
Epilog
Ich wische mir eine Träne aus dem linken Auge, nachdem ich den letzten Satz vorgelesen habe.
Jedes Mal überkommen mich die Gefühle, wenn ich diesen Augenblick zwischen mir und Harry lese.
Eigentlich sollte ich vor Freude weinen, da ich an diesem Abend ein Abenteuer mit meiner Liebe begonnen hatte, doch jetzt spüre ich nicht das Gefühl, welches Harry mir gab, als er mit mir flüchten wollte, jetzt spüre ich unendliche Sehnsucht.
Damals vollzogen wir unsere Flucht wie geplant, wir gingen in das Lager zurück und versicherten uns darüber, dass alle schliefen.
Wir holten unser Gepäck und Proviant und huschten so schnell wir konnten wieder aus den Zelten.
Doch als Harry mich an der Hand nahm und mit mir weglaufen wollte, hielt ich ihn fest und blickte ihm tief in die Augen: "Annel. Ich muss mich noch verabschieden."
"Gut, dann geh, aber weck sie nicht auf!"
Zustimmend nickend löste ich meine Hand von seiner und lief zu Zayns Zelt. Ich wusste, sie schlief bei ihm, denn wenn ich nicht in unserem Zelt war, fürchtete sie sich und ging zu Zayn, denn bei ihm fühlte sie sich wohl.
Ich Zelt sah ich sie. Ihr Kopf lag auf Zayns Unterarm und sie wirkte absolut geborgen.
Es rührte mich, sie so zu sehen. Ich ging auf sie zu und drückte ihr sanft einen Kuss auf die Schläfe. "Pass gut auf dich auf, kleines Annelchen. Ich hab dich furchtbar lieb."
Ich muss schnell das Zelt verlassen, denn ich war kurz davor, laut aufzuschluchzen, wodurch jemand wach werden konnte.
Als ich bei Harry war, wusste er wohl, wie hart mir der Abschied ankam, also nahm er mich fest in den Arm und strich mir über den Rücken.
"Werden wir sie jemals wieder sehen?", fragte ich ihn.
"Natürlich. In ein paar Jahren werden wir in dein Zuhause zurückkehren und da wird sie bestimmt auch sein.", tröstete er mich.
Ich löste mich von ihm und lächelte ihn schwach mit verweinten Augen an.
"Komm mit mir.", flüsterte er und nahm mich wieder an der Hand.
...
"Frau Dorner?", fragt mich ein kleines Mädchen aus dem Publikum und riss mich aus meinem Rückblick. Beinahe alle Kinder haben angefangen zu weinen, während ich Ihnen mein Buch vorgelesen hatte, so auch sie
"Wo ist Annel jetzt?"
"Annel und Zayn haben sich irgendwann verliebt. Sie war 17 und er 23. Ich habe nach ein paar Jahren eine Hochzeitseinladung im Briefkasten gefunden. Die beiden haben geheiratet und vier Kinder in die Welt gesetzt."
"Was ist aus Ihnen und Harry geworden?"
"Mein Harry ist nicht mehr in meinem Leben, ich weiß also nicht, was aus ihm schlussendlich geworden ist."
"Wo ist er?", fragt sie wieder.
Tränen sammeln sich in meinen Augen, ehe ich antworten kann. Es viel mir schwer darüber zu reden, obwohl ich jedesmal, wenn ich eine Lesung halte, darauf angesprochen werde.
"Nach ein paar Jahren wollten Harry und ich Kinder. Kinder zu bekommen war mein größter Wunsch im Leben. Wir haben es oft versucht, aber es funktionierte nicht. Harry drängte mich ständig, einen Arzt aufzusuchen, doch ich wollte die Realität nicht hören. Doch irgendwann war es so weit. Wir beide gingen zu einem Doktor, der meinen schlimmsten Albtraum wahr machte. Ich konnte keine Kinder bekommen, da der Vibrator in mir eine Infektion auslöste."
Alle Kinder im Raum ziehen überrascht die Luft ein und warten gespannt darauf, was ich als nächstes zu erzählen habe.
