Nächte in Nordeis
Es war furchtbar kalt. Die grauenhafte Kälte dieses dunklen, unwirklichen Ortes drang erbarmungslos durch ihre dicke Winterjacke und schien sich durch ihr Fleisch und ihre Knochen zu fressen, wie eine fatale Krankheit. Ihre Zähne klapperten, wie die Knochen eines längst toten Kadavers, durch die der Wind pfiff. In einem verzweifelten Versuch die Kälte zu vertreiben, wickelte sie die Jacke fester um sich. Ihre Fingerspitzen hatten bereits begonnen sich blau zu färben. Tief in ihrem Inneren wussten sie, dass es völlig vergeblich war. Niemand konnte lange bei diesen Temperaturen überleben. Ihr Bruder war tot.
Es sei denn... es sei denn Mutter hatte doch recht gehabt...
Energisch schüttelte sie den Kopf. Die gefrorenen Spitzen ihre Haare klimperten leise, als sie aneinander stießen.
Nein! So durfte sie nicht denken! Genau das hatte ihre Mutter in die Klapse gebracht!
Eine einzelne Träne kullerte aus ihrem linken Auge und gefror sogleich auf ihrer blassen Wange, die von der Kälte ausnahmsweise einmal eine leichte, rote Farbe verleihen bekamen.
"Marko!", schrie sie in den schneidenden Wind.
Vielleicht lebte er doch noch, vielleicht hörte er sie. Die eisigen Böhen schienen sie auszulachen.
"Marko! Marko, hörst du mich? Antworte mir! Bitte! Bitte.", ihre Worte gefroren in der Luft zu eisigen Wölkchen, die von dem spöttischen Wind ins Niemandsland davongetragen wurden. Fida zitterte. Es war so schrecklich kalt. Mehr Tränen liefen über ihr Gesicht und fielen als gefrorene Perlen in den Schnee zu ihren Füßen, die sie schon seit Stunden nicht mehr spürte.
"Marko!"
Eine Antwort erhielt sie nicht. Nur feindselige Stille hatte der eisige Kontinent für sie übrig. Sie stopfte weiter durch den tiefen Pulverschnee, der den eisigen Boden bedeckte. Wenigstens schneite es nicht mehr. Ihre Beine waren müde, ihre feuchten Augen und Wangen brannten während sie mit dem Eis und die Vorherrschaft kämpften.
"Marko!"
Ihre Stimme zitterte. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie würde nicht mehr lange durchhalten.
Sie blickte zurück. Die schmale Spur ihrer Fußstapfen verlor sich nur wenige Meter hinter ihr in der völligen Schwärze der Nacht. Sie konnte nicht zurückgehen, sie würde sich nur verlaufen. Fida wusste nicht einmal wie lange sie schon hier war. Es war von Anfang an dunkel gewesen und die ganze Zeit dunkel geblieben. Nicht einmal Sterne oder einen Mond schien es hier zu geben. Am Anfang hatte es geschneit. Bestimmt waren die Fußstapfen, die zu ihrer rettenden Heimat zurückführten, nicht einmal mehr alle zu erkennen. Heimat. Als ob sie so etwas noch hätte...
Fida schniefte und ein stechender Schmerz schoss durch ihre Nase. Es war so kalt. Wieso hatte Marko auch nur weglaufen müssen?
Die letzten Monate waren hart für die Geschwister Bianco gewesen. Als die Männer in den weißen Uniformen das erste mal aufgetaucht waren, hatten weder Sofia noch ihre Kinder damit gerechnet, dass so etwas passieren würde.
Sofia Bianco war ein Medium. Sie nahm für ihre Kunden mit Kreaturen aus einer anderen Welt Kontakt auf.
Tendämlow nannte sie den Ort. Sie kannte ihn aus einem Buch, das sie der komischen Schule, über der die Biancos in einer kleinen Wohnung gelebt hatten, gemopst hatte. In die Schule gingen sowieso nur privilegierte Schnösel.
Laut Sofia war es in Ordnung von privilegierten Schnöseln zu stehlen.
Eine Zeit lang hatten die Biancos gut in Venedig gelebt. Das Buch, und was Sofia damit machte, spühlten täglich etliche Kunden vor die Wohnungstür des Mediums und ihrer Kinder.
Die Tatsache, dass Madame Bianco steif und fest behauptete Fida und Marko seien die Kinder zweier Dämonen von Tendämlow, hatte die Begeisterung der Kunden nur weiter geschürt. Marko, der bereits mit sieben Jahren angefangen hatte in einer Fabrik zu arbeiten, um die Mutter zu unterstützen, hatte ihr das auch noch geglaubt. Fida, die in die Schule hatte gehen dürfen, hatte ihre Zweifel.
Sie bekam auch die schrecklichen Gerüchte mit, Sofia Bianco würde sich als Freudenmädchen an die Dämonen verkaufen.
Die anderen Mädchen in der Schule nannten sie Dirnenspross oder Mischlingskind. Manchmal bewarfen sie Fida mit Essen. Trotzdem hätte Fida Bianco alles gegeben um in Venedig zu bleiben.
Es war anders gekommen.
1914 war der Weltkrieg ausgebrochen und Sofia Bianco hatte für sich und ihre Kinder die Köfferchen gepackt, ihre Familie in die Eisenbahn gescheucht und war zu Verwandten nach Bulgarien gefahren.
Fida hasste ihre neue Heimat. Trjawna war eine Kleinstadt im Herzen des Landes und es gab nicht sonderlich viel zu sehen. Die großen Einkaufsläden mit den schönen Schaufenstern, die Fida zu Hause in Venedig zu bewundern gepflegt hatte, fehlten.
Am Rand der Stadt stand eine Fabrik. Fida wusste nicht, was dort hergestellt wurde, aber ihr Bruder musste dort arbeiten. Wieder hatte die Familie nur eine kleine Wohnung. Wieder arbeitete Sofia als Medium. Wieder gingen die Gerüchte über die Dämonendirne los.
Fida verstand die Sprache in Bulgarien zwar nicht sonderlich gut, aber es war ihr schmerzlich bewusst, worüber die Leute redeten, wenn sie vorbei lief.
In der neuen Stadt durften Mädchen nicht in die Schule gehen. Fida erledigte also Einkäufe für die Familie und half der Mutter bei ihrem Beruf als Medium.
In Trjawna gab es nicht so viele Interessenten wie in Venedig.
Die Biancos mussten also die Gürtel enger schnellen und gucken, wie sie mit weniger Geld zurecht kamen.
Dann kamen die Männer in den weißen Uniformen. Es geschah, als Familie Bianco schon am Boden war, und nicht daran glaubte, dass es schlimmer werden konnte.
Als Fida die Tür für die Männer öffnete, war ihr bereits klar, dass sie nicht hier waren weil sie mit einem Medium sprechen wollten. Sie schauten grimmig drein und hatten diese Ausstrahlung, die einzig wichtigen Menschen zuteil ist, die sich ihrer Wichtigkeit äußerst bewusst sind.
"Sofia Bianco!", bellte einer der Männer, ein blonder mit einer Narben am Kinn.
Nervös schüttelte Fida den Kopf. "N-nein. Ich bin Fida Bianco. M-meine Mutter ist drin, wenn..."
Mehr mussten Narbenkinn wohl nicht hören.
Grob schob er Fida beiseite und marschierte mit den anderen Männern ins Haus. Einer der Männer hatte braune Haare und eine Brille, und der andere trug einen schwarzen Pferdeschwanz.
Mit ihrem weiten Medienkostüm und klimperndem Schmuck wuselte Sofia Bianco aus der Küche. Lilane Rauchschwaden waberten um ihre Füße und ihre Perlmuttene Brille schimmerte. Ihr typischer Auftritt.
Dann sah sie die drei weiß uniformierten Herrschaften.
"Was kann ich für die guten Herren tun?", fragte sie und rieb sich, sichtlich nervös, die Hände.
Ihre Ringe klirrten.
Der Brillenmann schnarrte etwas auf Bulgarisch und Sofias Gesicht verlor sämtliche Farbe.
"Dio mio! Fida bleib hier draußen, die Erwachsenen reden allein.", befahl die Mutter und winkte die drei Männer mit einem nervösen Grinsen in die Küche.
Fida verstand das nicht. Was macht denn diese Leute hier?
Hatten sie etwas mit dem Markos Anstellung in der Fabrik zu tun? Was würde nur aus ihnen werden, wenn der Bruder auch noch seine Stelle verlor?
Würde sie als Dienstmädchen arbeiten müssen? Vorsichtig schlich Fida sich näher an die Küchentür und lauschte.
Die drei Männer redeten auf Sofia Bianco ein. Das meiste konnte Fida nicht verstehen, aber sie hörte Wörter wie "Halbdämonenkinder", "Geisteskrank", "Schwachsinn", "Anstalt", "Waisenhaus" und "Bordsteinschwalbe" von den Männern. Narbenkinns schnarrende Stimme behauptete sogar, Sofia würde ihr ganzes Geld für Schmuck und Parfüm rauswerfen, und ihre Kinder hungern lassen.
Natürlich widersprachen Madame Bianco. Fida schnaubte wütend. Das würde die Mutter nie tun! All die Sachen hatte sie noch aus Venedig.
Dann erklangen Schritte hinter der Küchentür. Schnell huschte Fida davon, setzte sich auf einen Stuhl und tat so, als wäre sie in ein Buch vertieft. Die Tür flog auf und die Mutter scheuchte die drei Herren, unterbrochen von haufenweise italienischer Flüche, aus ihrer Küche. Dann warf sie sie aus der Wohnung.
Damals hatte Fida gedacht, dass dies wohl das letzte Mal gewesen war, dass sie von den Herren in den Uniformen gehört haben würden, doch sie irrte sich.
Ab diesem Tag kamen die Herren öfters. Immer schneller eskalierten ihre Gespräche mit Madame Bianco und Fida war sehr froh, dass ihr Bruder nie da war. Marko hätte sicher für die Mutter Partei ergriffen, und die Biancos so noch mehr in dieses Schlamassel gestürzt.
Je öfters die drei Herren die Wohnung der Biancos aufsuchten, desto besorgter und gestresster wirkte Sofia danach.
Irgendwann machte Fida sich ernsthafte Sorgen.
Sie nahm ihren Mut zusammen, fasste sie sich ein Herz und fragte die Mutter, was es wohl mit den Männern in den weißen Uniformen auf sich habe.
Mit Tränen in den Augen legte Sofia Bianco die Hände auf die Schultern ihrer Tochter und erklärte, dass die Männer für einen Nervenarzt arbeiteten, der Sofia für schwachsinnig hielt.
Sie beschrieb, dass die uniformierten Herren ihr ihre Show als Medium nicht abkaufen wollten, und an den Sachen zweifelten, die sie sagte. Vor allem Madame Biancos Behauptungen, die Kinder seien Halbdämonen, stießen den Herren in Weiß ganz besonders übel auf.
Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass Sofia Bianco unmöglich in der Lage sein konnte, selbst auf ihre Kinder zu achten und ihre Familie zu ernähren.
Aus diesem Grund hatten sie vor, Madame Bianco in eine Anstalt zu stecken.
Dort, so sagten die Männer in Weiß, könnte man ihren Schwachsinn heilen.
Fida lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie hatte schon von solchen Anstalten gehört, um genau zu sein von der, die unweit der neuen Stadt lag. Es hieß, dass die Patienten dort mit Elektroschocks behandelt wurden, um ihnen ihren Wahnsinn auszutreiben.
Die Leute in der Stadt sagten, dass man aus der Anstalt nicht wiederkäme.
Tränen zurückhaltend krallte sich Fida Bianco an den wallenden Ärmeln ihrer Mutter fest und schluchzte: "Dann gib es eben zu, Mutter. Gib zu, dass es nur Tricks sind. Ich meine, Marko und ich sind schließlich wirklich nicht Halbdämonen. Wir sind einfach nur Kinder! Sag den Männern was sie hören wollen! Ich will nicht, dass sie dich uns wegnehmen! Das Überleben wir nicht! Mutter, Mutter, bitte ich will nicht in ein Waisenhaus!"
Tränen liefen nun unaufhaltsam aus Fidas Augen und tropften auf den Boden, wie kleine Bächlein. Der Mutter fiel die Kinnlade herunter und sie starrte ihre Tochter an, als würde sie sie nicht wiedererkennen.
So viel Trauer und Enttäuschung hatte Fida noch nie in Sofia Biancos Augen gesehen.
"Du... du glaubst mir nicht. Meine eigene Tochter... Was habe ich nur falsch gemacht? Fida, Fida Schätzchen das ist die Wahrheit! Eure Väter kommen aus Tendämlow! Ihr seid Halbdämonen! Wie kannst du sagen ich würde lügen? Wie kannst du, ausgerechnet du, meine Tochter, mir das antun? Du weißt es doch selbst ganz genau! Du kannst Dinge tun! Dinge, die 'einfache Kinder' nicht tun können. Genau wie dein Bruder! Wieso willst du das nicht mehr wahr haben? Ich werde diese Leute nicht anlügen! Die Wahrheit wird siegen, du wirst sehen!"
"Es tut mir leid, Mutter, bitte verzeiht.", flüsterte Fida.
Sie fühlte sich schrecklich. Niemals hatte sie der Mutter so weh tun wollen. Mit leisen Schritten schlich sie davon. Sie sprach das Thema nie wieder an.
Madame Bianco lag falsch. Die Wahrheit siegte nicht.
Wenige Tage, nachdem Fida mit der Mutter über die Männer gesprochen hatte, kamen sie und nahmen Sofia Bianco mit.
Allein konnten Fida und Marko die kleine Wohnung nicht halten und so packten sie am Ende des Monats ihre Köfferchen und zogen in ein Waisenhaus, ein paar Orte weiter. Ihre Mutter würden die Geschwister Bianco nie wieder sehen.
Fida schaffte es einigermaßen sich in die Gemeinschaft der anderen Kinder einzufügen. Marko hingegen fiel in ein Loch. Er konnte nicht glauben, dass die Mutter tatsächlich eingewiesen worden war und so kapselte er sich von den anderen Kindern ab.
Er sprach mit niemandem, außer Fida, er vernachlässigte seine Aufgaben, er verließ kaum sein Zimmer und er las immerzu in Sofia Biancos dickem Dämonenbuch.
Den Betreuern war das egal. Fida sah ihren Bruder kaum noch. Die Mädchen und Jungen mussten in verschiedenen Häusern schlafen und Fida durfte das Haus der Buben nur betreten, wenn ein Betreuer, ein Mönch, sie dazu aufforderte.
Dann, eines schicksalhaften Tages, hatte Fida Bianco Tischdienst.
Nach dem Essen war es ihre Aufgabe die Tische im Speisesaal mit seifigem Wasser abzureiben. Der andere, der mit ihr eingetragen war, war nicht anwesend. Sie wusste nicht einmal wer es war. Fida machte sich nichts daraus. Das passierte öfters.
Sie tunkte den schmutzigen Lumpen in das heiße Wasser und ließ die Hände einige Zeit ruhen. Die Hitze kümmerte sie nicht, sie konnte ihr nichts tun. Aus dem Wasser starrte ihr ein verzerrtes Spiegelbild entgegen. Es sah der Mutter so furchtbar ähnlich, dass ein schmerzlicher Stich der Trauer Fidas Brust durchfuhr.
Tränen sammelten sich in Spiegelfidas Augen, dem größten Unterschied zwischen ihr und Sofia. Fidas Augen waren pechschwarz. Einzig die Iriden glühten in einem feurigen Rot. "Hallo, Mutter.", flüsterte Fida der Spiegelfida zu, "Ich... ich vermisse dich ganz doll. Marko auch. Er... Mutter, ich sorge mich um Marko. Ich weiß, er ist älter, ich weiß, er kann auf sich selbst aufpassen, doch kann ich mich nicht davon abhalten mich zu sorgen. So abgeschottet und traurig habe ich ihn noch nie gesehen.
Mio Dio! Ich wünschte du könntest mir helfen."
Die Spiegelfida sah nur traurig zurück. "Ich habe dich lieb, Mutter.", murmelte Fida und lächelte das Seifenwasser traurig an. Das Spiegelbild zeigte seine spizen, grauen Zähne.
"Fräulein Bianco!", durchdrang Bruder Bojidars Stimme Fidas Tagträumereien. Schnell zog sie ihre Hände aus dem Wasser. Die Spiegelfida wurde von den Wellen in tausend Teile zerrissen.
"Ja, Bruder Bojidar, was kann ich für Euch tun? Ich... ich bin gleich mit dem Tischdienst fertig! Dann komme ich zum Mittagsgebet, versprochen!", versicherte Fida und rieb sich nervös die nassen Hände.
Bruder Bojidar lachte und hielt sich den dicken Bauch.
"Nein, Fräulein Bianco, du hast nichts Falsches getan, keine Sorge. Es geht um deinen Bruder. Seit gestern Abend lässt er sich nicht mehr blicken. Er öffnet die Türe nicht. Er antwortet nicht. Er kommt nicht zum Tischdienst. Wir sorgen uns um ihn. Kannst du ihn vielleicht aus dem Zimmer locken?" Fragte der Mönch mit einem freundlichen Lächeln.
Eilig nickte Fida.
"Natürlich, Bruder Bojidar! Ich eile sofort zu ihm!", versicherte Fida und rannte los. Das Seifenwasser glättete sich langsam wieder.
Die Türe zu Marko Biancos Zimmer war fest verschlossen und kein Muks war dahinter zu hören.
Fida rüttelte an der Klinke, rief ihren Bruder und hämmerte mit den blanken Fäusten auf das masive Holz ein.
Nichts.
Hinter der Tür blieb es still. Langsam wurde Fida sauer.
"Marko!", brüllte sie, nahm Anlauf und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Pforte.
Das Holz ächzte, Fida schrie vor Schmerzen auf und Mädchen und Tür krachten zusammen in das Zimmer.
Ein Stuhl, den Marko wohl unter die Klinke geklemmt hatte lag umgestürzt im Raum. Stöhnend rappelte Fida sich auf. "Ach je.", murmelte sie. Sie hatte einen Raum verwüstet. Sicher würde sie heute Abend Schläge bekommen.
Leise italienische Flüche murmelnd wischte sie sich in den Staub von den Kleidern und Haaren. Dann sah sie sich im Zimmer um.
Der kleine Raum, in dem ihr Bruder schlief, war das reinste Chaos.
Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, scheinbar wahllos verteilt. Der Schrank stand sperrangelweit offen. Markos Koffer waren weg. Fida schüttelte den Kopf und begann die herumliegende Kleidung einzusammeln. Sie hob ein schmutziges, blaues Hemd auf und ließ es sofort wieder vor Schreck fallen.
Unter dem Hemd war mit Kreide ein seltsames Symbol gemalt worden, eine Rune.
Fida kannte Runen, ihre Mutter hatte immer erklärt, Runen seien die Magie der Menschen.
Dämonen hätten ihre eigene Magie und nur Halbdämonen, oder Memonen, wie Sofia Bianco gesagt hatte, konnten beides nutzen. Mit zittrigen Fingern hob Fida ein Kleidungsstück nach dem anderen auf. Unter jedem kam eine neue Rune zum Vorschein, und das jüngste Mitglied der Bianco Familie nahm eines von Markos Hemden und wischte sie alle weg. Sie wollte nicht auch noch den Mönchen erklären müssen, wieso ihr Bruder magische Zeichen auf den Boden gekritzelt hatte.
"Marko?", zischte Fida, "Marko, ich bins, wo bist du?"
Sie erhielt keine Antwort. Dann fiel ihr Blick auf den offenen Schrank. Dahinter schien etwas Lilanes zu schimmern.
Neugierig stämmte sich Fida gegen den Schrank und schob ihn, vor Anstrengung ächzend, bei Seite. Die Wand sah seltsam aus. Ein lilanes Schimmern lag auf einer pechschwarzen Fläche.
Vorsichtig legte Fida ihre Hand darauf. Anders als erwartet fand sie keinen Widerstand vor und purzelte durch die steinerne Fläche. Fida wusste nicht, wo sie sich befand, aber es war sehr offensichtlich, dass es nicht mehr das Waisenhaus sein konnte.
Es war vollkommen dunkel. Nur einige Schritte weit konnte sie sehen. Dicke, fette Schneeflocken fielen vom Himmel und bedeckten langsam eine Fußspur, die sich in der Nacht verlor.
Fidas Gedanken rasten.
Wie war das möglich?
Tatsächlich hatte die Mutter ihr einmal von einem solchen Ort erzählt.
Sie hatte ihn Nordeis genannt.
Nordeis war ein Kontinent auf Tendämlow und dort, so Madame Bianco, lebten die Frostdämonen.
Wie hatte Marko es geschafft hierher zu kommen?
Selbst Sophia Bianco hatte zugegeben, dass es vollkommen unmöglich war ein Portal nach Tendämlow zu erstellen, selbst für Halbdämonen. Laut der Mutter war diese Fähigkeit einzig den Dämonen selbst vorenthalten. Die grauenhafte Kälte kroch über Fidas Haut und stach in ihr Fleisch.
Bibbernd machte das Mädchen kehrt und huschte zurück durch das Portal.
Die sommerliche Wärme des Waisenhauses empfing sie wie eine herzliche Umarmung.
Sie musste Marko da rausholen! Sonst würde er mit Sicherheit erfrieren!
Fida sprintete aus dem verwüsteten Zimmer ihres Bruders und eilte in die Richtung des Mädchenhauses. Rasch zog sie ihre wärmsten Wintersachen an, setzte sich eine Mütze auf, hüllte sich in ihre Jacke und rannte zurück. Wie durch ein Wunder traf sie keinen der Mönche. Vermutlich waren gerade alle in der Kapelle und zelebrierten das tägliche Mittagsgebet.
Fida konnte die Lobgesänge noch immer hören, als sie sich durch das Portal schob und den Schrank mit vor Nervosität zitternden Fingern wieder davor zog.
Wie lange das jetzt her war konnte Fida kaum erahnen. Stunden? Tage?
In der schrecklich Eiswüste und ihrer ewigen Nacht hatte sie längst jegliches Zeitgefühl verloren. Sie zitterte immer stärker. Ihre Beine wollten ihr Gewicht nicht mehr tragen und drohten nachzugeben.
Fida war restlos verzweifelt.
Sie streckte ihre bereits bläulich angelaufen Hände vor sich aus und krümmte die steifgefrorenen Finger zu einer Schale. Tief holte sie Luft. Die Kälte brannte in ihren Lungen. Sie schloss die Augen und tat, was sie seit Jahren vermieden hatte.
Mit einem freudenlosen Grinsen dachte sie, dass Sofia Bianco wohl stolz gewesen wäre.
Es begann als warmes Kribbeln in Fidas Fingern. Ihre Iriden läuchelten orangerot, wie frische Glut. Das blau verließ die Finger und die Steifheit verflog.
Kleine Flämmchen begannen über ihre Fingerspitzen zu tanzen, nur um sofort wieder von dem spöttischen Wind ausgepustet zu werden.
Fida schloss die Augen und konzentrierte sich auf Erinnerungen an eine vergangene, bessere Zeit.
Sie war mit Marko und der Mutter vor dem prasselnden Kamin in Venedig gesessen und Marko hatte mit seinem Weihnachtsgeschenk gespielt. Es war ein Set kleiner Holzsoldaten gewesen, für das Sofia ein ganzes Jahr gespart hatte. Plötzlich war einer der Soldaten, ein preußischer mit Pickelhaube, in den Kamin gerollt. "Nein! Der General! Nein!", hatte Marko gerufen und nur Sofias Arme hatten ihn davon abgehalten dem Figürchen nachzuspringen. Fida, zu diesem Zeitpunkt nur fünf Jahre alt, war zum Kamin gelaufen, hatte die Hand hinein gesteckt und den Holzsoldaten aus den leuchtenden Flammen gezogen. Das Feuer hatte ihre Haut nicht einmal versengt. Ein kleines bisschen war der Soldat im Kamin angekokelt worden, doch er war noch intakt.
Ein sehnsüchtiges Lächeln kroch auf Fidas Gesicht und ihre Hände prickelten.
Sie riss die Augen auf, ihre Iriden leuchten, wie kleine Feuer. Aus ihren Händen schoss eine Stichflamme empor.
"Ja!", juchzte Fida und warf die Flamme in die eisige Luft. Das Feuer sauste um die junge Memonin herum, wie ein schillernder Vogel, der das Dunkel vertreibt, und wärmte sie von allen Seiten. Fida lachte und rannte los. Die Wärme kehrte in ihre Glieder zurück und vertreib die Steifheit restlos.
"Ich bin eine Memonin!", schrie Fida in den schneidenden Wind. Wie um ihr zuzustimmen wurde die Flamme größer.
"Mein Eltern sind das magisch Medium Madame Bianco und ein Dämon!"
Der Schnee um Fida herum wurde matschig, als er begann zu schmelzen.
"Ich bin zur Hälfte Feuerdämon!"
Das Eis in ihren Haaren taute.
"Du kannst mich nicht aufhalten, Nordeis, du kalter Fisch, du ehlender!"
Ein Knacken ertönte.
Unter Fidas Stifeln brach eine Eisplatte und sie fiel in ein Loch.
Ein panischer Schrei zerriss die nächtliche Stille des Kontinents Nordeis.
Die Flamme erlosch.
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