6.Begegnung
„Mama!" Ein Mädchen in meinem Alter kommt in die Gasse gestolpert. „Mama! Mama, wo bist du?" Ina schiebt vorsichtig Eden von ihrem Schoß, der mittlerweile eingeschlafen ist und erhebt sich, „Hier Blanca Schatz, hier drüben!"
Als sie sich zu uns umdreht, sehe ich dunkle Augen, dunkler als die Nacht selbst, dunkler als schwarze Tinte und dunkler als das tiefste Schwarz selbst. Sie streichelt sich über die kurz geschorenen Haare, die Haare ihrer Mutter und über das Elfenbeingesicht mit ein paar wenigen Sommersprossen. Trotz ihrer Augenringe und ein paar Pickeln an der Schläfe ist sie das schönste Mädchen, was ich je gesehen habe. Ihr Blick trifft den meinen während sie auf uns zukommt. Elegant wie eine Katze läuft sie zwischen den anderen Menschen hindurch, ohne auch nur einen anzustoßen. Als sie nun vor uns steht, senkt sie den Blick zu ihren Schuhen, sie trägt außerdem noch einen schwarzen Rock, eine graue Strumpfhose und ihr Oberteil besteht aus einem grauen Tuch, das sie sich um den Leib geschnürt hat. Sie wirft noch einmal von der Seite einen Blick auf mich, konzentriert sich dann aber voll und ganz auf ihre Mutter.
,,Ähm ..., ähm Mama ich h...habe Brot und Käserinden gefunden und sogar einen Apfel für Eden, er mag, nein liebt doch Äpfel."
Als Ina bemerkt wie Blanca immer wieder zu mir rüber schielt, zieht sie eine Augenbraue hoch und sagt: „Das ist 269." Auf einmal merke ich, dass sich noch immer die Zeitung und die Kohle in meiner einen Hand befinden, schnell kritzele ich in Druckbuchstaben:
Nennt mich Yo.
auf das Papier. Einige Minuten starrt Blanca nun auf die Buchstaben, versucht diese fieberhaft zu entziffern, was ihr am Ende nur mangelhaft gelingt. „Also wenn ich recht lese will sie Nemi genannt werden." Ich will schon protestieren, lasse es dann jedoch bleiben und nicke nur mit dem Kopf. Auf einmal läuft Blanca leicht rot an und fragt: ,,Ähm... Willst du mit uns zu Mittag essen?" Darauf weiß ich nicht was ich sagen soll, Menschen die so wenig besitzen, dass sie noch nicht einmal ein Zuhause haben, bieten mir, mir, die sie erst seit zwei Stunden kennen, einen Teil ihrer geringen Nahrungsmittel an. Nie und nimmer wäre ein Mensch mit Heim so großherzig gewesen, sitzen sie doch daheim vor ihrem Feuer und regen sich über die Faulheit der Ausgestoßenen auf. Doch ich kann nicht zulassen, dass mir jemand so etwas schenkt, wenn er es doch selber so dringend braucht. Tief greife ich in eine meiner Kuttentaschen und ziehe gleich 3 Flaschen sauberes Wasser heraus, einen Laib Brot und eine zwei Liter Dose voll Linsensuppe. Ich nehme mein Messer und steche einmal tief in den Deckel der Dose hinein, anschließen schneide ich einmal rundherum, bis sich der Deckel löst. Baff beobachten mich 4 Augenpaare akribisch und fassungslos, sodass ich anfangen muss stumm in Gelächter auszubrechen. Noch immer sagt keiner ein Wort, nicht, als ich ein kleines Feuer gemacht hatte und auch nicht, als wir endlich am Essen sind. Ich höre nur das gierige Herunterschlingen von Eden und das Schlürfen des Großvaters, als er eine der Wasserflaschen ansetzt, dabei achtet er streng darauf nicht den kleinsten Tropfen zu verschütten. Darauf hole ich noch 3 Flaschen aus der Kutte und stelle sie neben die Suppendose. Während des Essens halte ich mich so diskret wie möglich zurück, darauf bedacht nur einige wenige Löffel Suppe zu essen. Eigentlich denke ich, dass dies keinen auffällt, da hab ich allerdings die Rechnung ohne Ina gemacht, während ich den Apfel für Eden schneide.