"Harry jedoch war der Meinung, dass seine guten Gene weitergegeben werden mussten, also war ich ihm weniger wichtig, als seine Nachfahren. Und ich kann ihm nicht böse sein, denn ich hätte ihn auch für meine Kinder verlassen."
Noch nie zuvor sprach ich so offen über das, was passiert war, doch es fühlt sich gut an, sich alles von der Seele reden zu können, alles, was mich schon seit 32 Jahren so sehr belastete.
"Er verließ mich und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört."
Ich wische mir mit einem Taschentuch über mein Gesicht, bevor ich weitererzähle.
"Er war meine erste Liebe und gleichzeitig meine letzte, denn ich habe nie wieder jemanden geliebt. Und alles, was mir im Leben bleibt, ist Grundschulen zu besuchen und den Kindern dort von meiner Jugend vorzulesen."
"Wie alt bist du denn jetzt?"
"Einundfünfzig."
"Bist du denn ganz alleine?", fragt ein Junge.
"Nein, ich habe einen Hund", lachte ich traurig auf, "der wird aber auch bald das Zeitliche segnen... und dann bin ich ganz alleine."
"Sei nicht traurig, wir kommen dich besuchen!", versucht ein anderes Mädchen vergeblich, mich aufzumuntern.
Ich lächele sie dankbar an und war gerührt von der Gutmütigkeit der Kinder.
"Frau Dorner, ich danke Ihnen für diesen Besuch.", meldet sich die Klassenlehrerin zu Wort und stellt sich neben mich.
"Leider ist die Zeit schon fast vorbei, die sie bei uns verbringen. Doch bevor sie uns verlassen, möchte sich die Klasse 4b noch bei Ihnen bedanken. Mit diesem Brief."
Sie händigt mir einen Brief aus und scheint von mir zu verlangen, ihn sofort zu öffnen.
Ich reiße den Umschlag auf und ziehe zwei Briefe heraus. Der erste ist von den Kinder geschrieben. In beinahe unleserlicher Schrift steht geschrieben:
'Liebe Frau Dorner,
Danke für Ihren Besuch bei uns. Es war schön, die Geschichten von Ihnen und Harry, über die wir schon so oft im Unterricht geredet haben, von Ihnen persönlich zu hören. Was aber noch schöner ist, ist, dass das letzte Kapitel noch lange nicht geschrieben ist."
Ein wenig verwirrt hebe ich den Kopf und lächle in die Runde der Kinder, die mich über beide Ohren anstrahlen.
Ich lege den ersten Brief zur Seite und widme mich dem zweiten und lese laut vor:
'Tagebucheintrag vom 2.5.1980:
Jeder Tag ohne sie schmerzt ein wenig mehr. Und jeden Tag, den ich ohne sie verbringen muss, treibt mich weiter in den Selbsthass. Ich war so dumm! Ich war SO dumm! Sie hätte mir alles geben können, gut, beinahe alles. Aber es war mir nicht genug. Mein Egoismus trieb mich weg von ihr und was habe ich jetzt? Nichts. Ich Dummkopf dachte mir, ich würde mein Lebensziel mit einer anderen Frau erreichen, doch stattdessen sitze ich jeden Abend mutterseelenalleine in einer alten Hütte und schreibe meine Gefühle ihr gegenüber auf.
Ich vermisse dich. Vorgestern, heute, übermorgen, immer!
Ich liebe dich, Anne."
Den letzten Satz des Tagebucheintrags lese ich nicht alleine laut vor. Ein anderer stimmt mit ein und diese Stimme kenne ich zu gut.
Langsam drehe ich mich in die Richtung der Stimme und sehe ihn. Dort steht er und hat Tränen in den Augen. Ohne den Blickkontakt mit ihm abzubrechen erhebe ich mich von meinem Stuhl und gehe langsam auf ihn zu.
Ich und er, wir brechen zusammen in Tränen aus, als wir uns das erste Mal seit 32 Jahren in den Armen liegen. Ich lasse alle meine Gefühle heraus und vergesse, dass uns ungefähr 2 Dutzend Menschen beobachten. Alle klatschen und die Kinder kreischen, doch alles, was ich höre ist Harry, der mir leise zuflüstert:
"Lass uns gehen, Anne."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro