Ein Haufen Pfeile
Will, Sherman, Jack und die drei anderen Halbgöttinnen, die Natalie nicht kannte, waren mit goldenen Handschellen an die Käfigwand gekettet. Die Handgelenke von einem der Mädchen bluteten stark, als ob sie versucht hatte, sich loszureißen. Sie, Will und ein anderes, stämmiges Mädchen waren die einzigen der sechs, die aufrecht saßen, die anderen drei lehnten schlaff an den harten Gitterstäben. Sie alle waren überl zugerichtet: Das Bein von Jack war seltsam abgespreitzt und angeschwollen. Will hatte eine lila-blaue Schramme an der Stirn, genauso wie zwei der Mädchen. Sherman sah am übelsten aus: Er hatte unzählige Kratzer an Hals und Gesicht und an der Innenfläche beider Hände klafften tiefe offene Wunden, aus denen ein Rinnsal Blut floß. Sein Kopf lag auf der Schulter des Mädchens mit den blutenden Handgelenken, seine Augen waren halb geschlossen.
"JA, ERBÄRMLICH, NICHT WAHR?", dröhnte Fake-Apollo, nun wieder mit seiner Machostimme. "LANGE MACHEN SIE ES NICHT MEHR. TU IHNEN DEN GEFALLEN, NATALIE, UND ERLEDIGE SIE SCHNELL."
Natalies Gehirn wirbelte wahnsinnig schnell Gedanken durch die Bahnen. Sie fand keine Auswegmöglichkeiten für die sechs im Käfig. Fake-Apollo war zu schnell, als dass sie den Käfig überhaupt erst erreichen konnte. Die einzigen Möglichkeiten, die ihr blieben, waren die, die Fake-Apollo selbst vorgeschlagen hatte.
Und dann kam ihr eine Idee. Sie war ein Geistesblitz und sofort begann ihr Gehirn auf Hochtouren den Plan auszuarbeiten. Ihr Kopf pochte und sie fühlte sich, als ob sie gleich vorüber kippen würde, doch sie drückte den Rücken durch und machte sich an die Umsetzung des Plans.
"Wie funktioniert das eigentlich, das mit der bösen Hälfte eines Gottes?", fragte Natalie und begann, in ihrem Köcher die Pfeile zu ordnen, als bereitete sie sich für den Angriff auf den Käfig vor.
Fake-Apollo stutzte. "DU VERARSCHST MICH, ODER?", fragte er, doch zum ersten Mal klang er ein wenig unsicher.
"Ich doch nicht", erwiderte Natalie, während sie die Bogensehne überprüfte. Es musste alles perfekt vorbereitet sein. Sie wollte kein Risiko eingehen. "Bevor ich meine Freunde umbringe, musst du mir erklären, wie du eigentlich funktionierst. Ich finde dich hochinteressant, weißt du?"
Sichtlich verwirrt kratzte Fake-Apollo sich am Hinterkopf. Am liebsten hätte Natalie laut aufgelacht. Wie dumm konnte man eigentlich sein?
"Na ja...", sagte Fake-Apollo und vergaß dabei glatt, zu brüllen. "Götter kriegen oft, nicht immer, aber oft, Eigenschaften ihrer Eltern zugeteilt, wenn sie auf die Welt kommen. (Ich hab mir das ausgedacht, das Thema wird in HdO nur angestoßen.) Sie entwickeln natürlich eigene Eigenschaften und Fähigkeiten, aber einige werden weitergegeben. Und bei Apollo hat eben eine gute und eine schlechte Hälfte abgekommen."
"Heißt das, Apollo hat die gute Seite von seiner Mom Leto und die schlechte von Zeus?", fragte Natalie unschuldig. Der Bogen war perfekt gespannt, so, wie ihre Mutter es ihr früher gezeigt hatte. Diese stand ruhig da und beobachtete stumm, wie Natalie sieben Pfeilspitzen schärfte, indem sie sie aneinander rieb (kp, ob das wirklich funktioniert. Wahrscheinlich nicht).
Fake-Apollo atmete zischend ein. "Natürlich nicht", sagte er und klang beunruhigt. "Zeus wird das gar nicht gefallen, Süße. Das ist eine Beleidigung seiner hohen Königlichkeit oder so ähnlich."
Schulterzuckend klemmte Natalie sich sechs Pfeile zwischen die Finger. "Damit kann ich leben."
"Na gut", fuhr Fake-Apollo fort. "Ich meinte eigentlich, dass Apollo die Spaltung zwischen gut und böse von Zeus geerbt hat, viele andere Götter besitzen sie ebenfalls. Es gibt Ausnahmen. Aber Apollo ist das nicht." Fake-Apollo grinste und der Raum bebte vor der Hitzewelle, die von dem Semi-Gott ausging.
"SO, SÜßE", dröhnte er und drehte sich schwungvoll auf dem Geländer. "BIST DU JETZT SO WEIT? DEINE MOM IST SCHON GANZ HEIß AUF IHREN TOD UND DIE HALBGÖTTER SICHER AUCH. NOCHMAL DIE MÖGLICHKEITEN, BEVOR DU DICH ENTSCHEIDEST, JA?" Ganz offensichtlich wollte er die wunderbaren Mordanspielungen noch einmal aussprechen. "ALSO. ERSTENS: DU TÖTEST DU HALBGÖTTER. DANN KOMMT APOLLO ALS GOTT ZURÜCK AUF DEN OLYMP, ABER APOLLO WIRD NEUTRAL SEIN, WEDER GUT NOCH BÖSE, DENN ICH, DIE BÖSE SEITE VON APOLLO KANN NUR TRIUMPHIEREN, WENN MEIN EIGENER GUTER TEIL STIRBT: DEINE MUTTER."
"Heißt das, Apollo als Gott ist böse und als Sterblicher ist er gut?", unterbrach Natalie ihn.
Fake-Apollo kratzte sich abermals am Kopf, es war anscheinend so eine Art Tic. "KEINE AHNUNG", gab er zu. "ABER KANN SEIN. JEDENFALLS. WENN DU NUR DIE HALBGÖTTER TÖTEST, UND NICHT DEINE MOM, DANN WERDE ICH MICH MIT DER GUTEN SEITE VEREINEN MÜSSEN UND DAS GEHT AUF KEINEN FALL. WAS HEIßT, DASS ICH DICH DANN UMBRINGE." Er strahlte sie an. "WÄRE AUCH NICHT ÜBEL, ALS NOTLÖSUNG. ABER MAN MUSS ES NICHT SO KOMPLIZIERT MACHEN. DIE WEITERE MÖGLICHKEIT: DU TÖTEST NUR DEINE MUTTER UND ICH BLEIBE HIER. APOLLO BLEIBT, WO ER IST, DENN WEDER SEINE STERBLICHE NOCH SEINE GÖTTLICHE SEITE IST DANN TOT. WENN DU DAS MACHST, TÖTE ICH DICH UND PROBIERE FOLTERMETHODEN AN DEN HABLGÖTTERN AUS. AUCH NICHT SCHLECHT."
Natalie kaufte ihm das nicht ganz ab, denn dieser Plan hatte so viele Lücken, dass er ihn nicht ganz durchdacht haben konnte.
"UND DIE DRITTE MÖGLICHKEIT LIEGT AUF DER HAND: DU BRINGST SOWOHL DEINE MOM ALS AUCH DEINE FREUNDE UM. DAS IST AM PRAKTISCHSTEN FÜR DICH UND FÜR MICH. APOLLO KEHRT AUF DEN OLYMP ZURÜCK UND ICH, SEINE BÖSE HÄLFTE, TRIUMPHIERE ÜBER SEINE GUTE. DU KOMMST UNGESCHÄDIGT NACH HAUSE INS CAMP HALF-BLOOD."
Natalie wandte ihren Kopf und sah ihre Mutter an. Die nickte.
"Im Tod konnte ich nicht ruhen, Natalie", sagte sie leise, sodass Fake-Apollo sie nicht hören konnte, und beantwortete unaufgefordert mehre Fragen, die für Natalie noch offen waren. "Ich wusste, was ich getan hatte und was die Götter und Göttinnen für Wesen sind. Dass sie anders sind, als ich gedacht hatte. Nicht so, wie ich sie gerne hätte, aber besser, als das, was ich von ihnen hielt. In Asphodel wurde ich beinahe verrückt. Hades gab mir einen Wink und schickte mich hierher, damit ich noch eine Chance bekommen konnte. Er wusste, dass du die Halbgöttin bist, die dazu bestimmt ist, Apollo zu retten. Wenn du das hier zu Ende bringst- und zwar auf die richtige Weise- dann habe ich eine Chance aufs Elysium." Sie lächelte und Stolz lag in dem Lächeln, mehr, als sie je zuvor Natalie entgegen gebracht hatte. "Ich bin stolz auf dich, Natalie", sagte sie.
Das genügte Natalie. Sie lächelte zurück. "Bis bald, Mom", sagte sie.
"OKAY, WAS WAR DAS JETZT?", posaunte Fake-Apollo von oben. "IST DAS EINE DRAMATISCHE VERABSCHIEDUNG BEVOR SIE STIRBT?"
Lächelnd sah Natalie zu ihm empor. "Klar doch."
Und dann schoss sie.
Der erste Pfeil traf Fake-Apollo genau in der Brust. Überrascht hob er die Hand, doch genau darauf hatte Natalie gewartet. Der nächste Pfeil drang tief in seine Hand, der dritte traf ihn in der Stirn und den vierten schoss sie in seinen rechten Knöchel. Natalie spürte bei jedem einzelnen Schuss, wie ihre Kerben am rechten Arm sich weiteten.
Völlig überrumpelt griff sich Fake-Apollo an die jeweiligen Stellen und kippte dabei vom Geländer. Mit einem lauten Rumms landete er in der Mitte des Raumes.
So schnell Natalie konnte - und das war nicht sehr schnell, denn sie bekam immer noch schlecht Luft- durchquerte sie den Raum und beugte sich zu Fake-Apollo runter. "Wo ist der Schlüssel?", fragte sie.
Blutend und mit hochrotem Kopf keuchte Fake-Apollo: "DU KANNST...MICH NICHT...TÖTEN!"
"Doch, kann ich", erwiderte Natalie und gab einen weiteren Pfeil in die Stirn Fake-Apollos ab. "Wo ist der Schlüssel für den Käfig?"
"Schießen", grunzte Fake-Apollo. Blut drang aus allen Wunden hervor. Apollos böse Seite starb.
"Schießen?" Natalie hob die Augenbrauen. "Perfekt. Dann mal einen schönen Tod."
Sie drehte sich um und zielte auf das Vorhängeschloss. Der Pfeil traf genau ins Loch und das Schloss fiel klirrend in den Raum hinunter.
Dann spannte sie den letzten Pfeil und schoss ihn ins Herz des Fake-Apollos. Ihr Bogen fiel klappernd zu Boden, als ihr Arm nachgab.
Der Raum bebte und die Wände brachen staubwirbelnd über ihren Köpfen ein.
Um das nochmal kurz zu sagen: Ich bin eigentlich nicht der Meinung, dass Menschen eine gute und eine schlechte Seite haben (oder meinetwegen auch Götter). Ich weiß nicht, macht es Menschen nicht aus, dass sie beides in einem Wesen vereinen? Schreibt mal gerne eure Meinung! <3
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro