96.
Harry
Joseph strich sich bereits zum vierten Mal mit der Hand über das Gesicht, während er die nötige Bestandsaufnahme durchführte. Er kämpfte mit sich, wie jeder hier, der in diesem dunklen Lager saß. „Okay, machen wir weiter", sprach er schließlich weiter und blickte auf den Zettel in seiner Hand. „Charles Hemsworth."
„Nicht mehr hier", lautete die Antwort von Toby und Joseph schüttelte frustriert den Kopf.
Er hatte bereits so viele Namen vorgelesen, und so viele Namen musste er wegstreichen. Also strich er auch Charles Namen weg. „Liam Payne."
Schlagartig hörte jeder auf zu atmen. Niall saß neben mir. Er regte sich schon seit einer Stunde nicht mehr, sondern sah weiterhin zu Boden.
Joseph schloss verkrampft die Augen und zerquetschte den Zettel fast in seiner Hand. „Verdammt, Liam Payne! Wo ist er?" Er wollte es nicht wahr haben.
„Nicht mehr hier, Joseph", war ich gezwungen, zu sagen. Die Worte brannten auf der Zunge.
Die traurigen Gesichter der Männer, waren alle gleich. Alle waren nur noch traurig. Erst jetzt wurde jedem wirklich klar, wie viele Männer wir wirklich verloren hatten.
„Nun gut." Joseph strich aggressiv und mit glänzenden Augen Liams Name von der Liste. „Pete Smith."
„Nicht mehr hier", ertönte eine Stimme, die mehr als niedergeschlagen klang. Walt saß mit in der Runde und wirkte genauso deprimiert wie der Rest. Sergeant Pattons stand mit verschränkten Armen hinter ihm.
Ich wusste nicht, dass Pete im Kampf gefallen war. Aber genauso wusste ich auch nicht, dass so viele andere gefallen waren, dessen Namen ich erst vor ein paar Tagen gelernt hatte.
Joseph hielt den Zettel straff und sein Kiefer arbeitete schwer, als er letzten Endes darauf blickte. „Einundsechzig", verkündete er. „Einundsechzig Männer sind gefallen." Sein wütender Blick schwang zu Pattons. „Sind Sie nun zufrieden? Das ist Ihr Verdienst!"
Doch Pattons ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Seitdem wir aus dem Kampf zurückgekommen waren, trug er stets eine Miene im Gesicht. Resignation. „Das hier ist Hitlers Verdienst. Nicht meiner."
Aufgebracht zerknüllte Joseph den Zettel in seiner Hand, warf ihn zu Boden und drückte ihn mit seinem Stiefel in die nasse Wiese. „Ich hoffe für Sie, Sie überleben diese Scheiße, denn ich wünsche mir, Sie werden jede Nacht von all den Toden träumen, die Sie mit ihrem Hass verursacht haben." Er ging und verschwand in seinem Zelt.
Die Ruhe im Lager gab mir Zeit, den Kopf zu heben und in den dunkelblauen Himmel zu blicken. Er war klar und man sah jeden einzelnen Stern. Groß und Klein, einer heller als der andere.
Ich erinnerte mich eine Stunde zurück, als ich mit Anne und der Kleinen gemeinsam zu diesen Sternen blickte.
„Ich glaube", sagte Annel nach einer Weile. „Ich glaube, Liam ist jetzt einer von ihnen."
„Von den Sternen?", fragte ich nach und erinnerte mich daran, dass Anne mir einst mal von den Geschichten ihrer Mutter erzählte.
„Ja. Seine Seele war zu glänzend und hell, um nicht zurück nach Hause gehen zu wollen."
Mich beruhigten Annels Worte mehr, als sie vielleicht annahm. Sie kam sich immer so nutzlos in unserem Trupp vor, aber sie wusste nie, wie viele Leute eigentlich an ihr hingen. Liam tat es, genauso wie ihre große Schwester, Keith, Louis, Joseph und ja, auch ich.
Ich war wieder im Hier und Jetzt, als ich spürte, dass Anne, die neben mir saß, ihren Kopf an meine Schulter lehnte. Die Männer sahen uns an, ihre Blicke waren leicht zu deuten. Sie waren neidisch. Allerdings sah man keine Missgunst in ihren Augen, sie beneideten uns zwar für das, was Anne und ich uns gegenseitig geben konnten, während alles so aussichtslos schien, aber sie gönnten es einem einfach. Das lernte man hier.
Allerdings spürte ich auch Louis' Blick auf uns. Seitdem er uns bei Pattons verraten hatte, verlor er nicht einmal die Reue aus dem Gesicht. Sein Gewissen musste ihn seit letzter Nacht killen. Ich fing an, ihn zu mögen. Aber im Endeffekt war er eine Enttäuschung, genauso wie viele andere Männer, die ich in den letzten Jahren kennengelernt hatte.
Pattons verließ unsere Runde mit einem „Wir müssen jede Sekunde mit allem rechnen. Ruht nicht zu viel, noch haben wir es nicht geschafft" und verschwand in seinem Zelt.
Ich blickte zu Niall, der noch immer seinen Kopf hängen ließ. Seit zwei Stunden hatte ich kein Ton von ihm gehört. Er saß einfach nur hier auf diesem Hocker und starrte zu Boden.
„Vielleicht solltest du dich schlafen legen", sprach ich auf ihn ein. „Du brauchst es."
Er erwiderte nichts, regte sich kein Stück.
Ich seufzte. Es war wirklich nicht einfach, den einzigen Freund, den man noch hatte, so zu sehen. „Bitte, Niall. Tu es für mich, wenn du es schon nicht für dich tun möchtest."
Erneut tat sich nichts. Ich wusste, Niall schlief sehr schlecht. Keith hatte mir erzählt, dass er ihn jede Nacht im Schlaf schreien gehört hat. Seine Albträume mussten schrecklich gewesen sein, aber trotzdem musste er ruhen. Er musste es einfach.
„Deine letzten Kräfte zu verbrauchen, ist keine Lösung", sagte ich noch einmal. „Es ist ..."
Er schnitt mir das Wort ab, indem er aufstand. „Ich werde eine Runde laufen und dann ruhen", sagte er mir, aber sah mich noch immer nicht an.
Ich nickte. „Tu das. Es wird dir helfen." Niall entfernte sich und ich rief ihm noch hinterher: „Gute Nacht, Niall."
Er blieb stehen und es dauerte einen Moment, bis er ein Stück über seine Schulter guckte und mir in die Augen blickte. Jedoch bekam er kein weiteres Wort über die Lippen, bevor er schließlich aus meinem Blickfeld verschwand.
Als ich ihm hinterhersah, wie er in Richtung des Waldes lief, sprach mich jemand an. Es war Louis, der mir gegenüber im Kreis saß und angespannt seine Handflächen aneinanderpresste. Anne schlief noch immer an meiner Schulter.
Ich blickte ihn abwartend an.
„Es passieren so viele schreckliche Dinge um uns herum", sagte Louis schwermütig. „Und ... Und ich glaube, ich habe mich selten so verlassen und alleine gefühlt, wie in den letzten vierundzwanzig Stunden."
„Irgendwann kommt für jeden diese Zeit", meinte ich kühl. Ich konnte kein Mitgefühl für ihn aufbringen.
„Harry, ich ... Ich wollte nie, dass es so ausartet und wir uns alle so verfeinden."
Ich musste mit mir kämpfen. Natürlich wollte Louis sich für seinen Verrat entschuldigen und natürlich würde ich ihm verzeihen. Schon oft hatte ich die Erfahrung machen müssen, wie grausam es sich anfühlen kann, jemanden sterben zu sehen, gegenüber dem man tiefe Reue empfand. Louis hatte zwar eine Tracht Prügel verdient, aber nichts, was ihn auf ewig verfolgen würde.
Deswegen sagte ich ergeben: „Wir sind nicht verfeindet, Louis. Wir kämpfen gegen den gleichen Feind mit den gleichen Leuten."
Er ließ die Schulter sinken, die seit Stunden angespannt waren und atmete aus. „Es tut mir leid, was ich getan habe. Ich habe mit dem Kopf eines eifersüchtigen Jungen gedacht und nicht mit dem eines Soldaten."
Es kostete mich wirklich viel Überwindung, das folgende auszusprechen. „Ich verzeihe dir. Wir alle haben unsere Fehler gemacht. Aber mit solchen Vorkommnissen sollten wir uns gerade nicht herumschlagen."
„Ja, du hast wahrscheinlich recht", sagte Louis nickend und seufzte tief. Seine Augen glitten zu Anne, die weiterhin schlief. „Aber, weißt du? ... Du hast ein Schweineglück."
Ich drehte meinen Kopf zu Anne, deren Lippen einen Spalt geöffnet waren. Sie umgriff meinen Arm seit wir hier saßen, als hätte sie Angst, ich würde sie hier alleine sitzen lassen.
„Und das denken wir alle", fügte nun Keith hinzu.
„Allerdings", meinte auch Toby und der Rest der Männer nickte zustimmend.
„Nicht, weil sie hübsch ist", erklärte Keith. „Was sie selbstverständlich ist. Aber einfach, weil du sie hast."
Und dann begannen die ehrlichsten Gespräche, die ich jemals mit Männern in den letzten vier Jahren führte.
Toby erzählte uns von seiner Frau in Amerika, die ihm dreimal am Tag einen blies. Er liebte sie wie sein eigenes Leben, meinte er, abgesehen vom fantastischen Sex. Oft zog er sie auf und gab mit ihren großen Brüsten an, an er liebte sie. So unglaublich sehr. Und sie fehlte ihm jede Nacht. Toby weinte jeden Tag, erzählte er noch. Niemand wusste es bisher.
Keith erzählte von seiner Mutter. Er sagte, sie kochte ihm jeden Tag Suppe, in der Nudeln in Form von kleinen Herzchen umherschwommen. Niemals hatte er das jemandem erzählt und eigentlich schmeckte ihm die Suppe schon Ewigkeiten nicht mehr, aber aß sie, nur für sie. „Und gerade heute wäre diese Suppe das beste Essen, das ich mir vorstellen könnte", sagte er. „Für meine Mutter würde ich Millionen dieser scheußlichen Suppen essen."
Alle erzählten irgendwelche Geheimnisse, irgendwelche unangenehmen Anekdoten. Wir lachten und wir sehnten uns nach Menschen in unserer Heimat. Etwas, das man in diesem Krieg nicht tat. Man teilte dieses Etwas, das man vermisste und was einem traurig machte, nicht mit den anderen. Aber jetzt gerade taten wir es.
„Trinken wir!", rief Keith durch die Runde und hob seine Flasche an. „Auf die vielleicht letzte Nacht unseres Lebens!"
„Und darauf, dass wir nie wieder einen geblasen bekommen werden!", meinte Toby und hob ebenso seine Flasche.
Ich grinste. Es waren gute Momente mit den Jungs. Ich bereute es, nicht schon vor längerer Zeit mit ihnen so geredet zu haben. Denn eigentlich waren sie genauso Mann wie ich es war. Sie hatten ihre Probleme, ihre Sehnsüchte und sie sprachen über Frauen.
Als wir anstießen, ertönte ein Schuss. Wir waren sofort ruhig und ich schwang meinen Blick in die Richtung, aus der der Schuss kam. Es war unmöglich, dass uns die Deutschen angreifen würden, erst recht würden sie sich nicht mit nur einem Schuss ankündigen.
Also tranken wir.
Bis ich beschloss, aufzustehen. Ich war skeptisch und wollte auf Nummer sicher gehen. Ein einzelner Schuss war etwas seltenes und machte mich kritisch.
„Bleibst du lange weg?", fragte Anne mich und hielt mich an der Hand fest.
„Nein", versicherte ich ihr. „Ich möchte nur eine kleine Runde gehen."
„Du hast hoffentlich deinen Revolver dabei", meinte Keith augenzwinkernd.
Ich klopfte auf meine Brust, wo ich eigentlich meinen Revolver spüren sollte. Aber ich spürte nichts.
„Unvorbildlich", zog Keith mich feixend auf.
Doch ich wurde nervös. Ich verlegte meinen Revolver nie, irgendwo musste er sein. Eigentlich lag er unter meinem Hocker, in Reichweite. Dort war er auch nicht.
Anne verfolgte meine nachdenklichen Blicke und mit jedem Moment, mit dem ich meinen Revolver noch immer nicht ausfindig machen konnte, stand mir mehr der Schweiß auf der Stirn. Es war nicht, als hinge ich an diesem Teil, aber ...
Ich musste zu einem Entschluss kommen.
Und begann in Richtung des Waldes zu sprinten.
Ich rannte so schnell, dass ich fast gegen einen Baum rammte, als ich am Waldrand ankam. Mit schnellen Schritten, stampfte ich durch das Laub. Mein Atem war schnell, das Pochen meines Herzens beinahe schmerzhaft.
Leider Gottes konnte ich mir nicht sicher sein, wo genau ich suchen sollte, aber ich ging einfach geradeaus. Ich war geplagt von einem Tunnelblick und umso tiefer ich in den Wald trat, umso schwindeliger wurde mir.
Links, rechts, überall hielt ich Ausschau. Mir peitschten Äste ins Gesicht, aber das interessierte mich nicht. Ich musste weiterlaufen.
Mein Verstand spielte verrückt und ich hoffte, ich würde mich irren und völlig umsonst wie ein Irrer durch die Bäume laufen. Ich sollte Unrecht behalten, ich hoffte es so sehr!
Bis ich dann endlich eine Kreuzsilhouette erkannte. Dort war Liams Grab, vor einem mächtigen Baum, weit herum war kaum etwas. Sie hatten das Kreuz aus zwei Ästen mit Garn zusammengewickelt.
Doch es war nicht Liams Grab, das mich auf die Knie zwang. Ich wünschte, es wäre nur sein Grab gewesen.
Es war Niall, der mit offenen Augen auf dem Boden an dem Baum lehnte. Sein Körper war nach rechts gebäugt. Mein Revolver in seiner offenen Hand.
Von seinem Kopf tropfte Blut direkt auf das Laub unter uns.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro