• ZWEI •
Erschrocken stolpere ich zur Seite, als eine Gruppe junger und sehr betrunkener Touristen mittig durch den Gang stürmt. Zumindest gehe ich davon aus, dass es sich um Touristen handelt. Während sie sich entfernen, werden ihre New-York-City-Baby-Rufe leiser. Entweder, sie haben sich das verschlafene Connecticut schön getrunken und denken, sie befinden sich in besagter Metropole, oder...
Nein, das kann einfach nicht sein. Das ist nicht möglich!
Mit schwitzigen Händen und rasendem Puls blicke ich mich um, auf der Suche nach irgendeinem Indiz, dass ich mich in meiner Heimat und NICHT im verdammten New York befinde.
»Hey, geht es Ihnen nicht gut?«, ertönt eine Stimme irgendwo in meiner Nähe. Suchend blicke ich mich um, bis meine Augen schließlich an einer Frau mittleren Alters hängen bleiben, die meinen wirren Blick erwidert.
»Wo sind wir? New York City?«, frage ich sie mit zitternder Stimme. Etwas irritiert nickt sie und ich kann in ihren Augen sehen, dass sie sich gerade fragt, ob ich nicht ein Rad weg habe. Oder vielleicht sogar mehrere.
So ruhig es mir möglich ist, versichere ich ihr, dass bei mir alles in Ordnung ist und frage, wo ich ein Taxi finden kann. Nachdem sie mir den Weg beschrieben hat, verabschiede ich mich knapp und gehe.
Ich rausche stolze drei Mal am richtigen Ausgang vorbei, bis ich endlich den Taxi-Stand erreiche. Doch als ich endlich auf die gelben Autos starre, die vor mir in einer Reihe stehen, fühle ich mich einfach nur verloren.
Wo soll ich überhaupt hinfahren? Ich kenne keine einzige Seele hier! Außerdem ist das Ganze hier wirklich peinlich – ich meine, wer landet schon aus Versehen in New York City?! Das ist einfach nur armselig. Anscheinend ist mir ein Fehler bei der Buchung meines Fluges unterlaufen. Da ich mich im Voraus nicht um ein Rückflugticket gekümmert hatte, als ich nach Washington aufgebrochen war, musste ich das Ticktet sehr kurzfristig buchen. Scheint, als wäre ich dabei eine Spur zu durcheinander gewesen. Grüße gehen raus an Eric.
Um mich herum herrscht reges Treiben, welches ich von Daheim gar nicht gewohnt bin. Businessleute eilen an mir vorbei, ihre glänzenden Hartschalenkoffer hinter sich herziehend, dann folgt eine Mutter mit drei Kindern, die offensichtlich alle Hände damit zu tun hat, auf ihre Kleinen aufzupassen und den Wagen mit dem Gepäck zu lenken.
Lautes Hupen ertönt, als ein Auto nur sehr knapp an einem der stehenden Taxis vorbei rast. Etwas weiter entfernt stehen zwei Musiker mit akustischen Gitarren, wobei einer von ihnen singt. Das Lied erkenne ich zwar nicht wieder, dafür den großen, blonden Mann, der mit verschränkten Armen vor ihnen steht und zusieht. Es ist der unfreundliche Kerl von vorhin, der mir im Flugzeug seine Schokoladenseite präsentiert hat. Blödmann.
Schnaubend wende ich mich ab und marschiere auf eines der Taxis zu, meinen kaputten Koffer hinter mir herziehend. Zaghaft beuge ich mich schließlich herunter und klopfe an der Scheibe, woraufhin die Fahrerin aufsieht. Sie kurbelt die Scheibe herunter und schenkt mir ein breites Grinsen, welches sofort mein Herz erwärmt. Genau das brauche ich gerade nach diesem beschissenen Tag. Oder vielleicht auch nicht, wenn man bedenkt, dass sich im Angesicht ihrer Freundlichkeit prompt ein Kloß in meiner Kehle bildet. Am liebsten würde ich ihr hier und jetzt mein Herz ausschütten, kann mich aber gerade noch so davon abhalten. Heute habe ich bereits genug von meiner Würde einbüßen müssen, da sollte ich es wirklich nicht auf die Spitze treiben.
Sie fährt sirrend die Scheibe herunter und steckt den Kopf heraus. »Magst du mitfahren?«, fragt sie, immer noch breit lächelnd, wobei ich eine wirklich gute Aussicht auf ihren zerknatschten Kaugummi im Mund bekomme. Ich nicke und antworte: »Ja, bitte.«
Sie nickt und lässt das Fenster wieder hochfahren. Anschließend steigt sie aus und kramt eine zerdrückte Zigarettenschachtel aus ihrer hinteren Hosentasche. »Was dagegen, wenn ich vorher eine rauche?« Ich würde zwar lieber jetzt als später losfahren, doch trotzdem nicke ich. Sie war wirklich nett zu mir, ich sollte ihr also ruhig ihre Zigarettenpause lassen können.
»Bist du von hier?«, will die junge Frau wissen, während sie sich eine lange, dünne Zigarette zwischen die Lippen klemmt. Ich schüttle den Kopf. »Nein, Connecticut.« Mehrere Male klickt ihr Feuerzeug, als sie vergeblich versucht, den Stängel anzuzünden. Irgendwann gibt sie auf und schüttelt das Plastikteil frustriert. »Scheißding!«, nuschelt sie und versucht es ein weiteres Mal. ›Toll, wenn das so weitergeht, stehen wir noch bis morgen da‹, denke ich resigniert.
Irgendwann gelingt es ihr endlich, einen winzigen Funken zu verursachen und damit die Zigarette anzuzünden. Das erleichterte Aufatmen verkneife ich mir.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragt sie und nimmt dann einen Zug. »Äh, Callah«, stammele ich. Sie nickt und bläst den Tauch durch die Nasenlöcher aus. »Cool, cool. Ich bin Jordie«, stellt die Frau sich ihrerseits vor.
Eine Weile stehen wir noch schweigend beieinander, sie an den Wagen gelehnt, ich krampfhaft den Grifft meines Koffers umklammernd. Irgendwann wirft Jordie den Stummel zu Boden und tritt die Glut mit ihrem verdreckten Turnschuh aus. Geschäftig klatscht sie in die Hände und ruft: »Alles klar, dann mal alles an Board!« Bevor ich protestieren kann, schnappt sie sich mein Gepäck, öffnet den Kofferraum mit einer Hand und wirft das Stück in einer fließenden Bewegung hinein. Bei dem darauffolgenden Rumpeln zucken wir beide kurz zusammen und sie sagt zerknirscht: »Naja, ich hoffe, da war nichts Zerbrechliches drinnen.«
Ich winke ab und beruhige sie: »Nein, alles gut. Die Vasen meiner Großmutter habe ich mal zu Hause gelassen.« Kurz sieht Jordie mich perplex an, dann wirft sie den Kopf in den Nacken und lässt ein schallendes Lachen erklingen. Mit Tränen in den Augen richtet sie den beringten, in Schwarz lackierten Zeigefinger auf mich und japst: »Du gefällst mir!«
Gegen das kleine Lächeln, welches an meinen Mundwinkeln zupft, kann ich nichts tun. Schließlich gibt sie mir durch einen Wink mit dem Kinn zu verstehen, dass ich einsteigen soll.
Sobald wir beide angeschnallt im Wagen sitzen, fragt Jordie: »Gut, Prinzessin, wohin soll die Reise denn gehen?«
Eine einfache Frage... und doch habe ich die Antwort nicht parat. »Äh... i-ich weiß es nicht«, stammele ich mit heißen Wangen. Kurz heben sich ihre akkurat gezupften Brauen, als hätte sie plötzlich etwas sehr Interessantes in meinem Gesicht entdeckt. Dann zuckt sie die Schultern und sagt: »Alles klar, dann lassen wir's einfach auf uns zukommen.«
Jordie verliert keine Zeit und braust in erstaunlichem Tempo aus der Parklücke. Hoffentlich ist ihr Fahrstil nicht auch im Straßenverkehr so rasant.
Doch leider soll ich in dieser Hinsicht enttäuscht werden: Die junge Taxifahrerin manövriert uns mit einer Schnelligkeit, die selbst einen Formel-1-Fahrer vor Neid erblassen lassen würde, durch die Straßen New York Citys. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich beängstigt, oder einfach nur beeindruckt sein soll.
Jordie scheint meinen inneren Zwiespalt zu bemerken, denn mit einem kurzen Blick zu mir sagt sie: »Keine Sorge, Schätzchen, ich mach das hier jeden Tag. Du kommst in einem Stück am Ziel an, wo immer das auch sein mag.« Das wage ich zu bezweifeln.
»Und? Wie sieht's bei dir aus? Freund, Ehemann, Geliebter?«, fragt Jordie in unbeteiligtem Tonfall, während sie über eine rote Ampel brettert. Ich räuspere mich und antworte leise: »Nein. Nichts davon.« Nicht mehr zumindest.
Sie nickt und zuckt gleichzeitig die Schultern. »Ist auch besser so. Ungebunden und frei sein ist zu geil, um es nicht haben zu wollen.«
»Ich fand es ganz schön, gebunden zu sein«, rutscht es mir plötzlich heraus und ich presse die Lippen aufeinander. Jordie schenkt mir einen skeptischen Seitenblick und ich würde am liebsten rufen ›Schau auf die Straße!‹, verkneife es mir jedoch mühsam.
Sie schnaubt und sagt: »Du klingst ja, als hätte dein Typ dich sitzen lassen, oder sowas.«
Schneidende Kälte flutet meine Adern, fließt durch meinen Körper und sammelt sich zu einem harten Eisklumpen in meinem Herzen. Jordie fällt auf, dass ich schweige. Ich richte meinen Blick stur nach vorne und versuche, mir das Nummernschild des Autos vor unserem einzuprägen. Nicht dran denken, Callah, einfach nicht dran denken...
»Oh, mein Gott... ich hatte recht, nicht wahr?!«, ruft sie plötzlich und ich zucke zusammen.
»Er hat mich betrogen. Ich habe ihn erwischt«, sage ich schließlich tonlos. Warum ich da tue, weiß ich nicht. Im Grunde genommen wollte ich das gerade eben gar nicht sagen. Die Worte sind einfach wie Trockeneis aus meinem Mund geschwebt, leise, sanft, unkontrollierbar.
»Scheiße. Das ist... Scheiße!«, ruft sie schließlich empört. ›Treffender hätte ich es gar nicht ausdrücken können‹, denke ich ironisch.
Jordie hält einen Zeigefinger spitz in die Höhe und zischt: »Jetzt sag mir bitte nicht, dass er's mit deiner Freundin getrieben hat, oder sowas!«
Wirklich traurig, wie sich mein Leben gerade sämtlicher Klischees bedient. Wenn es nicht so armselig wäre, würde ich sogar darüber lachen.
»Eine alte Schulfreundin. Ich wollte ihn an unserem Hochzeitstag in D.C. überraschen, dann kam plötzlich Julie in die Tür spaziert. Juhu.« Den immer dicker werdenden Kloß in meinem Hals schlucke ich energisch herunter.
»Wow, ich weiß gerade gar nicht mehr, was ich dazu noch sagen soll... und das mag was heißen!« Das glaube ich ihr gern.
Ich habe keine Ahnung, weshalb ich mich dieser leicht überdrehten Taxi-Fahrerin, einer Fremden, anvertraut habe. Und viel besser fühle ich mich dadurch auch nicht gerade. Trotzdem ist das hier – mit der scheinbar lebensmüden Jordie in diesem Auto zu sitzen und gefühlten hundert Sachen durch die Straßen New Yorks zu brettern – wesentlich besser, als die Alternative.
Die Alternative wäre nämlich, mich einsam und allein in irgendeinem drittklassigen Hotelzimmer volllaufen zu lassen und Eric hinterher zu trauern.
Doch ich weigere mich, jemandem meine Tränen zu widmen, der nicht einmal meine Spucke wert wäre.
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