Der letzte Atem
Ist das möglicherweise eine wörtliche Wiederholung? Ja? Sorry not sorry.
"Nochmal, Natalie!", hörte sie Wills Stimme dicht an ihrem Ohr. "Nur noch ein einziges Mal, dann hast du es geschafft!"
Wenn das nur wahr wäre. Sie wusste nicht, wie oft sie schon all ihre Kräfte zusammengerafft hatte, um sie einzeln zwei Meter am Seil hochzukatapultieren. Wie oft hatte sie das Gefühl gehabt, gleich vom Seil in die Flammen zu fallen und wie oft hatte Will genau das verhindert? Wie oft hatte er ihr gesagt, dass sie es gleich geschafft hatten, wie oft war es nicht wahr gewesen?
"Konzentrier dich", flüsterte Will, sodass Natalie ihn fast nicht hörte. Er hielt sich mit einer Hand und einem Fuß am Seil fest, damit noch Platz blieb für Natalie. Sie hingen auf der gleichen Höhe, während die anderen über ihr baumelten. Darauf hatte Natalie bestanden, dass sie unten hing, damit sie die anderen im Notfall auffangen konnte, sollten sie runterfallen.
"Komm", sagte Will, nahm ihre rechte Hand und drückte sie. "Los, Tamaia ist dran."
Natalie schloss die Augen und atmete schwer ein. Die mit Rauch verpestete Luft, die von den Flammen heiß wurde, die sie umgaben, brannte in ihrer Lunge und ihrem Kopf.
Sie verstärkte den Griff um das Seil. "Hoch", wisperte sie und das Seil zuckte. Einen Moment lang schaukelten sie ein wenig, dann hörten die Schwingungen abrupt auf.
"Sehr gut!", sagte Will und ließ ihre Hand wieder los. "Jetzt nochmal."
Natalie stöhnte. Es war nicht Wills Schuld, das wusste sie, er half ihr ja sogar, aber trotzdem hatte sie gerade große Lust, ihn zu erwürgen, was kontraprduktiv gewesen wäre, deswegen ließ sie es doch. Aber sie könnte schreien vor Schmerz. Ihr Kopf dröhnte von dem Tosen der Flammen um sie herum und davon, sie nach oben zu bringen. Es war fast nicht auszuhalten.
"Komm schon, Natalie", sagte Will und Natalie meinte, Verzweiflung in seiner Stimme zu hören.
"Was ist los?", fragte sie und öffnete die Augen. Will sah nach oben zu den anderen hinauf. "Was ist los, Will?", wiederholte sie, diesmal drängender.
"Ich... nichts, aber-"
"Will, was ist los?!"
Er sah sie gequält an. "Ich weiß auch nicht so ganz genau, was ist, aber ich glaube, Jack hat Probleme."
Alamiert schaute sie nach oben. Jack hing zwischen Kayla und Sherman, also an dritter Stelle. Natalie konnte nicht viel erkennen, nur, dass sein Gesicht schweißnass und trotz der Hitze leichenblass war. "Jack", rief sie, obwohl ihr Kopf sie sofort mit Schmerzen bestrafte. "Alles in Ordnung?"
"Er sollte nicht reden", kam es von Nyssa über ihnen. "Ich bin nicht so heilkundig wie Will, aber ich glaube, er kann schlecht atmen."
"Deswegen musst du weiter machen", sagte Will und sah sie flehend an. "Es tut mir so leid, Natalie, ich weiß, dass du nicht mehr kannst, aber Jack muss hier raus. Genauso wie du."
Er hatte Recht. Gerade, weil es so schlimm war, musste sie das hier beenden. Aber gerade deshalb war sie auch fast am Ende ihrer Kräfte.
"Okay, warte kurz. Ich muss-"
"Hör mal", unterbrach Will sie.
"Was denn?"
"Die Musik, sie..." Er sprach nicht weiter, aber Natalie hörte es plötzlich auch.
Abhackte, nicht zueeinanderpassende Töne in Moll schollen zu ihnen hoch, wirbelnd schnell und durchdringend, begleitet von einem Zischen und Pfeifen.
"Das Feuer ist beim Bach angekommen", sagte Natalie heiser.
Sie wusste, dass es stimmte. Tief in ihrem Inneren spürte sie, wie das Wasser vom Feuer zerfressen wurde und wie es immer weniger Kraft aufbringen konnte. Es passte nicht zusammen, dass Feuer stärker war als Wasser, aber das hier war etwas anderes. Das Wasser war die Musik, die Musik war selbst böse gewesen, bevor Natalie sie befreit hatte, das Feuer und das Wasser eine Gemeinsamkeit: Sie waren vom bösen Apollo erschaffen worden und das Feuer, mit dem Erschaffer in sich, war mächtiger.
Natalie spürte, wie die beiden Elemente gegeneinander kämpften und wie sich die Spannung entlud: Neuer Wind wehte von unten hinauf und alles geriet mit einem Schlag aus dem Ruder.
Die neue Hitzewelle verbrannte ihre Haut, die Flammen umwirbelten ihren schmalen Schutzraum und sie konnten nichts mehr sehen, nicht mal Wills Umrisse waren noch zu erkennen. Natalie konnte Sherman schreien hören, von Tamaia kam ein trockenes Schluchzen.
Dann hörte sie etwas durch die Luft fallen, ein leises Rauschen in der trockenen Luft. Nyssa brüllte etwas wie: "Fariauerfälrua!"
Im letzten Moment wurde Natalie klar, was hier passierte, sie streckte den Arm aus und packte ein Handgelenk.
Der Wind legte sich ein wenig und sie konnte wieder sehen und erkennen, wen sie gerade davon abgehalten hatte, in den Tod zu stürzen. Es war Jack.
"Lass mich los, Natalie", sagte er. Seine dunklen Augen waren angesichts des Feuers viel heller und seine Stimme war merkwürdig klar.
"Was? Spinnst du? Ich lasse dich doch nicht runterfallen!", rief sie, doch ihr Arm zitterte. Es war ausgerechnet ihr rechter Arm. Die geradeso geschlossenen Kerben rissen auf und begannen wieder zu dampfen.
"Natalie, ich kann mich nicht halten", sagte Jack. Er sah so erschöpft aus, dass Natalie sich gleich noch mieser fühlte.
"Dann helfe ich dir", antwortete sie verzweifelt.
"Es steht in der Weissagung, oder?", fragte Jack und seinen Mund umspielte ein müdes Lächeln. "Das mit der Blüte und so... Dass sie verwelken wird."
"Damit kann etwas anderes gemeint sein", sagte Natalie mit gepresster Stimme.
"Ist es nicht. Ich werde-" Doch er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu Ende zu bringen. Der Bach lieferte einen besonders hohen Ton ab, der Natalie durchfuhr wie ein Messer und sie konnte Jack nicht mehr halten. Mit Entsetzen sah sie, wie Jack durch die Flammen fiel, seine Kleider verbrannten und seine Augen waren geschlossen. Und ganz leise, von ganz weit weg, hörte Natalie den Bach, wie er ein leises Lied spielte: "Goodbye Yello Brick Road" von Elton John, ganz sanft und zart. Jack und der Bach atmeten ein letztes Mal auf, dann verstummten beide, beide besiegt von den Flammen des Apollo.
Ihr Kinn zitterte und sie konnte nicht mehr denken. Sie packte das Seil fest, so fest, dass es wehtat und es tat einen Ruck.
Sie wurden nach oben geschleudert, zehn, zwanzig, dreißig Meter, bis die Öffnung nur noch fünf Meter entfernt war. Sternenklarer Himmel blickte ihnen entgegen und frische Luft, wunderbar frische Luft, begrüßte sie. Das Seil wickelte sich auf und mit einem heftigen Stoß fielen die sechs Halbgötter und Halbgöttinnen auf das nasse Gras im Camp Half-Blood.
Sofort war der Tatarus los. Stimmen erklangen durcheinander, Schreie, Schluchzen und Hufgeklapper.
Natalie setzte sich auf. Das ganze Camp war auf den Beinen, rannten durcheinander, knieten neben den ehemals Vermissten nieder und schafften Nektar und Ambrosia her, um sie zu heilen. Einige trugen bunte Tücher und Partyhüte, die mit "Happy new Zeus" bedruckt waren, ein ziemlich schmerzhafter Anblick.
"WILL!" Nico, der natürlich keinen Partyhut trug, löste sich aus dem Getümmel und stürzte sich auf seinen Freund, der mitgenommen aussah, aber immerhin fest auf beiden Beinen stand.
"Ich hasse dich, Solace! Ich hasse dich!" Nico unterstrich jedes Wort mit einem Schlag auf Wills armen Brustkorb. Will hob beide Arme, doch Nico ließ sich davon nicht abhalten. "Du - bist - so - ein - unfassbarer - Idiot!" Er verpasste Will noch eine Backpfeife, dann zog er ihn in die Arme.
Will strich ihm beruhigend über den Rücken. "Soll ich dir einen Vortrag über Unterernährung in der Pubertät halten, di Angelo?"
Nico, der die Augen geschlossen hatte, schüttelte den Kopf. Natalie sah Tränen seine Wangen hinablaufen.
"Natalie? Wo bist du?", rief da eine Mädchenstimme, die sie nicht kannte.
Sie wollte gerade antworten, als es plötzlich zu viel war.
Erschöpfung übermannte sie. Alles, was sie erlebt hatte, kam vervielvältigt zurück,angefangen beim Fall durch die Flammen bis zur Rückkehr durch ebendieses Feuer. Der Schmerz in all ihren Verletzungen brannte sich in ihre Empfindung und ihr wurde so übel, dass sie rückwärts ins Gras kippte.
"Hier bist du. Hey, Austin! Hol mal Nektar, Natalie braucht dringend Heilung!" Ein Mädchen kniete neben ihr nieder und strich ihr die Haare aus der Stirn, so wie Nico es vor Monaten getan hatte. Natalie erkannte durch ihre vernebelte Sich ein freundliches Gesicht, umgeben von zimtfarbenen Locken. "Es ist alles gut", sagte es sanft. "Gleich bekommst du Hilfe und dann geht's dir sofort besser."
In Natalies Kopf drehte sich alles und sie schloss schweratmend die Augen.
"Wo ist sie?", hörte sie von fern eine Jungenstimme sagen, die sie kannte, aber ihr Gehirn konnte keine Verbindung herstellen. Gleich darauf ließ sich ein weiter Mensch neben ihr nieder. Eine andere Hand strich ihr übers Gesicht, untersuchte die Wunden und kam auf ihrer Stirn zum Stillstand. Die Hand war warm und größer als die des Mädchens, doch genau so sanft. Natalie hörte ein Schniefen.
"Dein Ernst, Jackson?", sagte das Mädchen und Natalie hörte, dass sie grinste. "Du weinst?"
Der Junge zog die Nase hoch und antwortete mit belegter Stimme: "Klappe, Levesque, wenn dir dein Leben was bedeutet."
Dann wurde alles schwarz.
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