5. Kapitel
»Hast du nach einem Tag wirklich schon genug vom Unterricht?«, fragte Jim misstrauisch und leicht beleidigt am nächsten Morgen, als Gregory ihm von seinem heutigen Vorhaben erzählte - einen gewissen, gar nicht so unfreundlichen Schulsprecher ließ er dabei natürlich aus dem Spiel, da er selbst noch nicht wusste, was er von der ganzen Sache halten sollte.
»Sag denen einfach, ich hab Kopfschmerzen oder so. Jedenfalls bewege ich mich heute nicht hier weg.«
»Dürfte ich dafür auch den Grund erfahren, wenn du nicht mal wirklich krank bist?«
Schweigen. Nervös starrte Gregory auf den Boden, um seinen sehr neugierigen Mitbewohner nicht ansehen zu müssen; dem konnte man aber auch wirklich nichts verheimlichen! Außerdem hing er ja sowieso die ganze Zeit ohne erdenklichen Grund an Gregors Rockzipfel. Er seufzte und stand dann doch auf, um seine Uniform anzuziehen.
»Schon gut, ich geh heute doch zum Unterricht. Da will man ein Mal ausschlafen … Ob wir's noch zum Frühstück schaffen?«
»Ich hab Sebby gebeten, was für uns zurückzulegen.«
Langsam erhob sich diese kleine Diva und stand mit verschränkten Armen da, bis Gregory vollständig angezogen war und sie schnell in den Frühstücksaal liefen; zum Glück war kein Lehrer in der Nähe, sonst hätte das sicher eine fette Standpauke gegeben - apropo, was Mycroft wohl davon hielt, wenn Greg jetzt doch zum Unterricht ging? Oder war das gestern vielleicht nur eine leere Geste gewesen, damit er aufhörte rumzuheulen? Egal, wie oft er darüber nachdachte, es wollte dem Schüler nicht richtig in den Kopf - er hatte gestern nicht mal mehr richtig schlafen können, deshalb. Innerlich seufzend setzte er sich zu John, Sherlock und Sebastian an den Tisch, Jim fröhlich summend neben sich. Wie konnte man morgens um sieben nur so fröhlich sein? Die gute Laune seines Mitbewohners war ihm unbegreiflich.
»Wo habt ihr zwei so lange gesteckt? Ihr müsst euch jetzt echt beeilen«, meinte John und schob gleichzeitig seinen Teller etwas zur Seite, damit Sherlock sich nicht an dem halben Marmeladenbrötchen, das darauf lag, vergreifen konnte - jener Schwarzhaarige verdrehte kurz die Augen und schnappte sich schließlich einfach Johns Kaffeetasse, wahrscheinlich als kleiner Ausgleich.
»Unser Greg-Schätzchen hier wollte schon am zweiten Tag schwänzen und ich mich allein hier zurücklassen«, sagte Jim spitz und griff nach einem Crossiant, das auf einem Teller in der Mitte des Tisches stand; bestimmt das Essen, was Sebastian dieser Engel für sie aufgehoben hatte. Gregory griff ebenfalls nach so einem Gebäckstück und knabberte etwas lustlos daran; nicht nur, dass ihm das üppige Essen hier schon nach drei Tagen zuviel war, er hatte einfach keinen Hunger und große Lust, sich wieder ins Bett zu legen.
»Ich kann dich verstehen, der Unterricht hier ist echt brutal.«
Sebastian rührte ein Stück Zucker in seinen Tee und schlürfte dann ein bisschen von jenem. Greg zuckte bloß kraftlos die Schultern und seufzte.
»Keine Ahnung, mir fehlt einfach die … Motivation. Würde mich am liebsten für den Rest des Schuljahres im Bett verkriechen.«
»Klingt ganz nach einer kleinen Herbstdepression«, meinte Sebby darauf, stellte die leere Teetasse ab und stand dann auf.
»Jedenfalls musst du hier echt aufpassen, sonst rutscht dein Notendurchschnitt ganz schnell ab. Bis später dann, ich hab jetzt ne Freistunde und hau mich nochmal hin.«
»Unfair!«
Beleidigt verpasste Jim dem Elftklässler einen Klapps auf den Arm und schmollte mal wieder, wie ein kleines Kind. Greg tätschelte ihm darauf leicht die Schulter, legte sein nur leicht angeknabbertes Crossiant zurück auf den Teller und stand ebenfalls auf.
»Sorry, ich muss auch los - Chemieunterricht. Wir sehen uns heute Mittag, falls ich bis dahin nicht die Schule abgefackelt habe.«
Schnellen Schrittes verließ er also den Saal und erbrach kurz darauf im Waschraum das wenige Frühstück, was er eben zu sich genommen hatte - es ging ihm wohl wirklich nicht so gut. Vor allem aber lag das sicher daran, dass er aus irgendeinem Grund immer wieder an seinen Stiefvater denken musste.
Im Chemiesaal roch es nach verbranntem und ein paar Chemikalien, die Gregory nicht ganz zuordnen konnte und die Tisch waren aus Metall und, wie bei seiner alten Schule, auf dem Boden verankert; er hatte noch nie so recht verstanden, wozu das gut war. Denn gerade wenn ein Experiment schief ging, sollten alle Schüler so schnell wie möglich fliehen und nicht etwa gegen im Weg stehende Tische laufen. Da in diesem Kurs keiner seiner Bekannten war - Sherlock hatte dieses Fach erst jeden Freitag, fünfte Stunde, genau wie John - ließ er sich auf einen Platz ganz vorn beim Lehrerpult sinken und und knallte sein Buch, plus Block und Stift auf den Tisch. Natürlich, so wie er gedacht hatte, setzte sich bei diesem unter Beobachtung stehenden Platz kein Mensch zu ihm und so hatte er den Tisch schön für sich allein, als es zur Stunde klingelte; heute war ihm sowieso nicht danach, mit irgendwem zu sprechen, besonders nicht nach diesem Debakel gestern mit Mycroft - er wusste einfach nicht, wie er sich jenem gegenüber jetzt verhalten sollte, geschweige denn, wie der Schulsprecher zu ihm stand. Fand er ihn nun ganz in Ordnung, hasste Gregory ihn eigentlich und wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn bloß zu stellen … Er konnte es nicht sagen und auch nicht richtig darüber nachdenken, da die anderen Schüler noch laut quatschten und lachten; der Lehrer verspätete sich bestimmt. Na ja, irgendwie war es ja auch Gesetz, dass Leute, die Chemie unterrichteten, nicht mehr alle Reagenzgläser in der Halterung hatten - Greg konnte sich da sicherlich noch auf was gefasst machen. Es vergingen zehn Minuten und langsam geriet die Situation - ohne Lehrer im Chemieraum mit Zugang zu allen Materialien - außer Kontrolle. Spätestens, als ein ein rothaariger, schlanker Junge den Bunsenbrenner anzündete und die Haare seines besten Freundes abfackeln wollte, war alles zu spät. Gutmütig wie er war, sprang Gregory auf und stellte sich dazwischen.
»Hey, was soll denn das?«, fragte der Rothaarige und machte einen Schmollmund - auf eine seltsame Weise war er Jim wirklich ähnlich oder zumindest genauso verrückt. Gregory kam nicht mehr dazu, zu antworten, den in diesem Moment öffnete sich die Tür, MYCROFT HOLMES kam herein und knallte seine Sachen auf den Lehrertisch, bevor er sie alle mit vor Wut funkelnden Augen ansah; Gregory gefror augenblicklich das Blut in den Adern und seine Hände begannen leicht zu zittern.
»Nick Wintergreen, du stellst jetzt sofort den Bunsenbrenner weg und setzt dich wieder hin. Ihr anderen auch, sonst könnt ihr den Rest der Stunde beim Direktor verbringen.«
Augenblicklich herrschte Schweigen und alle taten wiederstandslos, was er wollte. Zufrieden setzte der Elftklässler sich an den Lehrerpult und musterte sie unverholen, bis sein Blick an Gregory hängen blieb, der peinlichst versuchte, auf den Tisch zu starren; diese Situation machte ihn wirklich nervös und in ihm drehte sich alles.
