfalls langsamer und die Kugel löste sich zu fließendem Wasser auf.
Bald war nur noch der Ball übrig, der unschuldig funkelte. Doch Natalie sprang geistesgegenwärtig nach vorne, gerade noch rechtzeitig.
Der Ball gab ein lautes Geräusch von sich- einen Schrei, wie den der Schlangen. Natalie bohrte ihren Dolch in den Ball. Dieser explodierte und sie wurde nach hinten geschleudert.
Für einen Augenblick wirbelte Licht um sie herum und sie konnte nichts sehen. Dann legte sich alles und Natalie öffnete die Augen.
Es regnete. Die Hitze hatte sich in einen erfrischenden Sommerregen verwandelt, der den Menschen eine große Erleichterung bietet, wenn der Sommer zu heiß gewesen war. Der Himmel hatte ein schönes grau-blau angenommen, die Erde duftete nach frischen Blumen, die in Sekundenschnelle aus dem Boden sprossen. In der Nähe floss ein kleines Bächlein, das vorher ausgetrocknet gewesen war. Das Plätschern des Wassers verursachte eine leichte Melodie, die so ruhig dahinfloss wie der Bach. Morning Mood, von Edvard Gynt. (unten ist der YouTube-Link)
Ach, Bright, wie dumm kann man sein? Natalie schlug sich auf den Kopf. Das Reich dessen, der sich die Sonne nennt... Musik! Wieso war sie darauf nicht gekommen? Wieso waren Chiron und Rachel nicht darauf gekommen?
Apollo besaß ungefärh hundert ihm zugeteilter Bereiche, aber Musik, das konnte man doch nicht einfach vergessen. Auch wenn die Schlangen ein Indiz für die Schlangenkammer gewesen waren, so blind hätte sie doch nicht sein müssen.
Ein wenig frustriert ging Natalie zum Bach. Sie hielt ihre Hand ins Wasser. Sofort wurde sie überströmt mit Informationen. Der Bach hatte eine Temperatur von 20 Grad, war 47 Zentimeter tief und floss in Richtung Osten. In diesem Bach wohnten keine Fische, nur Frösche, was ziemlich ungewöhnlich war.
Instinktiv tauchte Natalie ihren Kopf ins Wasser. Das Atmen war leicht, doch ihr Biss an der Wange protestierte hefitg. Sie zog den Kopf wieder heraus und betastete die Wunde vorsichtig. Sie dampfte ein wenig und die Schmerzen waren für einen kurzen Moment abgemildert, doch nach etwa einer halben Minute verschwand die Wirkung.
Ein Frosch sprang aus dem Wasser und setzte sich auf einen Stein neben dem Bach. Er glotzte Natalie an und in ihrem Kopf führten die beiden ein kleines Gespräch:
Frosch: He, du stinkst nach Schweiß!
Natalie: Aha, danke.
Frosch: Zieh dich um, Kindchen, du musst weiter.
Natalie: Ist mir klar, Kumpel. Und nenn mich nicht Kindchen.
Frosch: Du musst hier durch den Bach schwimmen, um zu den Dudes auf der anderen Seite zu kommen. Kannst du schwimmen?
Natalie: Nee, weißt du? Welche Dudes?
Frosch: Reg dich ab, Kindchen. Nicht alle können schwimmen. Schon gar nicht die Menschen. Zappeln immer mit ihren Armen, als ob sie Zeus spielen würde.
Der Frosch kicherte prustend und Natalie wartete, bis er sich beruhigt hatte.
Frosch: Die Dudes auf der anderen Seite sind ziemlich widerlich. Riechen schlimmer als du.
Natalie: Danke.
Frosch: Immer gern, Kleine. Pass auf, dass du nicht stirbst. Und jetzt zieh dich endlich um.
Natalie wühlte in ihrer Tasche nach ihren Ersatzklamotten. Sie bestanden aus einer weiten Jeans aus der Aphroditehütte und einem türkisen T-Shirt von Percy. Sie musste es in ihre Hose stopfen, damit es nicht raushing. Den Dolch steckte sie in seine Scheide und überprüfte den Köcher auf die Pfeile. Dann füllte sie ihre Wasserflaschen auf und stieg in den Bach.
Das Wasser tanzte um sie herum und sie ließ sich treiben. Bald wurde sie von dem wenigen Wasser wie auf einem Boot durch den Wald getragen. Der Frosch hüpfte neben ihr her. "Mach die Augen zu, Kindchen", sagte er zum Abschied. "Das schlimmste kommt nie zum Schluss!"
Falls ihr Morning Mood nicht kennt:
https://youtu.be/-rh8gMvzPw0
Die Rechte für das Lied und die Lieder, die ich in den weiteren Kapiteln verlinken werde, gehören selbstverständlich nicht mir, sondern den jeweiligen Musiker*innen.
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