„Ey, wenn du uns schon von deinen Speisen gibst, dann erweise uns die Ehre und esse mit uns." Wild schüttle ich den Kopf und wedel mit den Händen um zu zeigen, dass dies schon in Ordnung ist, Ina lässt aber nicht locker, bis ich ihr mithilfe von Gestik erklärt und geschworen habe, dass ich satt bin, tatsächlich bin ich das auch wirklich. Ich rolle mich zur Wand zusammen für einen kleinen Mittagsschlaf, denn eine große Müdigkeit hatte mich plötzlich überfallen. Ich merke nur noch, wie eine Decke über mich geworfen wird und dann bin ich auch schon weg, im Land der Träume.
Tränen laufen, ich spüre Angst. „Ma, ich habe Angst." Meine Ziehmutter blickt mir tief in die Augen, die Fenster zu meiner Seele. „Musst du nicht Schätzchen, das ist nur der Blitz und gleich kommt der Donner und jagt ihn fort!"
„Tinnitus! Ein grauenhafter Schrei, ein Frauenschrei. Nimm das Baby, nimm es und lauf." „Aber was wird aus dir?" „Ich sterbe für uns, für V..." ein lauter Knall ein Schrei, ein Männerschrei. Und Licht, ein helles Licht.
Es ist dunkel und ich höre Ma ihre Stimme und die eines Fremden. „Was wollen sie machen wenn er sie findet, Lady? Das Kind gefährdet ihre Sicherheit, es wäre vernünftiger es einfach wegzugeben." Ich stehe auf und lausche, welches Kind? „Nein, kommt nicht infrage, die Kleine braucht mich, ich bin ihre Ma. Auch ich habe mich an meine Schwüre zu halten."
Eine Blume erblüht mit der Zeit der Wende. Eine Blume ... .
Ich bin nicht in Hier, wo bin ich?
Das Licht blendet mich. Ich erwache mit einem stummen Schrei. Schweiß rinnt meinem Rücken runter und mein Atem geht stoßweise, ich zittere am ganzen Körper und an meinen Händen klebt Blut. Leise läuft mir eine Träne die Wange runter, ich bin wie gerädert, mein Herz rast noch immer, mit zitternden Händen wische ich mir das Blut von den Lippen und ich muss einfach an meine Ma denken. Und mein erstes Opfer kommt mir auch wieder in den Sinn.
„Ich bin dreizehn und ab morgen werde ich der jüngste Soldat aller Zeiten."
Ich seufze, raffe mein Hemd ein bisschen und streife sanft die erste Narbe, mein erstes und jüngstes Opfer. Plötzlich werde ich von hinten an der Schulter gepackt, ängstlich springe ich auf, mein Gesicht noch immer tränennass. Es war Eden der mich angefallen hatte, er grinst mich nun frech an, ich wische mir noch einmal schnell über das Gesicht bevor er spricht. „Es ist schon spät, ich soll dich und diesen Teppich rein holen." Rein holen, wohin rein holen, hier gibt es keine Kellerfenster oder ähnliches, nur Mauern, zwischen denen Bettlaken gespannt sind, die alles in einen angenehmen Schatten tauchen. Eden scheint meine Verwunderung zu bemerken, grinst aber nur während ich aufstehe. Ich packe mein Feuerzeug, die leere Dose und die leeren Glasflaschen zurück in meine Taschen, um sie später zu entsorgen, als letztes packe ich noch mein Messer ein und helfe Eden dabei, den Teppich aufzurollen. Wir heben ihn uns gemeinsam auf die Schultern, der Teppich wiegt mehr als ich gedacht habe, sofort schaue ich zu Eden nach vorne, der ihn locker und leicht auf seiner Schulter trägt und zügig vorauseilt, in eine andere Ecke des Marktes. Da kaum noch Menschen da sind muss ich doch darüber staunen, darüber wie groß dieser Platz ist. In der Mitte findet sich sogar ein kleiner Brunnen, auf dem drei handgroße nackte Frauen in Stein tanzen. Alle Teppiche waren verschwunden und das Pflaster schimmert in der untergehenden Sonne, die Temperaturen sinken minütlich und ich beginne zu zittern.
Als Eden plötzlich stehen bleibt wäre ich fast über ihn gestolpert, nur der Teppich entgleitet meinen Fingern und knallt auf den Boden. Eden dreht sich kurz um und schaut mich an, noch immer mit einem Grinsen im Gesicht. „Du hast so einen langen Mittagsschlaf gemacht und hast trotzdem, auch nach deinem guten Essen, keine Kraft mehr, schau dir meine Muskeln an." Stolz präsentiert er die Armmuskeln seines freien Armes. „Ich bin stark wie ein Boxer und Mama sagt, irgendwann werde ich der Stärkste sein." Bei seinen Worten muss ich einfach lachen. „Warum lachst du so? Weißt du, wenn du lachst hörst du dich an wie ein sterbender Hund, der Rattengift gefressen hat!" Meint Eden, er sieht mich ernst an, wie sein Großvater hatte er diesen Blick. Erst jetzt fällt mir auf, dass er genau die gleichen Augen wie Blanca hat und bewundere deren Tiefe auch bei ihm. Ich weiß noch, dass ich Eden auf 6 Jahre geschätzt habe, aber sein Verstand scheint schon so weit, dass ich mir nun nicht mehr sicher bin, deshalb sprinte ich schnell zum Brunnen und tunke meinen Finger in das brackige Wasser, ich laufe zurück und schreibe auf einen Pflasterstein:
Wie alt bist du?
Eden liest die Zeile schneller als dachte und antwortet: „Ich bin 7 Jahre alt und in 3 Monaten werde ich 8." Wieder blickte er stolz in meine Augen. Ein Geräusch stört unsere Unterhaltung und ein gusseiserner Gullydeckel schiebt sich zu Seite, Ina blickte Eden und mich böse an. „Spinnt ihr, es ist schon nach 19.00 Uhr, wollt ihr lieber draußen übernachten oder was ist los." Ina runzelt streng ihre Stirn. Hastig hebe ich den Teppich schnell wieder auf, Eden reicht erst sein Ende hinunter in das Loch und ich dann mein Ende. Inas Kopf verschwindet und Eden springt auch hinunter, nun stehe ich alleine auf dem vorhin noch so belebten 'Gammlermarkt', nichts ist zu hören außer dem Wasser, welches aus dem Reigen der Frauen entspringt und dem Rauschen des Windes. Am liebsten würde ich draußen schlafen, aber jeder, der bei Verstand ist, würde es sich niemals freiwillig wagen dies zu tun. Ich schreite zum Loch und blicke hinab, zu meinem Erstaunen sehe ich Menschen mit Fackeln in den Händen. Der Gestank, der aus dem Loch dringt ist einfach nur abstoßend und am liebsten würde ich mir wieder einen Keller suchen, allerdings ist es dafür schon zu spät, gestern wäre ich schon fast erfroren. Sich zieren ist hier einfach nur dumm. Bevor ich über eine verrostete Leiter in die Tiefe klettere, kneife ich mir mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu und hole noch einmal tief Luft.
Unten warten schon Ina und Eden auf mich, sie beide haben bereits den Teppich aufgeschultert und ich laufe jetzt einfach neben den Beiden her. Je tiefer wir in die Kanäle vordringen, desto widerlicher wird der Geruch, mir, ja und selbst Ina und Eden rinnen die Tränen aus den Augen, was zur Hölle ist das für ein Zeug in der Luft, alles dreht sich. „Nemi!" Schreit Ina. „Atme flacher, dann wird es besser und werde um Handaas Willen nicht langsamer." Neben uns bricht die Frau mit dem blonden Mädchen von vorhin zusammen, das Mädchen hatte sich inzwischen blutig gehustet und ringt herzzerreißend nach Luft, ihre Mutter auch stark hustend, setzt sich unter Tränen wieder auf, ihr Schrei ist grausam und mach mir eine Gänsehaut, mein Blick wird immer verschwommener. „Bella, schreit sie mit rauer Stimme, Bella wir müssen weiter, bitte." Ihre Schreie weichen bald einem Schluchzen. „Es tut mir leid, so leid Bella aber ich schaffe es nicht, ich kann dich nicht retten, du musst hier mit mir ... Bella, Bella! Sie ist tot, mein Mädchen ist tot, mein Baby, mein Sonnenschein. Nein, nein!" Ihr Schluchzen weicht wieder dem Schreien. Wir gehen weiter und die Schreie werden leiser, verklingen aber nie und ich weiß ganz genau sie werden meine Träume nie mehr verlassen.
Wir laufen weiter, immer weiter, vielleicht Stunden oder sind es doch bloß Minuten, Luft holen fällt mir immer schwerer und mittlerweile hatten wir den Alten und Blanca eingeholt. Meine Lunge brennt wie Feuer, da Eden nicht mehr laufen konnte und nun mehr auch stark hustet, trägt ihn Blanca jetzt. Auch der Alte kann keinen Schritt mehr tun, sodass Ina und ich, die nun den Teppich tragen, diesen ein Stück aufrollten und den Teppich als Trage verwenden. Noch immer laufen wir drei, das Licht der Fackel, die der Alte hält, glimmt ab, immer weniger Menschen treffen wir an.
Kurz vor der Ohnmacht wird die Luft plötzlich besser. Ina, Blanca und ich sinken auf den Boden, alle schwer atmend, kommt eine sehr dünne Nonne auf uns zu geeilt, wahrscheinlich im gleichen Alter wie Ina, blickt sie besorgt und erleichtert auf uns hinab. Meine Lunge beruhigt sich wieder, erst jetzt bemerke ich, dass ich glitschnass geschwitzt bin und keine Maske trage. Ina springt auf und schreit der Nonne ins Gesicht: „Wieder hast du uns nicht gewarnt, Tera und du willst meine große Schwester sein?" Ruhig blickt Tera auf uns herab. „Ina, du hast es immer noch nicht verstanden. Die wöchentliche, zehnminütige Minuten Wanderung durch gasförmiges Nervengift ist eine Anweisung des Fürsten, um unheilbar Kranke Ausgestoßene auszusortieren, damit die Zahl der Obdachlosen gesenkt wird, weil das Krankenhaus letztes Jahr zu hohe Todeszahlen hatte. Die Stadt kann sich die Behandlung von sowieso Sterbenden nicht leisten. Sei froh, dass es überhaupt ein Almosenkrankenhaus gibt, dass euch Ausgestoßenen ein Nachtlager und ärztliche Versorgung bietet. Und nun lass mich endlich nach Großvater und den anderen schauen und dann könnt ihr euch waschen und eure Kleidung in der Wäscherei abgeben." Ich erkenne die eisblauen Augen von Nonne Tera, Inas Augen. „Tante Tera!", ruft Eden schwach. Diese kniet sich vor ihn. „Ja mein Kleiner?" ,,Blanca atmet nicht!"
Nun horche ich auf, Blanca atmet nicht. Mein Herz droht zu zerspringen, ein paar mal schon habe ich mir auf dem Weg Sorgen gemacht, da sie dort schon mehrmals kurz davor war das Bewusstsein zu verlieren. Ich möchte aufstehen, doch die Atemnot fesselt mich noch immer. „Nein Eden, alles gut sie ist nur vor Erschöpfung eingeschlafen, schau wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt, alles gut." Eden atmet erleichtert aus und auch ich konnte mich schließlich beruhigen, alles war gut.
Als ich später eingekuschelt in meinem Bett mit weichen Schafwollkissen liege und einer dicken weißen Decke, rast mein Verstand um die letzten Stunden, diese Frau und ihr Kind, Bella. Warum hat keiner geholfen, haben wirklich alle so eine Angst vor dem Fürsten? Oder war es reine Selbstsucht? Ich verstehe das nicht. Und die allergrößte Frage. Warum habe ich nicht geholfen?
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