»Na also, geht doch. Jedenfalls muss ich euch mitteilen, dass euer eigentlicher Lehrer - Mister Stone - heute einem Fieber erlegen ist und dass ich heute als seine Vertretung fungiere. Dann lasst uns anfangen.«
Das Schicksal war wohl wirklich eine miese Bitch, wurde Gregory klar; dabei hatte Sebastian, der ja mit Mycroft in der selben Stufe war, heute morgen noch gesagt, dass er eine Freistunde hatte! Hätte er die Zeichen nur schon früher gedeutet … Dann säße er jetzt nicht mit Mycroft Holmes im Chemieraum, sondern auf seinem Bett, die Nase ihn ein Buch vertieft. Dabei verlief die Stunde eigentlich nicht mal so schlimm; der Schulsprecher schrieb zwei kleine Tafelbilder an, erklärte das für nächste Woche anstehende Experiment und stellte ein paar kleine Fragen, die leicht zu beantworten waren, wenn man zuhörte - was unser lieber Hauptrotagonist eben nicht tat, als er dann tatsächlich dran kam.
»Ich weiß die Antwort nicht«, stammelte er gleich frei heraus, obgleich er dessen etwas verlegen war - immerhin schien es Eigentum gar nicht so schwer zu sein, wenn man mal nachdachte. Mycroft zog bloß eine Augenbraue hoch, musterte ihn kurz kritisch und wendete sich dann einem anderen zu. Bald war die Stunde zum Glück auch schon zu Ende und Gregory schnappte sich hastig seine Sachen, um schnell durch die Mitte verschwinden zu können; doch nichts da, denn Mycroft packte ihn in letzter Sekunde am Ärmel und zog ihn zurück.
»Du nicht«, zischte er voller Verachtung.
»Ihr anderen könnt gehen.«
Ein neugieriges Flüstern enstand, bis alle Neuntklässler den Raum verlassen hatten und Gregory fühlte sich sofort unwohl; in seinem Bauch kribbelte es und er hätte sich sicher übergeben, wenn das Frühstück ihn nicht schon vor dem Unterricht wieder verlassen hätte. Der Schulsprecher schloss die Tür und jetzt waren sie wieder allein … Genau wie gestern Abend. Verdammt, warum hatte jetzt niemand hier Chemieunterricht?! Und musste Mycroft nicht auch weiter, zu seiner zweiten Stunde? Gregory selbst hätte jetzt eigentlich Englisch, abet darauf konnte er jetzt wirklich gut verzichten, wenn auch nicht unter diesen blöden Umständen.
»Warum bist du hier und nicht auf deinem Zimmer, hm?«
Mycroft verschränkte die Arme und setzte sich auf den Lehrertisch, was seine Erscheinung nur noch vergrößerte.
»Ich …«, stotterte Gregory nervös und starrte auf den Boden.
»Mein Mitbewohner wollte nicht, dass ich am zweiten Tag gleich krank spiele. Deshalb bin ich doch noch aufgestanden.«
»Hast du wenigstens was gegessen?«
Gregory nickte leicht.
»Ja … Ein wenig.«
»So siehst du aber nicht aus. Geh am Besten sofort zurück in den Wohntrackt, bevor noch etwas passiert.«
Mycroft raufte sich durch die Haare.
»Also echt, das ist ja schlimmer als im Kindergarten mit euch Neuntklässlern.«
»Warum hilfst du mir denn dann?!«
Schweigen. Mycroft antwortete nicht und sah ihn herabschätzig an.
»Weil du offensichtlich hilfloser bist, als du zugibst.«
Er streckte den Arm aus, doch Gregory wich zurück; sein Atem war etwas unkontrolliert und er zitterte wieder.
»Genau wie ich es mir gedacht habe. Du spielst vielleicht den Starken, aber in Wirklichkeit bist du wie ein Kind, das es nicht mal schafft, sich richtig um sich selbst zu kümmern. Irgendwer muss das aber übernehmen, damit du nicht völlig den Bach runter gehst.«
Es ließ sich schwer einordnen, ob seine Stimme kalt oder Wut unterdrückend war; jedenfalls stand Gregory einfach nur still da und schaute auf den Boden - jegliche Verteidigung hatte er aufgegeben. Mycroft hatte nämlich recht. Jener seufzte nur wieder und musterte ihn kritisch.
»Aber«, fuhr er fort, »wenigstens bist du nicht zu dumm und stellst dich jeder Situation. Ich habe keine Ahnung, warum du hier gelandet bist und ich möchte es auch nicht wissen, doch zumindest ist es hier jetzt nicht mehr ganz so langweilig.«
Er wandte sich zur Tür und legte eine Hand auf die Klinke.
»Komm, du siehst nicht gut aus. Ich bring dich in dein Zimmer.«
Gregory wollte ihm schnell folgen und diese ganze Sache nur noch hinter sich bringen, aber da hatte er falsch gedacht; in seinem Magen herrschte Krieg, ihm war total schlecht und eher er sich versah, würgte und hustete er, was das Zeug hielt. Selbst, dass er sich die Hand vor dem Mund schlug, machte es nicht besser und seine leicht gebliche Galle - die als Ersatz für das nicht mehr vorhandene Frühstück diente - tropfte auf den Boden.
»Hey!«
Mycroft trat an seine Seite und fasste ihn an die Schulter; jetzt war auch er etwas hektisch und in seine Augen trat eine Mischung aus Ekel und Besorgnis. Während Greg also weiterhin auf den Boden des Chemieraums kotzte, hielt der Schulsprecher persönlich ihm eine Moralpredigt alá:
»Verdammt, warum konntest du nicht einfach im Bett bleiben, wenn es dir nicht gut geht! Inzwischen könntest du schon die halbe Schülerschaft angesteckt haben! Genau das meine ich mit kindisch! Du merkst echt nicht, wann Schluss ist!«
So ging es zehn Minuten, bis Gregory erschöpft auf den Boden sank und stoßweise atmete. Er wischte sich über den Mund und begann langsam wieder, sich zu beruhigen.
»Tut mir leid …«, flüsterte er und begutachtete den eingesauten Boden.
»Ich mach's wieder weg.«
»Oh nein, du machst heute gar nichts mehr! Außerdem hast du mich mit dem Essen angelogen, denn ich sehe hier kein bisschen davon!«
»Ich sag doch, tut mir leid … Aber ich hab wirklich was gegessen, es ist nur nicht bis zum Unterricht drin geblieben.«
»Und dann gehst du noch zur ersten Stunde?! Wie dumm bist du denn bitte?«
»Ich sag ja, tut mir leid … Außerdem wusste ich nicht, ob du das gestern wirklich alles ernst gemeint hast. Immerhin kannst du mich nicht mal leiden.«
»So hab ich das nie gesagt und das tut jetzt auch nichts zur Sache: natürlich hab ich das ernst gemeint und wehe, du fängst jetzt wieder an zu heulen!«
»Uhhh.«
Die ersten Tränen liefen schon über Gregorys Wangen, als er jetzt aufsah und in seinen Augen lag ein gequälter Ausdruck.
»Nicht dein Ernst … Bitte sag jetzt nicht, du heulst schon die ganze Zeit.«
»Was soll ich den machen?«, schniefte er und wischte sich die Tränen an seinem sowieso schon konterminierten Ärmel ab.
»Ich kann halt nicht anders und bin eine Heulsuse, ein Kind. Wie du es gesagt hast …«
»So war das jetzt auch nicht gemeint! Ach … Weißt du was, vergiss es! Ich bring dich jetzt zur Schulschwester und-«
»Nein, auf keinen Fall! Bitte, nur nicht dahin!«
»Wie bitte?! Du hast diesen ganzen Ärger doch angezettelt, jetzt lass dir wenigstens helfen!«
»Bitte …«
Gregory sah ihn flehentlich an.
»Ich will nicht, dass meine Eltern informiert werden. Alles nur das nicht. Ich schwöre, ich mach auch alles, was du-«
»Schon gut«, unterbrach Mycroft ihn barsch und stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich soll jetzt also deine Kotze wegwischen und dich einmal heimlich durch die ganze Schule schmuggeln, damit keiner was merkt. Sonst noch was?«
Schweigen. Zögerlich schüttelte Gregory den Kopf, was Mycroft dazu brachte, dir Augen zu verdrehen.
»Du schuldest mir dann aber echt was …«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro